gua. 24. mw 1 Ktlllllje iles LmSrts" Kttlltttl Nllllisllllltt. S i-dw« IM. Mgeorclnetenkaus. 4. Sitzung. Donnerstag, den 7. Februar, vormittags 11 Uhr. Am Mimstertisch: v. Arnim-Criewen. Zweite Beratung des Etats der landwirtschaftlichen Verwaltung. Die Einnahmen werden debatteloS bewilligt. Beim Titel .Minister" nimmt das Wort Landwirtschastsminister v. Arnim: ES ist jetzt ein Jahr der- flössen seit dem Inkrafttreten des neuen Zolltarifs, der zweifellos segensreich auf die Landwirtschast gewirkt hat. Die Erhöhung der Arbeitslöhne und die durch dir allgemeine Teuerung bedingte Erhöhung der Produktionskosten bildet aber ein schwer- wiegendes Gegengewicht gegen die Borteile des neuen Z-lltarises. Die hohen Güterpreise finden in der gesteigerten Rentabilität keine genügende Stütze. Die allgemeine Preissteigerung ist auch deshalb bedenklich, weil fie nicht nur beim Kauf, sondern auch bei der V e r- «rbung in die Erscheinung tritt, so dafc fast jeder Erbanfall zu einer Verschuldung führt. Wenn wir jetzt nicht Vor- sorge treffen, steht die nächste Generation wieder auf dem- selben Standpunkt wie die heutige.(Ironisches Sehr wahr l links.) Die Ansiedelung der Arbeiter muh befördert werden. Ich selbst habe damit auf meinem Gute Erfolge erzielt.— Diese Frage ist nicht leicht zu lösen, aber wo ein Wille ist. da ist auch ein Weg. $)ch habe eine Verfügung an- die Generalkommisfionen ergehen lassen, nach der auch den Arbeitern der Rentcnbankkredit zur Ber- fügung gestellt werden soll! Was die Viehzucht anlangt, so ist das Quantum, das noch fehlt, damit unsere Landwirtschaft die heimische Bevölkerung mit Fleisch zu versorgen imstande ist, ein so geringes, daß die Be- strebungen, uns hier vom Ausland unabhängig zu machen, Aussicht auf Erfolg haben. Die Schweinepreise sind jetzt wieder auf nor- maler Höhe, die Kleinhandelspreise sind aber nicht in demselben Maße hrrabgegangen. Von den landwirtschaftlichen Nebengewerben leidet die Zucker- industrie und das Brennereigewerbe an starker Ueberproduktion. Zudem wird der Export des Zuckers dauern? erschwert. Vor Ichweren Gefahren kann daher diese Industrie nur eine Hebung des heimischen Konsums mit Hülfe der Herabsetzung der Konsumfieuer bewahren.(Lebhaste Zustimmung.) Was ich Ihnen vorgetragen habe, sind natürlich nur Gedanken und Wünsche, bis zu deren Aus- führung noch ein weiter Weg ist. Aber von dem regen Interesse und warmen Verständnis dieses hohen Hauses für die Landwirtschaft darf ich wohl hoffen, dah es kräftig mit Hand anlegen wird, um die Hinderniffe zu beseitigen, die einer gesunden Entwickelung der Land- Wirtschast im Wege stehen.(Lebhafter Beifall, besonders rechts.) Abg. Gamp(fk.): Unsere Schweineproduktion genügt den äugen- blicklichen Bedürfniffen durchaus. Die Preise sind jetzt wieder normal, aber es wäre bedauerlich, wenn sie wieder soweit sinken würden, dah die Produktion für die Landwirtschaft unrentabel würde. In Berlin haben wir jetzt einen um 50 Proz. höheren Schweineauftrieb als 1S03. Vor allen Dingen sollte man jetzt die Fleischbeschaugebühren herabsetzen, weil diese die Fleischpreise erhöhen. Auch wäre es für die Landwirtschaft gut, die Witwen- und Waisen- Versicherung bald durchzuführen. Die Kolonisationsbestrebungen des Ministers finden unsere Billigung. Die Ansiedelunaspolitit sollte sich jedoch nicht nur auf die sprachlich gennschten Gebiete erstrecken. sondern auch auf Pommern , Schleswig und Hannover , wo es an klewen Bauern fehlt.