Nr. 26. 24. Jahrgang. i KeilM to„Nmiirls" Kerlim WlksM Donnerstag. 3t. JanvarlM. Dre rnsstsche Revolutiou. Orgamfierter Wahlschwindel?— Die„Rufs. Korresp.' erhält das nachstehende Telegramm: n t- n r-uijc. A_-r Petersburg, 29. Januar. In hiesigen politischen Kreisen gelangt man allmählich zu der sicheren Ueberzeugung. daß die durch die hiesige Telegrapheuagentur aus der Provinz übermittelten Wahlrcsultate absolut falsch sine.. Die Dorfpolizei hat die Angaben übermittelt, und sie hegt den Wunsch, ihre loyale Wirksamkeit in hellstes Licht zu stellen. Außerdem steht es fest, daß der Ministergehulfe Kryschanofski der Agentur den direkten Befehl gegeben hat. die Wahl von Ber- tretern der linken Parteien zu verheimlichen! die Oberaussicht über die Ausführung des Befehls wurde dem speziellen Beamten Jewtiwescheff übertragen. Nach direkten Berichten an die Parteiorganisation sind die Wahlen hier wie in der Provinz ganz überwiegend als Sieg der lmlen Parteien zu bezeichnen. .» Das.Berliner Tageblatt' bringt in Nr. 4« ein Telegramm über den Sieg der Rechtsparteien bei den Wahlen der Per- treter der Arbeiter, Baueril und Kleinarundbesitzer in 78 Gouvernements. Die gestern eingetroffenen russischen Zeitungen entwerfen aber auf Grund der telegraphischeu Mitteilungen ihrer eigenen Korrespondenten ein ganz anderes Bild. So wird z. B. aus Kostroma gemeldet, daß bei den Wahlen am 2S. Januar in der Kurie der Kleingrundbesitzer der an- liegenden Dorfgemeinden durchweg Fortschrittler als Wahl- männer gewählt wurden. Dieses Resultat ist um so bemerkenS- werter, als im vergangenen Jahre dort nur Rechtslandidaten durch- gekommen sind! Der russische Reichsetat und die Valuta. Der.Russ. Korresp." wird geschrieben: DaS Finanzministerium möchte gern den Schein erwecken, als ob die inneren Unruhen, der Kriegszustand, die völlige Unsicherheit der Person und des Eigentums, der Verlust des Kredites, die Vernichtung der Produktionsmittel, das Sinken des Kurses unseres Rubels und endlich die emsetzliche Hungersnot in 27 Gouvernement «— als ob alle diese Umstände keine verderbliche Wirkung auf die Staatsfinanzen ausübten, daß diese im Gegenteil fortwährend prosperieren. Für die Zweifler und Schwarzseher hat das Ministerium einen schlagenven Beweis zur Hand: Der Ueberschuß der Einnahmen über die AuS- gaben in dem letzten Unglücksjahre um 23S Millionen Rubel. Wie läßt sich aber mit einem so glänzenden Stande der Staatseinnahmen die Bewegung unserer Goldvorräte im vorigen Jahre vereinbaren? Der Stand unserer Goldwährung erweist sich als umgekehrt proportional unserer.glänzenden" finanziellen Lage. Die Valuta ist unzweifelhaft geschwächt. Dies« Tatsache wird auch durch den offiziellen Finanzbericht für das vorige Jahr bestätigt. Im Laufe des Rechnungsjahres wurde bekanntlich eine Anleihe auf 843 Mill. Rubel abgeschlossen, deren größter Teil chdö Millionen Rubel) im Auslande realisiert wurde: außerdem bekam das Schatzamt noch b3 Millionen Rubel als Erlös für die kurzfristigen Obligationen: zusammen also kamen aus dem Auslände 709 Millionen Rubel Gold. Davon wurden zur Tilgung alter Obligationen <vom Jahre 1905) 143 Millionen Rubel ausgezahlt. Das übrige Gold, also böS Millionen Rubel, oder dach ein bedeutender