9.. i9. 24. mmt. 2. KeillM des„Ullmillts" KerliUl Ullldsbllltt. mmch. zz?«.«>9»?.Der Wahlkampf in Groß-Berlin.Eine zeitgemäße Erinnerung.Genau dreißig Jahre find verflossen, seit zum erstenmal von»er Reichshauptstadt sozialdemokratische Vertreter in den Reichstagentsandt wurden— Fritzsche für den vierten und Hasenclever fürden sechsten Wahlkreis. Beide hatten den Freisinn verdrängt. Darobgroßer Jubel— in den Reihen der Konservativen.„Eingrößeres Glück ist dem Deutschen Reiche nichtwiderfahren seit dem französischen Kriege alsdie Wahl der Sozialdemokraten in Berlin." Mitdiesen Worten beginnt eine 1877 in der königlichen Hofbuchhandlungvon Ernst Mittler u. Sohn— demselben Verlage, der heute dieSudelschriften gegen die Sozialdemokratie herausgibt— währendder Stichwahl erschienene Broschüre über die Sozialdemokratie unddie Wahlen. Die von konservativer Seite stammende Schrift wendetsich mit aller Schärfe gegen den Liberalismus, besten Wieder-geburt zurzeit gar nicht genug von dem leitenden Staatsmann desDeutschen Reiches gefeiert werden kann. Die eine Seite des Libera-liSmus, der Nationalliberalismus, allerdings wird in allen Tonartengelobt— die Zeit, wo die Nationalliberalen an die Wand gedrücktwurden, daß sie quietschten, war noch nicht gekommen. Um soerbärmlicher aber wird die Fortschrittspartei zerzaust, der nichts mehrund nichts weniger als völlige Prinzipienlosigkeit vorgeworfen wird— der gleiche Vorwurf, den wir heute gegen die Epigonen derFortschrittspartei erbeben. Die Fortschrittspartei, so heißt es, wirdüberhaupt nicht durcki ein Prinzip zusammengehalten, sondern durchirgend ein anderes Band. Nachdem sodann dem Fortschritt seinSündenregister vorgehalten wird, schließt die auch heutenoch lesenswerte Schrift mit der Aufforderung an dasdeutsche Volk, die Fortschrittspartei allmählich völlig aus demReichstag auszuschließen.«Mögen wir statt dessen nocheinige Sozialisten mehr bekommen— was tut's?Wir werden eine Anzahl halbe und unzuverlässigeFreunde los und tauschen dafür einige offeneund ehrliche Feinde ein— ist der Gewinn nichtdoppelt?"So wörtlich zu lesen in einer von einem königlichen Hofbuch-Händler verlegten, offenbar offiziösen Schrift. Armer Fortschritt!Armer Freisinn! Seit jeher voft allen Seiten verachtet, führt er bisauf die Neuzeit ein elendes Schmarotzerleben. Heute bekommt ereinen Fußtritt und morgen freut er sich, daß er von denselbenLeuten, die ihm den Fußtritt versetzt haben, in Gnaden auf-genommen wird. Noch im vorigen Jahre rief Frhr. v. Zedlitzbei der Etatsberatung im Abgeordnetenhause den Freisinnigen zu:«Sie sind diejenigen, welche die Sozialdemokratte mit IhrenAgitattonen erst recht großgezogen haben. In dieser Beziehung,meine Herren, sind Sie auch wieder mal die Vorfrucht der Sozial-demokratte." lind ganz ähnlich äußerte sich sein FraktionsgenosseGamp bei der Beratung der Wahlgesetze, als er die Parteigenossendes Herrn Broemel als die Schleppenträger der Sozialdemokratie be-zeichnete.Wenige Monate später verbünden sich die Schleppenttäger derSozialdemokratte. die Vorfrucht der Sozialdemokratte, mit denZedlitz, Gamp und Konsorten» um einige Mandate zu ergattern. Sowürdelos hat sich noch nie eine Partei benommen, so schamlos hatsich noch nie eine Partei prostituiert. Ein wahrhaft freisinnigerMann kann unmöglich für diese Art.Freisinn' stimmen.»Bürgermeister Reicke» der„geboren�' Liberale.Herr Reicke, Bürgermeister von Berlin und Freisinns-kandidat für den zweiten Wahlkreis, hat es übel ver-merkt, daß die Sozialdemokraten