(Bravo I rechts.) Abg. Glatzel(natl.): Such wir unterstützen den Minister in allen Maßnahmen, die dazu dienen, der Landwirtschast zu helfen. Aber wir können nicht alle Wege billigen, die er in seiner heutigen Rede angedeutet hat. Wir halten hohe Güterpreise ebenfalls für höchst be- denklich, aber die Regierung mutzte das Steigen voraussehen und von langer Hand Verhaltungsmatznahmen dagegen treffen. Die Ver- schuldung würde dem Grundbesitz an und für sich nichts schaden. Auch unsere so glänzend dastehende Industrie ist nicht schuldenfrei. Bei ihr herrschen aber gesunde Kreditverhältuisse, die für die Landwirtschaft zu schaffen die vornehmste Aufgabe des landwirtschaftlichen Genoffen- schastswesenS sein mutz. In dem diesjährigen Etat spielt die Land- Wirtschaft wieder dieselbe klägliche Rolle wie seit Jahren. Der Staat zeigt eine fast mädchenhaste Scheu, kräftig in die Landwirtschaft ein- zugreifen. ES müßte von Staatswegen namentlich für die Viehzucht und die Moorkultur viel mehr geschehen. Abg. Wallenborn (Z.) stimmt dem Programm des Ministers zu; im einzelnen bleiben seine Ausführungen unverständlich. Abg. v. Bockelberg(k.) bestreitet, daß die Schutzzölle eine all- gemeine Preissteigerung zur Folge haben müßten. Ein solches Wort, das mißverstanden«erden könnte, hätte der Minister lieber nicht aussprechen sollen! Zur Beseitigung der Landflucht wünschen wir vor allem eine andere Organisation der landwirtschaftlichen Arbeitsvermittelung unter Ausschaltung der ausländischen Agenturen. Hoffentlich läßt der Minister seinen schönen Worten auch die Taten folgen.(Bravo l recht».) Landwirtschastsminister v. Arnim-Criewen: Eine Aeußerung von mir ist so verstanden worden, als ob ich die Schutzzölle nur als eine provisorische Matzregel bezeichnet hätte. DaS habe ich nicht sagen wollen. Ich wollte nur sagen, daß vielleicht eine Zeit eintteten könnte, wo sie nicht aufrecht erhalten werden könnten. Denken Sie an den Fall, daß die Zahl der Konsumenten sich erheb- lich weiter vermehrt! Ich stehe vollständig auf dem Standpunkt, daß wir die Schutzzölle mit alle» Kräften ausrecht erhalten müssen!! Abg. Goldschmidt(stf. Vp.): Wir haben die Schutzzollpolitik der Regierung bekänwft. weil wir voraussahen, daß ihr Nutzen für die Landwirtschaft durch die Verteuerung der Produktionskosten und die Steigerung der Güterpreise mehr als aufgehoben werden würde. Was hat der Landwirt für einen Nutzen davon, wenn er infolge der Preissteigerung erhöhte Zinsen oder erhöhte Pacht bezahlen mutz? Gerade im Interesse der Landwirtschast sind wir seinerzeit gegen die Zollerhöhung gewesen, und Sie(nach rechts) sollten doch auch endlich von dem Prinzip der künstlichen Verteuerung der Lebensmittel abkommen. Die Wirkung der Zollpolitik ist seinerzeit von der Landwirtschaft überschätzt worden. Man hatte von ihr zu viel erwartet und ist nun erstaunt darüber, daß nicht alle« eingettoffen ist. Ob eS bei dein gegenwärtigen Zolltarif zu einer Berständiguug mii Eiigland undAmerika kommen wird. ist sehr zweifelhast. Wenn Fürst Biilow in seinem Silvestcrbrief nach einer starken liberalen Fraktion im Reichstag förmlich schrie, so ist das rin Beweis dafür, daß die Regierung die Politt» der Reichstags- Mehrheit auf zollpolitischem Gebiet nicht fortsetzen kann. Daher freue ich mich auch, daß heute der Landwirtschastsminister anerkannt hat, es müsse damit gerechnet werden, daß nach einiger Zeit die Zölle wieder in Fortfall kommen.