Teil davon. müßte sich in Rußland befinden. Das ist aber nicht der Fall. Das Gold verschwand fast völlig aus dem inneren Verkehr und wanderte inS Ausland. Ende 1905 waren S76 Millionen Rubel Goldmünzen im Verkehr. Wie viel jetzt noch vorhanden find, weiß man nicht, denn darüber schweigt sich der Bericht auS. Tatsache ist. daß man Gold jetzt nur sehr selten im Verkehr findet: eS zirkulieren selbst in der Hauptstadt, von der Provinz gar nicht zu reden. bloß KreditbillcttS, während früher Papiergeld im Werte von 5 und 3 Rubel eine.historische Seltenheit" war. Ein Teil deS Goldes(nämlich 2C0 Millionen Rubel) ging wirklich in die Kasien der Reichsbank über, das übrige wanderte wohl nach dem Auslände. Der Goldabfluß in diesem Jahre verdient ganz besonders be- rückfichtigt zu werden, da wir sicherlich keine neuen Werte mehr be- kommen, denn unser Handel und unsere Industrie liegen danieder. Wir mußten die Goldmassen nach dem Auslande schicken, weil wir nicht imstande waren, mit Waren unsere Zahlungen zu decken. Kurzum, wir gaben mehr auS, als wir hatten. Eine solche Staatswirtschaft kann doch wirklich nicht als eine erfolgreiche bezeichnet werden.— Unter solchen Umständen muß man zu dem Schluß kommen, daß die Einnahmen an Steuern nicht durch Geld- Überfluß bei der Bevölkerung, sondern durch den ungeheuren Druck der Steuerschraube zu erklären sind. Die Bewegung des Goldes ist ein unwiderlegbarer Beweis für die Verschlimmerung der allgemeinen finanziellen Lage und die Verarmung der Bevölkerung. Attentat. Petersburg » 30. Januar. (W. T. B.) In der Hauptstraße des Wassili Ostrow-StadtteileS wurde heute vormittag der Direktor deS Derjabin-GefängnisseS Gudima von einem Unbekannten durch einen Revolverschuß getötet, ein Gefängnisaufseher wurde verletzt. In dem Gefängnis befinden sich hauptsächlich politische Gefangene. Der Jahreskongreß der britischen Arbeiterpartei. London , 28. Januar. (Eig. Ber.) Der 7. JahreSkongreß der britischen Arbeiterpartei tagte in Belfast (Irland ) vom 24. bis zum 27. Januar. Der Vorsitzende deS Gewerlfchaftskartells von Belfast begrüßte die Delegierten und be- dauerte, daß die in der letzten Woche vorgenommenen Gemeinde- Wahlen ungünstig für die Arbeiter ausgefallen seien Dann nahm Keir Hardie daS Wort und begründete folgende Resolution des Parteivorstandes: .Der JahreSkongreß der Arbeiterpartei, der 1 000 000 Arbeiter vertritt, sendet Grüße an die Sozialdemokratische Partei Deutsch - londs und an die Vertreter der Sozialisten und Arbeiter Rußlands . Wir beglückwünschen sie zu ihren prächligen Leistungen, die sie bis jetzt aufzuweisen haben und wünschen ihnen besten Erfolg bei den Wahlen." Die Resolutton wurde einstimmig angenommen. Hieraus gab der Präsident der Partei den Jahresbericht, in dem er unter anderem sagte:.Wir sind jetzt dreißig Mann im Parlament, aber diese Zahl ist nicht der Gipfel unserer Wünsche. Bei den Nachwahlen in Locker- mouth und HudderSfield hatten wir sowohl gegen die Konservativen wie gegen die Liberalen zu kämpfen. Denn wir sind nicht da. um die alten Parteien zu unterstützen, sondern sie zu ersetzen. Dieser Gedanke drängt sich den alten Parteien auf, denn bei der Nachwahl tauchte bei den Führern der alten Parteien der Plan auf, sich