fein Bekenntnis zum Liberalismusnicht ernst nehmen wollen. In einer Versamniluug freisinnigerWähler des KreiseS, die am Montag stattfand, suchte er den Nach-weis zu führen, daß sein Liberalismus über allem Zweifel er-haben sei.Was Liberalismus ist, darüber hatte Herr Reicke voracht Tagen in seiner Kandidatenrede gesagt:«Liberalismus ist eineDenkart« mit der man geboren wird, und von der nurzweifelhaft i st, ob sie gelernt werden kann." DieVersammlung belohnte dieses Dikwm mit donnerndem Applaus. AmMontag äußerte sich Reicke ganz ähnlich, und zwar so:„Liberalismus ist nicht ein Programm von so und so viel Puntten,sondern eine Denkart— eine Weltanschauung, mit der man ge«boren wird und wozu man gar nichts tun kann. Wer richtig liberalist, der bleibt auch liberal l Nun klingen ja diese Orakelsprüche überden Liberaismus sehr geistvoll. Fragt sich nur. ob sie richtig sind.Selbstverständlich will Reicke nicht sagen, der Liberalismus sei dasGlaubensbekenntnis neugeborener Kinder. Aber wenn seine Worteüherhaupt etwas bedeuten sollen, so können sie nur das bedeuten,daß man zum Liberalen wird vermöge seiner besonderenAnlage, die inan mit auf die Wett bringt, wie man zum Dichter,zum Gelehrten, zum Kaufmann, zum Handwerker«geboren" wird.Das Merkwürdige dabei ist. daß die Anlage zum Liberalismusin neuerer Zeit offenbar immer rarer geworden ist.Wenigstens ist der Nachwuchs an Liberalen in den letzten Jahr-zehnten inimer spärlicher geworden. Man kann.nichts" dazu tun".ein Liberaler zu werden, man kann den Liberalismus„nicht lernen"— nach Herrn Reicke. Daß man ihn aber— trotz Herrn Reicke—vergessen und aufgeben kann, das haben gleichfalls die letzten Jahr-zehme gezeigt, in denen weite Kreise der Bevölkerung ihreneinstigen Liberalismus vergessen und für immeraufgegeben haben.Herr Reicke. der„geborene" Liberale, versuchte—wie oben gesagt— seine Zuhörer zu überzeugen, daß er ein echtliberaler, ein ausgesprochen freisinniger Mann sei. DaS habe erschon bewiesen, sagte er. Er habe«nämlich auch Bücher ge-schrieben", und da sei ihm im Punkte deS Freisinns eine«glänzendeKritik" zu teil geworden. Von„Post",.Kreuzzeitung" usw. sei er„immer vermöbelt" worden. Man sieht, daß der Herr Bürgermeisterauch„volks'.ümlich" sprechen kann. Er versicherte, eS fei nicht wahr,daß er noch nicht öffentlich hervorgetreten fei..Er habe doch vorzwei Jahren beim Schillerfest eine Rolle gespielt und habe diesesFest von höfischem Beiwerk freizuhalten gesucht. Auch politisch habeer sich bereits betätigt, er fei doch im Goethe- Bund Schriftführergewesen und habe mitgekämpft gegcN die Lex Heinze. Dafür habeer, der damalige Kousistorialrat. sich versetzen lassen müssen: da seier dann freiwillig aus dem Amt geschieden. Nur„aus Bescheiden-heit" habe er in seiner ersten Rede gesagt, er sei noch nicht mitfeiner Ueberzeugung hervorgetteten. Wir fürchteten schon, der„ge-borene" Liberale werde schließlich auch das noch erzählen, daß erals Bürgermeister von Berlin die Ehrenjungfrauen auszusuchen hat.mit denen er bei Fürstenempfängen am Brandenburger Tor antretenmuß. und daß er am letzten Sonntag einen Orden gekriegt hat. Aberhier verfiel er wieder in seine falsche Bescheidenheit und verschwieg's.Auch das verschwieg er, daß in Arbeiterkreisen s»in Name bekann tgeworden ist durch einenvomBiirgermeister Reicke unterzeichnetenUkasdes Magistrats, der darauf abzielte, den Arbeitern ihrUrlaubsrecht zu verkürzen. Da wurde bestimmt, daß„denjenigen Arbeitern, welche in der laufenden Urlaubsperiode be-reits