Nr. 67. 24. Jahrgang. 1. jtcilnp des Jotmärtü" Knlim ilolMIntt. Mittwoch. 20. Marz 1907. Reichstag. 22. Sitzung vom Dienstag, den lg. März 1807, nachmittags 1 Uhr. Der Tisch des Bundesrats bleibt leer. Zunächst wird in der Gesamtabstimmung der Gesetzentwurf über die Berufs- und Betriebszählung angenommen. Debattelos wird dann der Vertrag zwischen Deutschland und Luxemburg über den Beitritt Luxemburgs zur Norddeutschen Brau steuergemeinschast in erster und ziveiter Lesung genehmigt. Hierauf wird die Besprechung der Interpellation Albrecht und Genossen sSoz.) über die Eingriffe von Behörden bei der Reichstagswahl fortgesetzt. Abg. Liedermann v. Sonncnberg stvirtsch. Bg.) bestreitet, jemals die Schaffung eines Korruptionsfonds vorgeschlagen zu haben. Er hätte nur für die Regierung einen Fonds schaffen wollen, damit sie im Falle einer ReichslagSauflösung unabhängig von Gunst und Hn gunst der Presse ihr Programm vertrete. Redner prorestiert gegen den Vorschlag des Abg. Fischer(Soz.). der Reichstag solle alle Mandate der Blockparteien kassieren. Seine Freunde seien nicht mit amtlicher Hülse gewählt. Hoffentlich werde die Sozialdemokratie bei der nächsten Wahl nur noch in kleinen Trümmern im Reichstage erscheinen.(Bravo I rechts.) Abg. Bebel(Soz.): Ob die Hoffnung de? Vorredners in Erfüllung geht, das wollen wir ruhig abwarten. Wenn die Dinge sich so weiter entwickeln wie bisher, werden wir allerdings bei den nächsten Wahlen die gesamten bürgerlichen Parteien unzweifelhaft in einer einzigen Front gegen uns stehen sehen. Wir hatten, da« will ich Ihnen offen gestehen, schon diesmal die Ueberzeugung, daß dieses Bündnis bereits bei den letzten Wahlen zustande gekommen wäre, wenn sie zum legalen Termin stattgefunden hätten. Zunächst ist es ja durch die Art und Weise, wie der Reichstag nach Hause geschickt ist, gestört worden. Wir rechnen al'o mit dieser Tatsache und richten uns auf sie ein. Wir werden dafür arbeiten, dah wir das nächste Mal auf keine der bürgerlichen Parteien angewiesen sind, sondern auS eigener Kraft die Siege erfechten, die wir erfechten können. Der Herr Vorredner hat sich etwas darauf zugute getan, daff er im Gegensatz zu meinem Parteigenossen Fischer nur ganz kurz zu reden brauche. Nun, Herr Lieberinann gehört zu der großen Majorität, die entschlossen ist, was auch für Anklagen gegen die Regierung vorgebracht werden, deren Wahltaktik gutzuheißen. Nach unserer Ansicht haben diese Verhandlungen aber eine sehr große Bedeutung. So lange wir einen Reichstag haben, haben wir einen solchen Wahlkampf noch nicht erlebt. Gewiß sind auch früher und namentlich bei Auflösungen Wahlbeeinflussungen durch die Regierung vorgekommen, aber sie haben noch niemals den Umfang angenommen wie bei den letzten Wahlen. Der Herr Vorredner will der Regierung das Recht geben, vor dem gesamten Volke die Gründe darzulegen, die fie zur Auflösung des Reichstages veranlaßt haben, und unrichtige Darstellungen zu berichtigen. Dagegen hätten wir gar nichts einzuwenden. Wir haben nur allzuoft zu wünschen Anlaß gehabt, daß die Regierung weit rascher Tatsachen berichtigt hätte, die sie in der Oeffentlich- leit Herabietzen mußte. Auch gegen eine ruhige sachliche Dar- legung über die Gründe einer Reichstagsauflösung kann gar nichts eingewandt werden, wenn sie ohne Provokation und ohne Verletzung bestimniter Parteien erfolgt. Wir klagen den Herrn Reichskanzler nicht an, daß er in seinem Briefe die Gründe auseinandergesetzt hat, welche die Regierung veranlassen, den Reichstag aufzulösen, wir klagen ihn aber an wegen der Art und Weise, wie er das Schriftstück abgefaßt hat.(Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) Wir klagen ihn an wegen der Be- schuldigungen, die er in diesem Schriftstück gegen die damalige Mehr- heit erhoben hat. D»S Reichskanzlers Brief an den Präsidenten des Verbandes zur Verleumdung der Sozialdemokratie spricht am Schluß von.dem Kampf für Ehre und Gut der Nation gegen Sozialdemokratie, Polen , Welsen und Zentrum". Das ist eine der schwersten Beleidigungen gegen die vier Parteien, die ein Staatsmann überhaupt arssprechen kann.