zu ver- einigen um den Arbeiterkandidaten besiegen zu könuen." Er wies dann auf die sozialpolitischen Erfolge der Partei hin. die wir in unserem Bericht« über„das Jahr 1903 in England" mitteilten. Der Kongreß trat sodann in die Diskussion über den Bericht und über die Anträge deS Parteivorstandes ein. Es wurde be- schlössen, den Beitrag von 1 Peimy auf 2 Peuce pro Mitalied zu erhöhen, da die parlamentarische Vertretung bedeutende Kosten ver- ursacht. Dieser Beitrag wird einen parlamentarischen Fonds von 130 000 M. jährlich schaffen. Die Diäten betragen 4000 M. jährlich für jeden Parlamentsabgeordneten. Dann haben sich auch die Kosten deS Sekretariat» erhöht, da der Generalsekretär I. R. Maödonald von den Bureauarbeiten befreit wurde, um sich ganz den parlamentarischen Kandidaturen und legislativen Arbeiten widmen zu können. Eine längere Diskussion rief folgende sozialistische Resolutton herPor: „Der Kongreß erklärt, daß daS Endziel der Arbeiterpartei darin besteht, den Arbeitem den vollen Ertrag ihrer Arbeit dadurch zu sichern, daß der Kapitalismus be- f e i t i g t wird, um an dessen Stelle die gesellschaftliche Beherrschung der Produktionsmittel zu setzen. Zu diesem Zwecke ist die Arbeiterpartei auszubauen und zu erhalten; ihre Abgeordneten sollen in diesem Sinne im Parlamente wirken und den Kongreßbeschlüssen gemäß handeln." Die Resolution wurde von den Tapetenarbeitern eingebracht und von ihrem Delegierten Genossen Atkinson begründet. Er sagte, vor wenigen Jahren wäre eine solche Resolution noch ver- früht gewesen' jetzt aber sei sie zeitgemäß und ein anderes Ideal werde den Arbeiter nicht befriedigen. Die Genossen Queich (Ge- iverkschaftskartell, London ) und Maclaren(Gewerkschastskartell, Glasgow ) unterstützten die Resolution. Dagegen erklärten die Ge- Nossen Pete Curran(GaSarbeiter) und Keir Hardie . daß die Resulution noch nicht zeitgemäß sei. Curran sagte:.Ich spreche al» überzeugter Sozialist und möchte die Aufmerksainkeit der sozialistischen Delegierten auf den Umstand lenken, daß sie die Pflicht haben, den Gesinmingen derjenigen Partei- Mitglieder, die sich zur sozialistischen Ueberzeugung nach nicht durchgerungen haben, Rechnung zu tragen. Eine Annahme der Resolution könnte zu Spaltungen führen. Wir haben bis jetzt mit den nichtsozialistischen Elementen der Partei harmonisch zusammen- gearbeitet zum Nutzen der ganzen Arbeiterklasse und so soll es vorläufig bleiben." Hardie erklärte:»Die Resolution ist nicht identisch mit den sozialistischen Resolutionen, die Von den Arbeiterkongresien unseres Landes bis jetzt angenommen wurden. Eine Annahme dieser Resolution würde eS zur Pflicht machen, nichtsozialistische Mit- glieder der Partei von der parlanientarischen Vertretung auszuschließen. Sie bedeutet die Aenderung der bisherigen Parteistatuten, die nur daS Prinzip der Selbständigkeit der Arbeiterklasse kennen. Ich würde vorschlagen, die Resolution nicht zur Abstimmung zu stellen. Ich stimme ganz mit den Antragstellern überein, dag die Zeit kommen wird, wo die Arbeiterpartei sich mit ganzem Emst mit dem Sozialismus wird beschäftigen müssen. Aber machen wir nur nicht den Fehler der Voreiligkeit. Die Delegierten vertreten Arbeiter- massen, und solange diese