wegen Krankheit längere Zeit beurlaubt gewesen sind, noch einbesonderer Erholungsurlaub nicht zu gewähren ist, wenn die Artder Krankheit, welche die Dienstversäumnis veranlaßte, eineSchwächung des körperlichen Gesamtbefindens nicht zur Folge hatte"Die Sozialdemokraten waren es, die im Rathause diese Verfügungzur Sprache brachten und sofortige Aufhebung forderten. Die frei-sinnige Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung begriff, daß dieGemeindeverwaltung Berlins durch jenen skandalösen Ukas vor allerWelt bloßgestellt worden war. Die«S oziolpolittker' des Magistrats, dieden Ukas auf dem Gewissen hatten, mußten sich dann dazu bequemen,einzulenken. Von alledem erzählte Herr Reicke seinen Zuhörernnichts. Aber da er über sein Verhältnis zu den Ar«b eitern doch auch etwas sagen mußte, so erinnerte er daran, daßer früher eine Zeitlang dem Reichsversicherungsamt angehört habe.«Da sollte ich", so rief er,„nichts von den Nöten der Arbeiterwissen? I" Uebrigens sei er doch jetzt Bürgermeister von Berlin,und Berlin habe 16—17 ovo Arbeiter.„Ich sollte meinen", fügteer hinzu,„da müßte der Bürgermeister doch auch etwas von denArbeitem wissen." Ja, er weiß wirklich, wie Arbeitern zu-mute ist! Eine Probe gab er einmal in der Stadtverordneten-Versammlung, als dersozialdemokrattscheStadtv. Zubeil Klage darüberführte, daß die Parkarbeiter bis in den Abend hinein bei der Arbeitfestgehalten werden. Da sagte Herr Reicke:„Und was ist das füreine Arbeit? Wir alle sind glücklich, wenn wir einen Garten haben,solche Arbeiten um diese Zeit ausführen zu können, und freuen uns,wenn wir zu der späten Abendstunde noch eine so angenehme Be-schäfttgung haben."«Sehr richtig I' riefen hier die„geborenen"Liberalen der Stadtverordnetenversammlung, die zugleich die«be-rufensten" Freunde der Arbeiterklasse zu sein behaupten. Wer denktnicht bei dem Hinweis auf die„angenehme Beschäftigung"der Parkarbeiter an die oben erwähnte Verfügung, die KrankheitS-Urlaub als„Erholung" hinstellte? Doch Herr Reicke machte damalsnoch wettere Bekenntnisse, aus denen zu ersehen war. wie weit sein Ver-ständniS für die„Nöte deS Arbeiters" reicht. Auf ZubeilS Klage über dieLänge der Arbeitszeit der Parkarbeiter antwortete er:„VergessenSie doch auch daS Eine nicht, daß das Gros unserer Arbeiter nicht voll-kräftige Arbeiter sind, und daß sie ihre Arbeit, auch wenn sie tüchtigsind, wirklich selten mit dem vollen Einsatz ihrer Kräfte- auszuführenhaben. Gehen Sie doch mal durch unsere Parks und Promenaden!Da finden Sie nicht viel Leute, von denen man sagen kann, daß sienoch im vollen Besitz ihrer 5l'räfte wären". Herr Reicke war beimReichsversicherungsamt l Am Ende hat er es d o r t gelernt, aus«nicht vollkräftigen" Arbeitern durch entsprechendlängere Arbeitszeit doch noch das volle Pensum herauszuholen?All' solche.Verdienste" um die Arbeiter wurden von ihm mit Sttll-schweigen übergangen, weil er— keinen Sttmmenfang treiben wollte.Er wolle, so witzelte er über seine eigene«Bescheidenheit", sich nichtauf die.Fischerei" verlegen, wie die Sozialdemokratte eS tue. Die.Fischerei" wurde nachher von einem seiner Freunde besorgt, vonHerrn Utech, der den aufhorchenden Freisiunswählern aus der.Vossischen Zeitung" vorlas, Richard Fischer sei ein so schlechterKerl, daß sogar der„Vorwärts" ihn schon«entlassen" habe.Niemand in der Versammlung erhob Einspruch dagegen, daß miteinem so blödsinnigen Wahlschwindel für Herün Reicke zu„fischen"versucht wurde. Es ist wirklich schade, daß uns nur noch 48 Sttmden