(Oho l rechts.) Selbst Herr Gamp hat heute zugeben müssen, daß ein entschuldeter Grundbesitz der Zölle enttoten kann. Der Minister hat möglichst günstige Arbeitsbedingungen ftir die Landarbeiter gefordert. Wenn dieser Forderung seitens der länd- lichen Arbeitgeber nachgekommen wird, wird es auf dem Lande auch nicht an Arbeitskräften fehlen. Die jetzigen Arbeitsbcdinguugeu aber sind meistens so schlecht, daß man sich nicht darüber zu wundern braucht, wenn deutsche Arbeiter dafür uicht� zu haben sind. Wenn die Herren der Rechten in empsehleudem Sinne den Beschluß einer Landwirtschaftskammer auf Einführung von KuliS hier besprochen haben, so haben sie damit selbst zugegeben, daß ihre Wirtschaftspolitik daS platte Land entvölkert hat.(Rufe rechts: Das ist Ihre Logik!) Was die Regierung zur Förderung der heimischen Viehzucht tut, findet unsere volle Billigung. Aber wir glauben nicht, daß unsere Landwirtschaft imstande ist, ihre Pro- duktion so zu vermehren, daß der Fleischkonsum unserer gesamten Be- völkerung durch sie gedeckt werden könnte. Wenn die Rechte eine Herabsetzung der Schlachthausgebühren verlangt, so sei darauf er- widert, daß sich kein Mensch üher hohe Fleischprcise beklagen würde, wenn es sich nur um die Verteuerung um einen Pfennig pro Pfund — soviel machen diese Gebühren aus— handeln würde. Durch die Zölle sind aber die Preise um das Zwanzigfache der Schlachthaus- gebühren gestiegen.(Beifall links.) Landwirtschaftsminister v. Arnim: Ich habe nicht gesagt, daß man die W i r I u n g der Zölle überschätzt habe, sondern die Rentabilität, und weil man die Steigerung der Arbeitslöhne und aller Produkte nicht genügend in Rechnung gestellt hat. Abg. v. Bodelschwingh(k.): Liebe Herren!(Heiterkeit.) Seit wir das letzte Mal zusammen waren, ist Morgentau über unser Vaterland niedergegangen. Ich bin fröhlich; denn wir haben das Vaterland neu erobert.(Heiterkeit.) Lieber Herr Minister l Sie verfügen über alle irdischen Schätze.(Widerspruch des Ministers.) Doch, Sie verfügen über alles Gold und Silber Preußens.(Heiterkeit.) Sorgen Sie dafür, daß jeder ländliche Arbeiter ein kleines Häuschen mit etwas Land bekommt. Dann wird auch kein Landarbeiter mehr in die Stadt fliehen; denn die Frau wird dann zu ihm sagen:.Geh nicht weg! Du verlierst ja sonst Deinen Besitz".— Ich habe in diesem Sinne an 5000 Grundbesitzer des Ostens geschrieben, aber nur 30 haben mir geantwortet! Hierauf vertagt das Haus die Weiterberatung auf Freitag 11 Uhr. Schluß 4»/« Uhr. _ Die russische Revolution. Die Wahlkampagne im jüdischen Ansiedelungsrayon. Während in verschiedenen Gegenden Mittel- und Südrußlands die Wahlen bereits in vollem Gange sind und täglich zahlreiche Nachrichten über Wahlresultate einlaufen, defindet sich das so- genannte jüdische Ansiedelungsrayon noch im Stadium der Wahl- agitation. Fast die einzige Kraft, die tätig ist. die von der Schreckensherrschaft der Polizei und Soldateska eingeschüchterten jüdischen Massen politisch aufzurütteln, ist die Sozialdemokratie. Bereits zu Beginn der Wahlkampagne bildete der„Bund" in allen Städten und sogar an kleineren Orten spezielle Registrierkolonnen, die den Zweck verfolgten, die Wähler zur Eintragung in die Listen zu bewegen. Diese mühevolle Arbeit war trotz der Verfolgungen seitens der Polizei von Erfolg gekrönt: Dank der aufopferungsvollen