Arbeitermasse» noch nicht sozialistisch sind. wäre eS ein taktischer Fehler, ihnen sozialistische Ueberzengungen aufdrängen zu wollen. Ich glaube, die Zeit wird kommen, wo die Arbeiter einsehen werden, daß ihnen der Sozialismus ebenso nötig istwie der Trade-UmoniSmus. ES wäre gut, die sozialistische Resolution in solcher Form einzubringeii, daß sie zu einer ernsten, sachlichen Diskussion führt. Je mehr darüber diskutiert wird, desto besser." Bei der Abstimmung wurde die Resolution mit 835300 gegen 920000 Stimmen abgelehnt. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier bemerkt, daß eS sich bei der Abstimmung nicht um den Wert des Sozialismus, soiidern um das Zeitgemäße oder Unzeitgemäße einer solchen Resolution handelte. Viele sozialistische Delegierte stimmten gegen die Resolution. Von der sozialistischen kam eS zu einer gewerkschaftlichen DtS- kusston. Ben Tillett stellte einen Antrag, daß jede» Mitglied der Partei Trade Unlonist sein mutz, um die bürgerlicheu Elemente fern- zuhalten. Sein Antrag wurde mit 553 000 gegen 381 000 Stimmen abgelehnt, da die meisten Gewerkschaftsführer anerkannten, daß die bürgerlichen Elemente, die sich der Partei angeschlossen haben, der Arbeitersache ehrlich dienen, während es Leute mit GewerlschaftS« karten gebe, die nur Instrumente der Reaktton seien. Für die Aufstellung eines Arbeiterprogramms traten ein die Genossen Queich und Tborue. aber der Kongreß sah in diesem An- trage nur eine andere Form der früher diskutierten sozialistischen Resolution. Die Delegierten erklärten, sie seien bereit, für Sozial- Politik zu wirken, aber so lange die Arbeiterpartei keine Mehrheit im Parlament habe, sei ein Programm nicht nötig. Wird die Arbeiterpartei in die Lage kommen, ein Ministerium zu bilden, so wird sie verpflichtet sein, dem Lande zu erklären, wie sie regieren will. Bis dahin sei es besser, im Parlamente im' Interesse der Arbeiter zu wirken und sich mit einzelnen Maßregeln, wie sie sich aus den Verhältnissen ergeben, zu begnügen. Der Antrag auf die Auf- stellung eines Programms wurde mit 354 000 gegen 240 000 Sttmmen verworfen. Der Kongreß nahm einstimmig Resolutionen an, die die Ein- führung des AcktstundentageS und die Gewährung von AlterSpenlionen verlangen. Zur Arbeitslosenfrage sprach Genosse Queich und stellte folgenden Anttag:.Der Kongreß ist der Ansicht, daß die Arbeitslosigkeit dem Pripateigeiitum an den Produktionsmitteln geschuldet und daß dies die wichtigste Frage der Arbeiterpartei sei. Wir erklären, daß es dringend notwendig sei, den Lokalbehörden Befugnisse zu geben. Grund und Boden zu criverben und Gewerbe zu schaffen, die sie für wünschenswert halten: dann um die Arbeitslosen zu' registrieren und zu organisieren: schließlich, um ihnen den Achtstundeiltag zu geben. Wir fordern ferner die Re- gierung auf, da-Z Arbeitslosengesctz in diesem Sinne amendicren und den Lokalbehörden die nötigen Geldmittel Staats wegen zu bewilligen." Quelch kritisierte John BurnS nannte ihn den härtesten Menschen, der je im Präsidium Lokalrcgierung saß. Der Antrag wurde einstimmig genommen. In bezug auf daS Frauenwahlrecht beschloß der Kongreß mit 005 000 gegen 238 000 Stimmen von der bisherigen beschränkten Bill Abstand zu nehmen und d a S allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen zu verlangen. Die gegenwärtige Bill werde nur den reichen Frauen zugute kommen und deshalb reaktionär wirken. Zur Aufklärung dieser Frage sei folgendes bemerkt. Keir Hardie vertritt im Parka- mente eine Frauenvorlage, die nur den Zweck hat. die Frauen das« selbe Wahlrecht zu geben, wie eS gegenwärtig die Männer besitzen. Da dieses Wahlrecht aber auf einem ZenfnS beruht, so muß eS nach Ansicht vieler Arbeiterführer den Frauen, die Eigentum besitzen, begünstigen, während die Arbciterfranen leer auS- gehen werden. Deshalb verlangen sie eine gründliche Wahlrcform, die alle erwachsenen Manner und Frauen einschließt. Nun kommt das merkwürdige. Keir Hardie hat sich für die gegenwärtige be- schränkte Bill so engagiert, daß er— seiner Ansicht nach— nicht mehr zurück könne. Er erklärte dem Kongresse, wenn die an- genommene Resolution ihm verbieten sollte, für die gegenwärtige Bill im Parlamente zu wirken, so müsse er von der Parteileitinig zurücktreten! Diese Erklärung hat großes Aufsehen erregt, und eS läßt sich»och nicht sagen, wie die Sache endigen wird. zu von und der an- Der Wahlausfall in Sachsen . AuS Dresden wird uns geschrieben: Die Wahlnachrichtcn aus dem ehemaligen roicn Königreiche haben jedenfalls allenthalben Enttäuschung hervorgerufen. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß der diesmalige Wahlausfall in Sachsen einer empfindlichen Niederlage verdammt ähnlich sieht. Wir haben 1903 von den 23 sächsischen Wahlkreisen 18 im ersten Ansturm ge» nommen. in den übrigen kamen wir in Stichwahl und holten dabei noch 4. so daß 22 Wahlkreise unser waren. Diesmal haben wir nur 8 Kreise im ersten Wahlgange behauptet. 7 Kreise haben wir an den OrdniingSklüngcl endgültig verloren und in 8 Kreisen stehen wir in Stichwahl. Schwerer noch als der Mandatsverlust wiegt natürlich der Stimmenrückgang, der diesmal fast durchgängig tn Sachsen zu beobachten war. Nur zwei Kreise(Chemnitz und Leipzig - Land) machen eine Ausnahme. Leider ist der Rückgang in einzelnen Kreisen recht beträchtlich. Vier Bezirke haben einen Rückgang bou je über 2000 Stimmen zu verzeichnen, und in 12 Kreisen beträgt der Rückgang mehr als 1000 Stimmen. Die Gegner haben dagegen ein starkes Anwachsen ihrer Stimmenzahlen zu verzeichnen. Ins- gesamt beziffert sich unser Verlust in Sachsen auf rund 2 3 000 Sttmmen, der Ordnungstlüngel hat dagegen eine Zunahme um rund 132 000 Stimmen. Das ist zweifellos ein sehr ungünstiges Ergebnis. Betrachtet man die Verhältnisse aber etwas näher, so erkennt man, daß das sächsische Wahlbild doch nicht so trübe ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Man muß die Ursache deS Rückschlags ergründen, dann erscheint er weniger deprimierend. Wir sehen dabei davon ab, das Treiben und den Wohlschwindel der Gegner als besondere Ursache der Niederlage anzuführen. Damit werden wir bei jeder Wohl rechnen müssen. Leugnen läßt sich allerdings nicht, daß die sächsischen Ordnungsbrüder diesmal mit ganz besonderem Eifer die Wahl- mache betrieben und an Skrupellosigkeit alles übertrafen, was bisher darin geleistet worden ist. Fest steht auch, daß 1903 eine große Flauheit bei der bürgerlichen Wahlagitation zu bemerken war. Doch