vomTage der Wahl trennen. Hätten Herrn Reickcs Freunde die Mög«lichkeit, ihre.Fischerei" noch vier Wochen lang fortzusetzen, so könnteihnen am Abend des Wahltages das Ergebnis beschieden sein, daßauch der letzte der Liberalen, wenn nicht der«geborenen", so wenigstensder lernfähigen, ihrem Gant entflohen wären.Gegenüber diesem schimpflichen Treiben des Freisinns muß am2ö. Januar für jeden vornehm denkenden Wähler der Schlachtruflauten:„Nieder mit dem Freisinn! Wählt den Kandidaten derSozialdemokratie Richard Fischer!"»Dir Bürgermeisterkandidatnr im zweite« Wahlkreise.wird immer mehr zu einer Mischmaschkandidatur. Jetzt haben eineReihe Vertreter von Kunst und Wissenschaft einen Aufruf an dasintellektuelle Berlin des Inhalts erlassen, Herrn Reicke den Weg inden Reichstag bahnen zu helfen. Der Aufruf ist von Professoren.Dichtern und Schauspielern unterzeichnet, unter anderen auch vondem Baurat und Professor Schwechicn, dem Verfasser der Kamel-inschrift in der Kaiser Wilhelm-GedächtniSlirche.Die Arbeiterschaft weiß, daß es gerade die Sozialdemokratte war.die im Reichstage den Kampf gegen Vermuckerung und für Geistes-freiheit am energischsten geführt hat.»Wählerversammlungen.Zweiter Wahlkreis.Heute Mittwoch, den 23. Januar, abends 8V9 Uhr: drei Wählerversammlungen. In der Viktoria-Brauerei spricht der Kandidat deSKreises Genosse Richard Fischer, im Hofjäger-Polast, Hasen-Heide 52/53, referiert Genosse Block und in GliesingS GefellschaftS-hauS, Wasiertorstr. 68, wird Genosse Karl Mermuth das Referathalten.Dritter Wahlkreis.Heute abend 8V3 Uhr finden drei Wählerversammlungen stattin den.Zenttal-Festsälen". Alte Jakobstr. 32, in Graumanns Fest-sälen, Raunynstr. 30 und im.GcsellschaftShauS", Prinzenstr. L4.Die Genossen Paul Singer. Gottfried Schulz undRobert Schmidt werden über«Die Wahlen und die bürger-lichen Parteien" sprechen.Fünfter ZkreiS.Donnerstag, den 24. Januar, 8 Uhr abends, vier Wähler-Versammlungen: Lipps Brauerei, Am FricdrichShain; Schwcizer-Garlcn,Arn Königstor; Altes Schiitzenhaus, Linirnftr. 5; Johannis-Säle,JohanniSstr. 20.Referenten: Friedländer, Liepmann, Wels und Dr. Wehl sowiein allen Versammlungen Ansprache deS Kandidaten RobertSchmidt.Wir erwarten, daß alle Genoffon und Genossinnen erscheinenund niemand bei diesen letzten Veranstaltungen fehlt.Das Wahlkomitee.Berkehrögesellschaften und das Wahlrecht ihrer Angestellten. ZurAusübung des Wahlrecht? von feiten ihrer Angestellten hat dieGroße Berliner Straßenbahn für den Wahltag einen besonderenDienstturnus festgesetzt, der jedem Wahlberechtigten die Teilnahmean der Wahl gestattet. Entfernter Wohnende werden für die zurWahl erforderliche Zeit vom Dienst entbunden. Die Hauptwerkstätteschließt am Wahltage bereits um 5 Uhr statt um 6 Uhr. so daß dieArbeiter zwischen 5 und 7 Uhr ihr Wahlrecht ausüben können.Ob und in welcher Weise die OmnibusgesellschaftVorsorge getroffen hat, um ihren Angestellten die Ausübung desWahlrechts am 23. Januar zu ermöglichen, ist nicht bekannt.Wahlversammlungen.Erster Wahlkreis.Am Montag hatten unsere Genossen eine Versammlung für dasHansaviertel nach dem Cafü Gärtner am Bahnhof Bellevue ein-berufen. Obgleich es in dieser Stadtgegend nicht viele Arbeiter imengeren Sinne des Wortes gibt, war die Versammlung doch voneiner so großen Personenzahl besucht, wie der Saal nur irgendfassen konnte. Die Mehrzahl der Versammlungsbesucher warenwohl Proletarier, wenn auch in besserer Kleidung als Arbeiter siezu tragen pflegen, doch waren auch Angehörige bürgerlicher