Tätigkeit der Registratoren ist es gelungen, Tausende von Wählern auf ihr Wahlrecht aufmerksam zu machen. Gleichzeitig wurde aber diese Registration zum Aus- gangspunkt einer intensiven Agitation von Haus zu Haus gemacht; der Wähler ergriff freudig die sich ihm bietende Gelegenheit, über alle ihn interessierenden Fragen des politischen Lebens, des Parteiwesens usw. Auskunft zu erhalten, und so fand die breit angelegte mündliche und schriftliche Agitation des„Bund", die nach der Durchführung der Registrierung einsetzte, einen gut vorbereiteten Boden. Und, was besonders wichtig ist: Es gerieten außer dem Proletariat, welches schon seit Jahren dem„Bund" treue Heerfolge leistet, auch das ganze jüdische Kleinbürgertum, die zahllosen kleinen Handwerker, Krämer und ähnliche halbproletarische Existenzen in die Wirkungssphäre des„Bund" und er leistet so eine enorme Aufklärungsarbeit, die die jüdischen bürgerlichen Parteien nicht zu leisten vermögen und auch gar nicht leisten wollen. Bei den vorigen Dumawahlen haben die jüdischen bürgerlichen Parteien— soweit von solchen bei der beispielslosen Stagnation des politischen Lebens in der jüdischen Bourgeoisie die Rede sein kann— den Sieg davongetragen.„Alle Juden sind eins", das war ihre Losung und die jüdischen Massen haben sich durch diese Losung betören lassen und Leute in die Duma gewählt, die nicht die Jnter- essen des jüdischen Volkes, wie sie> es versprochen, sondern ihre eigenen Klasseninteressen, die der reichen jüdischen Bourgeoisie, vertreten haben. Dieselbe Taktik will die jüdische Bourgeoisie auch jetzt verfolgen: In aller Stille versammeln sich ein Dutzend Synagogenälteste, reiche Kaufleute, Bankiers, Rabbiner, wählen sich selbst zum„parteilosen jüdischen Wahlkomitee", ernennen aus ihrer Mitte einen Kandidaten und proklamieren ihn in der Synagoge mit der Weisung:„Wer ein guter Jude ist, der wähle den und den!" Kein Wort über das politische Glaubensbekenntnis ihres Auserkorenen, kein Wort über seine Stellungnahme zu den brennen- den Fragen- des russischen und speziell des russisch-jüdischen Lebens! Wozu denn auch so viel Kopfzerbrechen? Er ist ein Jude, und das muh nach der Meinung dieser„Politiker" genügen, um ihm die Unterstützung der jüdischen Wähler zu sichern.— So entsteht denn dem„Bund" in seiner Wahlagitation eine doppelte Aufgabe: Er hat nicht nur sein eigenes Programm und seine eigene Taktik denen seiner Gegner gegenüber zu stellen, sondern er muß sie vorerst aus dem Versteck der„Parteilosigkeit" hervorziehen, sie zwingen, politisch Farbe zu bekennen. Und unter den wuchtigen Schlägen der sozialdemokratischen Kritik entschleiert sich denn immer mehr der wahre Charakter der jüdischen Bourgeoisie aller Richtungen, den Zionismus einbegriffen. WaS sie alle in gleichem Maße kennzeichnet, ist ein engherziger, bornierter Nationalismus, unter.dessen Maske sich eine Volksfeindlichkeit sondergleichen, ein maßloser Sozialistenhaß verbirgt— im schärfsten Widerspruch zu allen schönen Phrasen von„Demokratie" usw., wie sie jene gelegentlich vom Stapel lassen. Wenige Beispiele ge- nügen, um dies zu erhärten. So schreibt die„Jewrejskaja Mysl" („Der jüdische Gedanke") in ihrer Nr. 11:„Im Streite zwischen einem jüdischen Assimilator(ein Jude, der will, daß das Juden- tum sich dem j russischen) Volksganzen eingliedere) und einem nichtjüdischcn Reaktionär behalten wir uns vor, je nach Umständen unsere Wahl zu treffen: Manchmal ist ein offener Feind besser als ein Verräter. Damit ist auch die Frage unseres Verhaltens dem „Bund" gegenüber erledigt."