das allein erklärt den diesmaligen Wahlausfall nicbt. Forschen wir nach den Ursachen, so müssen wir von vornherein festhalten, daß die sächsische Sozialdemokratie 1903 ein geradezu über- natürliches Wachstum zu verzeichnen hatte. In mehreren Wahlkreisen brachten wir eS beinahe zu einer Verdoppe- lung der Stimmen, wie tn den Bezirken Löbau , Bautzen und Borna . Die Gesamtstimmenzahl schnellte Pon 298 190 im Jahre 1808 auf 441 734 im Jahre 1903 in die Höhe. Da» war ein Zuwach», wie er noch in keinem Land« erreicht wurde. Wie war dieser svrunghafte Aufschwung zu erklären? Erstens wirkte die Empörung über den Zollwucher im Jndustrielande Sachsen noch ganz besonders nach. Mehr ins Ge- wicht fielen aber einige speziell sächsische Ursachen, die bewirkten. .daß ein erheblicher Teil de» Bürgertums sozialdemokratische Stimmzettel abgab. ES waren zum Teil kleinliche und engherzige Motive, die dabei leiteten: aber von derartigen Romenten hat sich da» mdifserente sächsische Bürgertum von jeher leiten lassen. Da war zunächst der stockkatholische König Georg, der eS liebte, seine Anhänglichkeit an die katholische Kirche demonstrativ zum Ausdruck zu bringen. Da» machte das Kleinbürgertum wild. ES hieß schon. Sachsen sei von der zesuitischen Gefahr auf» schlimmste bedroht. Der kurzsichtig« Bürger wurde bis zur Bösariigkeit aufgeregt. Man spie Gift und Galle gegen den katholischen König, den man auch noch anders bezetchnete, indem man ihn direkt mit Jesuiten in Zusammenhang brachte. Diese Stimmung wurde zur Siedehitze gesteigert, als vis Kronprinzessin mit einem Sprachlehrer davonlief und der König sie als tief gefallene Frau bezeichnete. Gleichzeitig wirkten die Wahlentrechtung und der Steuerdruck, der durch einen Zuschlag zur Einkommen st euer von LbProz. Hartfühlbar wurde. Den Höhepunkt aber erreichte die Mißstimmung, als in der Zeit äraster F i n a n z n o t und noch nicht dagewesenen Steuerdrucks noch die Apanagen erhöht wurden, während die Beamten trotz langen Harren» noch immer nichts erhalten hatten. So wurde das sächsische Kleinbürgertum in eine maßlose Wut versetzt, und in dieser Stimmung wurden die Leute 1903 zur Reichs- tagswahl berufen. Ein großer Teil der Beamten, die nichts er- halten hatten, der durch den Steuerzettel zur Wut aufgestachelte Philister, die durch die Wahlentrechtung empörten Geschäftsleute, die durch Wahlentrechtung und Zollwucher aufgestachelten Klein- Handwerker— alles fast gab seinem Unmute durch Abgabe sozial- demokratischer Stimmzettel Ausdruck oder man wählte gar nicht. Und diese Stimmung wurde durch eine höchst lahme bürgerliche Wahlagitation eher gefördert als abgeschwächt. So kam die Wahl von 1903 in-Sachsen zustande; so erklärt sich unser damaliger unnatürlicher Aufschwung. Aber bestanden nicht auch 1907 noch die Ursachen, die 1903 für uns so gewirkt hatten? Nur zum Teil, und soweit sie noch existierten, wurden sie fortgeschwindelt: Der alte König war tot und sein katholisches Regiment damit beseitigt, die Kronprinzen- affäre war anderen Skandalgeschichten gewichen, an den Steuer- druck hatte man sich etwas gewöhnt und außerdem hatte die Re« gierung kurz vor der Wahl erklären lassen, daß sich die I t n a n z- läge gebessert habe und daher der