(Sehr richtig I b. d. Soz.) Wenn der erste Staatsmann des Reiches offiziell m den Wahl- kämpf eingreifen will, dann hat er eS in einer objektiveren, fach- kicheren, seiner Stellung würdigeren Weise zu tun(Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten) und nicht von vornherein als Wahlagitator auszutreten.(Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) Daß die Kreth und v. Lieber dies Vorgehen des Fürsten Bülow billigen und nur wünschen, daß sich diese Szene wiederhole, ist ja selbstverständ- lich. Sie(nach rechts), die Sie ja in erster Linie die Schützlinge der Regierung sind. Sie. die Sie in erster Linie auf die Unter- stützung der Regierung rechnen(Lärm und Widerspruch rechts)— inachen Sie sich doch nicht lächerlich, das Gegenteil zu be- haupten!— Ihnen ist ja natürlich alles willkommen, was Ihre Position in einem Wahlkampfe, wie es der letzte war, stützen kann. Wenn aber sogar ein liberales Blatt wie die„Bossische Zeitung" behauptet, daß das Vorgehen des Reichskanzlers durchaus berechttgt war, da möchte ich denn doch fragen, wie reimt sich damit das Verhalten des Reichstags zusammen, das er seit 40 Jahren bei Wahlprüfungen eingeschlagen hat: daß er jede mit geringer Mehr- heit zustande gekommene Wahl für ungültig erklärt hat. sobald ein Gemeindevorstand, ein Polizeidiener oder ein Landrat in ungehöriger Weise in die Wahlhandlung eingegriffen hat l Wie können wir es da gutheißen, wenn der erste Staatsmann deS Reiches nicht für eine einzelne Wahl, sondern für die gesamten Wahlen parteiisch auf- tritt und Propaganda macht?(Sehr richtig l bei den Sozialdem.) Das ist das Entscheidende. WaS heute einer Partei passiert, kann morgen der anderen passieren, und schon wegen der Konsequenzen sollte man mit aller Energie gegen ein solches Vorgehen protestieren. Nicht als Privatperson hat der Reichskanzler gesprochen, nein, er hat ausdrücklich erklärt, daß er im Namen der Regierung spräche. Er hat sich seines Eingriffs in die Wahlagitation geradezu ge- rühmt!(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Er hat aber weiter auch Gelder gesammelt und sie verteilen lassen. Ein besonderes Maß von Objektivität will er damit be- wiesen haben, daß er nicht selber die Gelder verteilt hat l Darauf kommt es aber gar nicht an, sondern darauf allein, daß der Reichskanzler für Wahlzwecke Gelder gesammelt und daß er in einer offiziösen Berichtigung der„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 10. Februar dieses Jahres erklärt hat, er interessiere sich für die Sammlung dieser Mittel. Mit dieser Erklärung des Reichskanzlers ist auch jeder Zweifel an der offiziellen Wahltätigkeit des Flottenvereins, wenn der Zweifel überhaupt bestand, vollständig beseitigt. Wäre der Flottenverein ein politischer Verein, dann wurden wir kein Wort sagen; denn dann versteht es sich ja ganz von selbst, daß er polittsche Agitatton und Wahlagitation treibt. Der Flottenverein will aber kein politischer Verein sein, er bestreitet das auf das allerentschiedenste. Aber der Reichskanzler hält den Flottenverein für einen politischen Verein; denn er hat sich ja bereit erklärt, seinem Präsidenten, dem Fürsten Salm, Mittel für Wahlzwecke zur Verfügung zu stellen. Nun haben Sie alle gestern abend gelesen, daß die sozialdemokratische Fraktion oder ihr Vorstand von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden soll, weil er am Sonntag vor acht Tagen hier im Hause, dem Beispiel aller Parteien folgend, eine Konserenz veranstaltet hat, in der mit einer Anzahl von Vertreter» der sozialdemokratischen Presse über innere Angelegenheiten der sozialdemokratischen Presse verhandelt worden ist. Kaum ist diese Tatsache durch die Blätter gegangen, so beeilt sich die Staatsanwaltschaft sofort— wenn die Nachricht richtig ist— eine Anklage gegen die Häupter der