— Der Führer der Zionisten, Schabo- tinsky, erteilt den jüdischen Wahlmännern den Rat, sich mit den reaktionären Gutsbesitzern anstatt mit den oppositionellen Bauern zu verbünden, falls sie dabei ein paar Mandate mehr erschachern können! Solche Beispiele von„Demokratismus" lassen sich dutzend- weise anführen. Nun verdient noch die Stellung der„parteilosen" bürgerlichen Wahlkomitces zu den Wahlabkommen niedriger gehängt zu werden. Fast überall wurde dem„Bund" die Bedingung gestellt: seine Wahlinänner sollten sich unbedinat der Mehrheit aller jüdischen Wahlmänner, d. h. den bürgerlichen Elementen, unterwerfen! Selbstverständlich wurde diese Zumutung vom„Bund" energisch abgewiesen, und die„parteilosen" Komitees beschlossen darauf, selbständig vorzugehen, selbst auf die Gefahr der Wahl eines Reaktionärs! Und nun erst Kie Kauipscsweise dieser Leute! Unfähig, auch nur ein Wörtchen gegen die sachliche Kritik der Sozialdemokratie zu erwidern, greifen sie zu den schäbigsten Mitteln der Verleum- dung und Terrorisierung— bis zu tatlichen Mißhandlungen der bundistischcn Redner in den Synagogen. Aber nicht diese unehr- liche Kampfesweise ist es, die dem„Bund" in seiner Agitation die größten Schwierigkeiten macht, sondern das Herdengefühl der „Zusammengehörigkeit aller Juden", das sich während der langen Jahre des Ghettos und der Verfolgungen herausgebildet hat und das die stärkste Waffe der schlauen Demagogen aus den Reihen der Bourgeoisie bildet. Und eben weil sie die Macht dieser Waffe nur zu gut begriffen haben, sträuben sie sich so heftig. wenn die jüdische Sozialdemokratie den Massen zu beweisen sucht, was hinter dem Rufe:„Alle Juden sind cinSl" verborgen liegt, eben deshalb ihr krampfliaftcs Bemühen, die sozialdemokratische Agitation zu ersticken. Aber es wird ihnen nicht gelingen. Sie haben ihr Spiel schon halb verloren; denn der Wähler aus den jüdischen Massen beginnt schon zu begreifen, daß seine v a t io«. nale Befreiung, die ihm von den nationalistischen Maulhelden versprochen wird, aufs engste mit semer politischen Befreiung ver- knüpft ist. daß er diese aber nur auf dem Wege zu erlangen vermag, den ihm die Sozialdemokratie weist. Viele An- zeichen deuten darauf hin, daß dieser Wandlungsprogeß im Be- wutztsein der jüdischen Massen in vollem Gange ist, und am Ende der Wahlkampagne wird der„Bund" voraussichtlich mit Genug- tuung auf sein Werk zurückblicken können: auf die Bresche, die er in die Herrschast der bürgerlichen Parteien geschlagen hat, auf die Anfänge des politischen Bewußtseins der jüdischen Mgssen, die dank seiner Tätigkeit reich zu keimen beginnen. Der S5. Januar. Genosse KautSkh schließt seinen Artikel in der Nr, 19 der „Neuen Zeit": Alles das sind naturnotwendige Folgen der Verschärfung der Klassengegensätze, wie sie die preiserhöhenden neuen Zölle mit sich brachten. Diese haben nicht bloß den Gegensatz zwischen Kapita- listen und Arbeitern vermehrt und die Erbitterung zwischen ihnen gesteigert, sie haben auch bewirkt, daß Zwischenschichten, die bisher ihre beste Vertretung in der Sozialdemokratie sahen, jener Partei, die allem Militarismus und allen dos niedere Volk bedrückenden Steuern aufs energischste entgegenwirkt, und die durch diese Militär- und Steuerpolitik ihren Gegensatz