Kreiseverhältnismäßig zahlrerch erschienen. Die Versammelten folgten den:Vortrage des Genoffe Heine, der die im Vordergrunde despolitischen Interesses stehenden Begebenheiten vom Stand-Punkt der Sozialdemokratie aus beleuchtete, mit UN-geteilten? Interesse. Die Beifallskundgebungen, mit denendie Zuhörer die Ausführungen des Redners begleiteten,legten Zeugnis dafür ab, daß die überwiegende Mehrheit der An-wesenden die vom Referenten vorgetragenen Anschauungen teilt unddie scharfe Kritik, welche er an der Regierungspolitik übte, billigt.Allgemeinen Beifall fanden die Schlußworte des Referenten, in denener die Wähler ausforderte, sich dem Protest gegen die Politik der Regierunganzuschließen, indem sie ihre Stimme dem Kandidaten der«ozialdemo-kratte geben.— Als hieraus Genosse A r 0 n s das Wort erhielt, wurde erals Kandidat des Wahlkreises mit lebhaftem Applaus begrüßt. SeineKritik der gegnerischen Parteien und ihres Auftretens im gegen-"wältigen Wahlkampf fand ebenfalls den ungeteilten Beifall der Ver-saminlung. Angehörige gegnerischer Parteien nahmen nicht daSWort, auch sonst mächte sich keinerlei Opposition gegen die vor-getragenen sozialdemokratischen Anschauungen bemerkbar. Nachdemder Vorsitzende Wolderskh eine Aufforderung an die An-wesenden gerichtet hatte, für die Wahl unseres Kandidaten zu wirken,stimmte die Versammlung mit Begeisterung in das Hoch auf dieSozialdemokratie ein.Fünfter Wahlkreis.Eine stark besuchte Wählerversammlung inurde autMontag in den„M u s i k e r s ä l e n" der Kaiser Wilhelmstraßcabgehalten. Besonders zahlreich waren diesmal die kleinen undmittleren Gewerbetreibenden dcS dortigen Stadtteils erschienen,ein Zeichen dafür, daß auch diese Kreise ein immer lebhafteresInteresse an der politischen Haltung sowie an den Gesamt-bestrebungen der Sozialdemokratie bekunden. Ueberhaupt wies dieVersammlung in ihrer Zusammensetzung vorwiegend neue Gesichterauf. die man sonst in sozialdemokratischen Versammlungen nurselten oder gar nicht zu sehen bekommt. Das Referat hielt derGenosse Singer. Scharf ging der Redner mit den Frei-sinnigen ins Gericht, die sich ja mit der vagen Hoffnungtragen, durch die Person des JustizratS Cassel der Sozialdemo-kratie den Kreis wieder zu entreißen. Wer von den politisch denk-fähigen Wählern, so fragte er, könne den Freisinnigen noch seineStimme geben, die bis vor kurzem sich noch als Gegner derKolonialpolitik aufspielten und jetzt ebenfalls vom Afrikakollerbefallen sind? Die politische Würdelosigkeit des Freisinns und dieSchleppenträgerdienste, die er der Reaktion beständig leistet, müßtenden Liberalismus naturgemäß im ganzen Reiche auch um denletzten Kredit bringen. Neber die Stellung der Sozialdemokratiezu den Freisinnigen bei den Stichwahlen werde die Parteileitungendgültig ja erst nach der Hauptwahl entscheiden. Soviel aberkönne er jetzt schon sagen:„W enn wir die Freisinnigenbehandeln würden, wie sie eS ihrer schmählichenHaltung nach verdienen, dann hätten wir aller-dings Ursache genüg, dafür zu sorgen, daß vondiesen armen Schachern überhaupt keiner mehrin den Reichstag hineinkäme."(Lebhafter Beifall.)Auf den bekannten Silvesterbrief de? Reichskanzlers eingehend,meinte der Redner launig, Fürst B ü l 0 w fei in seinen geschicht-lichen Hinweisen recht inkonsequent, sonst hätte er in seinemSchreiben an den Oberstkommandierendcn deS Reichslügen-Verbandes hinzufügen müssen, daß auf die Säbelherrschast derNapoleonidcn die Republik gefolgt ist.