Steuerzuschlag wieder beseitigt werden könnte. Die kleinen Beamten köderte man noch durch besondere Versprechungen. Die Ankündi- Peiner Wahlrechtsreform wurde gleichfalls al» Wahl- benutzt. Obwohl alle diose Ankündigungen und Versprechungen deutlich als Wahlmache kenntlich waren, so ist doch der damit be- absichtigte Zweck erreicht worden. Man hat besänftigend auf die wildmeatcn Kleinbürger gewirkt. Dazu kam, daß dem ilein- bürgerlichen Anhange, der uns durch die oben erwähnten Ursachen beschert worden war, unsere Haltung zur Kolonialpolitik nicht paßte. Man glaubte in jenen Kreisen zum Teil an die Dernburgschen Märchen und mochte vor allem die Kolonien nicht ganz aufgeben. So kam, was kommen muhte. Der kleinbürgerliche Anhang schwenkte in» liberale Lager, wo„nationale" Herren die Wahl» lockungen mit allen möglichen Versprechungen und Schmeicheleien für die Masse betrieben. So ist der Stimmenverlust, de« wir in Sachsen zu verzeichnen haben, zu erklären. Andererseits aber haben dieselben Gründe das Anwachsen der bürgerlichen Stimmen ver- ursacht. Zu letzterem hat natürlich auch die fieberhafte ordnungs- parteiliche Wahlagitation beigetragen. So erscheint der diesmalige Wahlausfall in Sachsen keineswegs als zerschmetternde Niederlage, wovon einige bürgerliche Blätter faseln. Vergleichen wir das Wahlergebnis von 1907 mit dem von 1898. so erkennt man sofort, daß das natürliche Wachstum und die innere Kraft der sächsischen Sozial- demokratie von dieser Wahlniederlage nicht be- rührt wurden. Wir hatten, wie schon erwähnt, in Sachsen 1598 298 190 Stimmen, 1907 aber noch 413 412. Es bleibt somit in den acht Jahren noch ein gewaltiger Aufschwung bestehen, der Zeugnis von der natürlichen EntWickelung der sächsischen Sozialdemokratie ablegt. ES dürfte sich auch bald zeigen, daß der diesmalige bürger- liche Wahlerfolg nur ein vorübergehendes Ausflackern war. daS vor der stetigen Entwicklung der Sozialdemokratie bald wieder zu- sammenfallcn wird. Die sächsischen Genossen sind nicht entmutigt. Mit ber- doppeltem Eifer werden sie an die Ausgestaltung ihrer Organisation und ihrer Presse gehen, um sich so zu neuen Kämpfen zu rüsten. Im Anschluß an diesen instruktiven Artikel unsere» sächsischen Mitarbeiters wollen wir nochmals auf die schon gestern kurz an- gedeutete Tatsache verweisen, daß der Stimmenrückgang in Sachsen bedeutend geringer ist, als die ersten unvollständigen Nachrichten erscheinen ließen. So gaben unsere ersten Meldungen für Le»pzig-Land einen Stimmenrückgang von rund 8000 Siimmen an, während sich jetzt herausstellt, daß dort ein Stimmenzuwachs von 1893 zu verzeichnen ist. Ferner ist im 22. Wahlkreise Kirchberg-Auerbach-Reichenberg, wo Genosse Ad. Hofsmann« Berlin unterlag, die sozialdemokratische Stimmenzahl von 17 300 zwar gegen die Hauptwahl 1903 noch um 3334 Stimmen zurück, gegen die Nachwahl vom 5. Januar 1901 aber wieder um 1S37 Stimmen gestiegen. Soziales* Kongreß der Deutsche» Gesellschaft zur Lekiimpfung der Geschlechts- Irankheitc». Die Deutsch « Gesellschaft zur Bekämpfung der GeschlechtSkrank- heiten wird ihren diesjährigen Kongreß, den dritten seit ihrer Be- gründung, am 24. und 26. Mai in Mannheim abhalten.
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