gegenüber den Lohnarbeitern überbrückt sahen, jetzt diesen Gegensatz aufs schärfste empfinden und daher unserer Partei den Rücken kehren. Ist diese Auffassung richtig— und zahlreiche Anzeichen sprechen dafür—, dann hat unsere Anhängerschaft seit 1003 eine bodeutende innere Wandlung durchgemacht. Unsere Partei ist seit jeher eine fast ausschließlich proletarische, nicht nur ihren Auffassungen und Zielen, sondern auch ihrer Zusammensetzung nach gewesen. Der große Sieg von 1903 auf der einen Seite und die durch den neuen Tarif verschärfte Teuerung mit ihrem Gefolge von Lohnkämpfen auf der anderen Seite scheinen nun bewirkt zu haben, daß auch unsere Wählerschaft mehr einen ausschließlich proletarischen Charakter annahm, daß sie wohl an Zahl nicht erheblich wuchs, aber einheitlicher und geschlossener wurde. Das ist jedenfalls kein übler Gewinn. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß das deutsche Proletariat gerade seit 1903 in der Beziehung gewaltig erstarkt ist. Das beweist das enorme Wachstum seiner Gewerkschaften, die Wir- kung seiner politischen Organisationen, daS rapide Zunehmen seiner politischen Organisationen, das rapide Zunehmen der Leser- zahlen seiner gewerkschaftlichen und politischen Presse. DaS be- deutet einen bedeutenden Fortschritt. Konnte er nicht anders er- kauft werden als durch den Verlust einiger hunderttausend Mitläufer aus den Zwischenschichten, dann ist dieser Preis nicht zu teuer. Wie hoch wir auch die Bedeutung der parlamentarischen Arbeit veranschlagen, sie ist nur Mittel zum Zweck— der Führung des proletarischen Klassenkampfes, der Kräftigung und fchließlichen Emanzipation des Proletariats. Bringen es die Umstände, unter denen der Klassenkampf vor sich geht, mit sich, daß zeitweise etwa die gewerkschaftliche Tätigkeit erfolgreicher wird und die parlamentarische zurücktritt, ja, daß die Heftigkeit der Lohnkämpfe uns bürgerliche Mitläufer abwendig macht und den gelegentlichen Verlust einiger Mandate einbringt, so ist das letztere bedauerlich, aber kein Unglück, wenn eS eine Wachstumserscheinung bedeutet und aus dem Prozeß der allseitigen Erstarkung des Proletariats hervorgeht. Man darf sich aber nicht etwa einbilden, als habe unter ber proletarischen Konsolidierung unserer Wählerschaft die Werbekrast der sozialdemokratischen Propaganda gelitten. Wir haben den Verlust von Mitläufern auS den Zwischenschichten durch neu ge- wonnene Anhänger auS dem Proletariat mehr als weit zu machen gewußt. Man kann jenen Verlust natürlich nicht ziffernmäßig genau berechnen; einige Hunderttausend wivd er aber wohl be- tragen. Haben wir nun trotzdem, wie es zur Stunde scheint, um etwa 200 000 Stimmen zugenommen, so bedeutet das nichts an- deres, als daß wir rund eine halbe Million neue Wähler im Proletariat gewonnen haben— sicher eine respektable Leistung. Allerdings machte in demselben Zeitaum auch die Jndustriali- sation Deutschlands rasche Fortschritte. Die Prosperität hat zu zahlreichen Gründungen und Erweiterungen industrieller Unter- nehmungen geführt und die Zahl der Industriearbeiter stark ver- mehrt. DaS war ebenfalls einer der Gründe, auf den wir unsere Erwartungen eines starken Stimmenzuwachses aufbauten. Aiich hier vergaßeni wir. daß gerade das Wachstum unserer Kraft unsere Gegner veranlaßt, einem Prozeß, den sie einmal nicht vermeiden können, wenigstens eine gegen uns gerichtete Wendung zu geben. Je stärker die