sozial- demokratischen Fraktion wegen Verletzung des preußischen Vereins- und Versammlungsrechts zu erheben. Was immer aus der Sache werden mag. so konstatiere ich, daß eine solche Konferenz fich auf die besonders geladenen Personen beschränkte und im kleinen Kreise stattfand, daß es fich um eine Zusammenkunft handelte, wie sie jede Partei ohne Ausnahme veranstalten muß, die nicht alle ihre Angelegenheiten der Oeffentlichkeit preisgeben kann. Daß dieser Brauck , von der Sozialdemokratie geübt, sofort die Staatsanwaltschaft mobil macht, während der Flotten- verein und die gesamten Kriegervereine als„ n i ch t p o l i t i s ch e" Vereine in den Wahlkampf eintreten dürfen und im ganzen Deutschen Reiche kein Staatsanwalt daran denkt, diese Bereine zur Verantwortung zu ziehen, beweist eben, daß mit zweierlei Maß gemessen wird und daß wir uns in einem Klassenstaat befinden. Es gibt eben kein Recht und keine Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse und die Sozialdemokratie. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten, Widerspruch rechts.) Je nach der politischen Stellung wird bei dem einen zum Unrecht, was bei dem anderen Recht ist.(Sehr richtig I bei den Sozial- demokraten und bei den Polen .) Der Herr Reichskanzler hat auch nicht immer in der Frage von G e l d s a m in l u n g e n den gleichen Standpunkt vertreten. Än die 12 000 M.-Affäre des Grafen PosadowSky ist ja bereits erinnert worden, und es kann gar nichr genug darauf hingewiesen werden. Damals hat der Reichskanzler in der offensten und rücksichtslosesten Weise seine Mißbilligung darüber ausgesprochen, daß iein Kollege, Graf PosadowSky , oder dessen Untergebener, Geheimrat v. Woedtke, die 12 000 Mark für AgitationS- zwecke genommen habe. Am 24. November 1900 erklärte der Reichskanzler Graf Bülow: „Ich bin der Ansicht, daß die Regierung sogar den An- schein vermeiden muß, als ob sie in irgend einer Abhängig- keit von irgendwelchen Gruppen stehe, daß sie sogar den Ver- dacht vermeiden muß, als befinde sie sich in Abhängigkeit von Sonderinteress en." (Hört I hört I bei den Sozialdemokraten.) Und weiter sagte der Kanzler:„Wenn ich von der Absicht, einen solchen Weg einzuschlagen, Kenntnis erhielte, würde ich die Aus- kührung mißbilligen." Dadurch hat der Reichskanzler vom 24. No- vember 1900 den Reichskanzler vom 31. Dezember 1903 moralisch totgeschlagen.(Lachen rechts. Sehr richtigl bei den Sozialdemokraten.) Jetzt aber handelt es sich nicht bloß um eine Regierungsvorlage, sondern um die Verteidigung des ganzen S y st e m s und da findet er es ganz in der Ordnung, daß Geld gesammelt und in entsprechender Weise verwendet wird I Wenn der Reickskanzler einen solchen Brief verfaßt, der in der gesamten Presse veröffentlicht wird und also zur Kenntnis aller Reichs- und Staatsbeamten kommt, so ist es ganz erklärlich, daß auch der dümmste unter ihnen sich sagt:„Das ist ja eine direkte Stellungnahme gegen ganz bestimmte Parteien: die darsst du also auch nicht unterstützen." Die notwendige Folge ist eine politische Korrumpierung des gesamten BcainteiistandeS. (Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) Infolge dieses Schreibens haben denn auch die höchsten Behörden, die Staats- gewaltvn, die Gemeindegewalten, die Schulen, die Kirchen allüberall gegen die in die Acht erklärten Parteien Stellung genommen. Man hat sogar an 124 000 Schullehrer die Aufforderung gerichtet, aktiv zugunsten der Blockparteien in den Wahlkampf einzutreten, und ein großer Teil der Schullehrer ist dieser Aufforderung gefolgt. Sie haben Schlepperdienste geleistet und die nötigen Bureauarbeiten ver- richtet. Auch hat man in einigen 10 000 Schulen den Unterricht am Wahltage ausfallen lassen, damit die Lehrer den ganzen Tag zur Verfügung der sogenannten nationalen Parteien standen.