— Den Wahlrechtsver->schlechterern aber wolle er zurufen: Sie mögen es sich bewußtwerden, daß der Arbeiterklasse das allgemeine, geheime, gleiche unddirekte Wahlrecht genau so viel wert ist wie den Fürsten ihreKrone.(Stürmischer Beifall.)In der DjSkussion suchte ein Herr Brock unter weitgehendsterAusnutzung der gewährten Redefreiheit eine Lanze für die frei-sinnige Volkspartei zu brechen. Pathetisch deklamierte er:„Werdie Prinzipien der freisinnigen Volkspartei kennt,—"(„Hat jakeine!" rief jemand frisch in den Saal. Schallendes Gelächter.)Der biedere Freisinnsmann meinte dann schließlich, kolonial-freundlich sei die Volkspartei fetzt, weil in den Kolonien„da unten"doch alles auf dem Spiele stehe. Hätten die Kolonien schon so vielGeld verschlungen, dann könne man für unsere Brüder, die dadraußen Gut und Blut hingegeben, die geforderten„paar lumpigenMillionen" auch noch opfern.— Als darauf der Genosse Singerdas Wort erhielt, um dem streitbaren Freisinnskämpen zu ant-warten, da ergriff dieser tapfere Held schleunigst das Hasenpanier.Singer hielt die inhaltlosen Redensarten des freisinnigen Aus-reißers einer eingehenden Würdigung gar nicht wert. Seine Ant-wort war denn auch mehr eine wohlwollende politische Belehrungder übrigen noch anwesenden Gegner. Von niemand, so führteer u. a. aus, werde die traurige Tatsache, daß die Gebeine von2000 deutschen Soldaten in den afrikanischen Sandwüsten bleichenmüssen, mehr bedauert, wie gerade von der Sozialdemokratie. Dockdie Sozialdemokratie treffe keinerlei Verantwortung für den Todder armen Soldaten, die ihr Leben für eine Sache geopfert, dienur einer kleinen Clique von Kolonialinteressenten a la Tippels-kirch nütze, dem Volke aber nur Schaden gebracht hat. DieseClique habe auch das Blut der gefallenen deutschen Soldaten aufdem Gewissen, niemand anders. Mit ihrer Gegnerschaft gegen diekoloniale Raubpolitik wolle die Sozialdemokratie es ja geradeverhindern, daß die deutschen Landeskinder im Waffcnrockihr Leben in den Kolonien nutzlos in die Schanze schlagen.(Beifall.)Nach der energischen Aufforderung des Referenten wie auch desVorsitzenden L t e p m a n n, alles daran zu setzen, daß der 5. Kreisgleich in der Hauptwahl für die Sozialdemokratie wiedergewonnenwerde, wurde die Versammlung mit Hochrufen auf die Partei, wieauch auf den Genossen Singer und unseren Kandidaten RobertSchmidt gegen Mitternacht geschlossen.Im alten„Schützenhau sc" in der Linienstraße war derZudrang so groß, daß bald nach 8 Uhr der Saal abgesperrt werdenmußte. Genosse Robert Schmidt hielt einen sehr beifälligaufgenommenen Vortrag» in dem er Bülows Rede zerpflückte unddie gegnerischen Parteien, besonders die Freisinnigen, scharf kriti-sierte. Interessant genug ist diesmal der Wahlkampf, so meinteder Redner. Wir sehen die beiden„starken Männer", Bülow undDcrnburg, in die Arena steigen und einen gefährlichen Ringkampfbeginnen. Schon werden dte Zuschauer stutzig und fragen sich:Werden sie siegen? Und wenn sie unterliegen, was dann? Manist durchaus nicht siegesbewußt und fürchtet, überall der Sozial-demotratie in die Hände zu spielen.— Unsere Partei habe nichtsPositives geleistet, sagt Bülow, und dabei entzieht unS die Regierung jede Gelegenheit zur positiven Arbeit, selbst in Gemeinde-Vertretungen hindert man uns an positiven Leistungen. Rednerbesprach den Inhalt der verschiedenen Flugblätter, die von denGegnern im 3. Kreise verbreitet werden; er zeigte, daß man nichtsTatsächliches gegen die Partei vorzubringen stoeiß. Er schloß seineRede mit einem kräftigen Appell an die sozialdemokratischen