Arbeiterklasse wird, je stärker die Sozialdemokratie, das heißt die Selbständigkeit der Arbeiterklasse, desto mehr trachten die Unternehmer danach, neue Arbeitskräfte aus Gegenden heran- zuziehen, die noch ökonomisch und intellektuell rückständig, nicht voni Sozialismus durchseucht sind. Sie ziehen Ausländer heran. Italiener . Böhmen . Galizier , Schweden , Holländer, die kein Wahl- recht haben und deren Koalitionsrecht durch die AuSweisungS - Möglichkeit auf Null reduziert ist, und unter den deutschen Reichs- bürgern bevorzugen sie wieder die aus agrarischen Gegenden kommenden, von der Kirche gegängelten, namentlich Katholiken und Polen . Wenn ein echter Deutscher keinen Franzmann leiden kann, aber seine Weine gern trinkt, � so haßt auch ein echter beut- scher Nationalliberaler aufs grimmigste jeden Ultramontanen und Polen , aber ultramontane und polnische Lohnarbeiter zieht er freidenkcnden Deutschen vor. Das kann dahin führen, daß sogar bei absoluter Zunahme der industriellen Lohnarbeiterschaft der alte Arbeiterstamm verringert und durch Ausländer sowie polnische und deutsche Zuzügler auS dem östlichen Preußen ersetzt wird. Namentlich in den Gebieten des Bergbaues, aber auch im Bau- wesen vollzieht sich das in hohem Maße. Das ist kein Unglück, wenn man die Dinge von einem höheren Gesichtspunkte betrachtet. Die Ausländer wie die rückständigen deutschen und polnische» ReichSangehörigen werden dadurch in ein Milieu versetzt, in dem sie sozialistischer Propaganda leichter zugänglich werden als in ihren Hcimatsdistrikten. Sie entwickeln sich dann für diese Distrikte zu Aposteln i>eS neuen Evangeliums. So wie ehemals unter dem Sozialistengesetz die Ausweisungen tüchtiger Parteigenossen aus den größten Parteizentren die Verbreitung des Sozialismus im Lande förderten, so schafft diese Politik die Elemente sozialistischer Propaganda weit über Deutschland hinaus. Aber zunächst waren jene Ausweisungen doch ein starker Schlag nicht bloß für die persönlich dadurch Getroffenen, sondern für die gesamte Partei, und so ist auch der starke Zuzug so rückständiger Elemente zunächst eine arge Hemmung nicht bloß sür den politischen, sondern auch für den gewerkschaftlichen Aufstieg oer Arbeiterklasse. ES bedarf einer Reihe von Jahren, bis die Wirkung dieser Art von Jndustriali- sierung der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften zugute kommt. Vorläufig dient sie vor allem der Stärkung des Zentrums und der Polen und der von diesen gegängelten Arbeiterorgaui- sationen. Wenn wir alleS das bedenken, dann tvar unsere Situation in diesem Wahlkampf keineswegs eine so günstige Ivio wir annahmen, als wir zur Schlacht auszogen, ist aber auch ünsere Situation nach der Schlacht keine so ungünstige, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die gegebenen Bedingungen haben uns den Sieg dies- mal versagt, sie haben aber günstige Siege vorbereitet. Binnen wenigen Jahren wird die Situation eine ganz andere sein wie heute. Die unvermeidliche Krise wird den Zustrom neuer Arbeiterschichten aus agrarischen Gegenden in die Jndustriebezirkc versiegen lassen. Die dort ansässigen fallen uns sicher, zu; dieses Zutrauen müssen wir in unsere Propaganda nach ihren bisherigen Wirkungen setzen. Andererseits aber wird für die Zwischenschichten, die uns diesmal im Stiche gelassen haben, die Ernüchterung bald kommen, ihr
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