(Sehr richtigl bei den Sozialdemokraten.) Von den höheren Schule» hat man junge Leute von siebzehn, achtzehn Jahren zu Schlepper- diensten für die Blockparteien' abkommandiert; auf den Universitäten sind die Vorlesungen ausgefallen, damit die Studenten ausgiebig in die Wahlagitation eingreifen konnten. Wenn jüngere Sozialdemokraten das tun, so haben wir von einem Vertreter der rechten Seite schon gehört: die „grünen Jungen" mischten sich in Angelegenheiten, die sie nichts an- gingen. Aber die Dienste der„grünen Jungen" in Ihrem Jnter- esse sind Ihnen sehr angenehm I(Sehr gut I bei den Sozial- demokraten.) Wir Sozialdemokraten verurteilen eine solche Mit- Wirkung an sich nickt, denn wir verlangen, daß das politische Recht zum mindesten mit 21 Jahren beginnt. Dadurch, daß der Silvesterbrief an den Präsidenten deS Verbandes zur Verleunidung der Sozialdemokratie gerichtet war, wurde dieser Verband gewissermaßen zum offiziösen Wahlrepräsentanten der Regierung.(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es wurde ihm gleichsam, wie unter Napoleon III. den sogenannten weißen Blusen, das offiziöse Amt der Wahlleitung übertragen. Wir be- greifen, daß Herr v. Liebert neulich in so lebhafter Weise die Objettivität der sächsischen Behörden anerkannte:(von der wir freilich noch nichts zu spüren bekommen haben) denn als der Reichskanzler sich für den Verband zur Ver- leumdung der Sozialdemokratie ins Zeug warf, wurde dieser Verband offiziell für alle Behörden geheiligt, so daß vor den Agenten dieses Verbandes alle Türen aufflogen, die Behörden ihm alles gewährten, was er im Wahlkampf für notwendig hielt.— Herr v. Liebert hat weiter neulich bestritten, daß er offizieller Kandidat der Regierung gewesen ist. In seinem Wahlkreise war außer einem meiner Partei- genossen, dem früheren Abg. Schöpflin, auch ein antisemitischer Kandidat aufgestellt. AIS nun durch die Briefe deS Generals Keim bekannt wurde, daß die Reichskanzlei oder Herr v. Loebell sich für die Kandidatur des Herrn v. Liebert interessiere, wurde von der deuffchen Reformpartei offiziell die Anfrage hierher gerichtet, ob das wahr wäre. In der„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" wurde das bestritten, aber hinzugesetzt:„Die Bemühungen der Reichskanzlei sind wie in anderen Kreisen so auch hier auf die möglichste Einigkeit der nationalen Parteien ge- richtet ohne eine Spitze gegen eine dieser Parteien." Das ist also geschehen; es wird zugegeben, daß man sich bemüht hat. die Kandidatur Liebert als die einzige Kandidatur der Ordnungs- Parteien aufreckt zu erhalten.(Zuruf rechts.) Herr v. Liebert, ich behaupte ja nicht, daß Sie davon Kenntnis hatten, das ist auch ganz gleichgültig: es handelt sich darum, daß die Reichsregierung und die ihr unterstellten Organe in ungehöriger und ungesetzlicher Weise in den Wahlkampf eingegriffen haben.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Das wird aber durch die Aeußerung der„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" bewiesen, und wenn Herr v. Liebert sich durch gewisse Abwehrbewegungen dagegen verwahrt, daß er Regierungskandidat gewesen sei(Heiterkeit!), so haben wir ja in der freisinnigen Partei einen Herrn, der dies freiwillig erklärte, den Herrn Abgeordneten Dr. Hermes. (Dr. Hermes wird puterrot. Große Heiterkeit.) Seinem konser« vativen Gegenkandidaten war das natürlich sehr unangenehm. (Heiterkeit.) Dieser Kandidat, Frhr. v. Richthofen, erkundigte sich in Berlin und hat dann nach dem betreffenden Wahlkreise ein Telegramm gesandt:„Fürst Bülow hat mit Dr. Hermes über dessen Kandidatur - gar nicht gesprochen. Sie können von dieser Mitteilung öffentlich Gebrauch machen". Der Gebrauch, den die konservative Partei machte, verursachte den Herren Freifinnigen einen Todesschreck(Große Heiterkeit) und sofort gab der freisinnige Wahlausschuß die öffentliche Erklärung ab: Herr Hermes habe Ende Dezember in Berlin einen Vortrag über die Situatton gehalten, auf welchen hin der Reichs- kanzler ihn zu einer Besprechung am 2. Januar eingeladen habe. In dieser Besprechung, so heißt es in jener Erklärung, sprach der Reichskanzler seine volle Befriedigung über die von Dr. Hermes kundgegebenen politischen Erklärungen aus und äußerte, daß der bis- herige Besitzstand der national gesinnten Parteien überall zu wahren sei und eine konservative Kandidatur gegen Dr. Hermes der poli- tischen Gesamtlage nicht entspreche.(Heiterkeit.) Daraufhin sagte da? Komitee: Nun ist doch schwarz auf weiß bewiesen, daß der Reichskanzler den Dr. Hermes als offiziellen Kandi- baten angesehen hat. Früher freilich betrachteten die Freifinnigen es als größten Schimpf, daß jemand als offizieller Kandidat der Regierung bezeichnet werde.(Sehr richtig! be» den Sozialdemo- kraten.) Doch wundern wir uns bei den Freisinnigen über nichts mehr.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Weiter habe ich hier noch ein Aktenstück, das in eklatantester Weise die Tätigkeit der Behörden im letzten Wahlkampf« beweist. Bekanntlich wurde im Rheinland und in Westfalen bei den Stichwahlen darüber verhandelt, ob das Zentnim und die anderen bürgerlichen Parteien nicht gemeinsame Sache gegen die Sozial- demokraten machen sollten. Die Verhandlungen scheiterten daran, daß ein Teil der Kölner Liberalen unter keinen Umständen für Herrn Dr. Trimborn eintreten wollte. Das hat zu großen Erklärungen in der rheinischen Presse geführt. Hierbei teilte die Leitung der Zentrums- parte! mit, daß von dem Verhandlunasortc aus im Aiiftrage der RcgierungSvertreter(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten) nach drei Stellen telephoniert und ein bestimmter Vertreter der Zentrums- Partei gewünscht wurde, weil inzwischen plötzlich Dr. Semler aus Berlin angekommen sei. Herrn Semler haben wir als freiwilligen Regiermngskommissar ja schon oft gesehen.(Heiterkeit.) Die Rolle des freiwilligen Wahlvermittlers, in der er hie» auftrat, war neu.(Zuruf links:„Er war es ja gar nicht I") Dann mag er es berichtigen. Ich kann mich nur an diese Erklärung halten, die unwidersprochen durch die Presse gegangen ist. In der ZenttumS- erklärung wird weiter mitgeteilt, daß die Verhandlungen mit den Vertretern der Regierung drei Tage lang gedauert haben. Drei Tage lang haben die Vertreter der Regierung— unter ihnen der Oberpräsident der Rheinprovinz — in Köln verhandelt, bis fie schließlich resultatlos auseinander gegangen sind. Hier ist also ein neuer Beweis, daß Vertreter der Regierung— unter ihnen, wie gesagt, der Oberpräsident der Rheinprovinz � an Verhandlungen teilgenommen haben, um die Sozialdemokratie nach Möglichkeit bei den Stichwahlen auszuschalten. Nach alledem kann doch wohl niemand be- streiten, daß indiesem Wahlkampf offiziellineinerWeisezugunstengewisser Parteien eingegriffen worden ist, wie wir es bisher noch niemals im Deutschen Reiche erlebt haben.(Sehr richtig I bei den Sozial- demokraten) Wir wünschen zur Ehre des Reiches, daß e» auch nie- mals wieder in ähnlicher Weise geschehen möge.(Lebhaste Zu- stimmung bei den Sozialdemokraten.) Den Wahlkampf hat das Volk zu führen. Der Wahlkampf soll entscheiden, ob das Volk für oder gegen die Regierung ist. Da soll sich die Regierung nicht einmischen, da soll das Volk frei und ungehindert seine Meinung äußern können. Da mag jede Partei ihr Programm vertreten und Propaganda treiben, das ist ihr gutes Recht. Aber gleiches Recht, gleichen Wind und gleiche Tonne für alle ohne Ausnahme! (Lebhaste Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) So gehört es sich im Wahlkanipf zu stehen und zu fechten. Nicht in dieser napoleonischen Manier darf er betrieben werden, daß die Behörden vom Reichs- kanzler bis zum Oberpräsidenten v. Schorlemer-Alst zugunsten be- stinimter Parteien eingreifen. Die ganze Reichs« und Staats- organifation ist in Bewegung gesetzt worden, und der deutsche Kaiser hat dem Fürsten v. Salm noch ausdrücklich gratuliert, daß der tlottenverein feine Sache so prächtig gemacht hat! Der deutsche aiser wird wohl ganz gut über die Vorgänge in diesem Wahl- kämpf unterrichtet gewesen sein. Wie hat er selbst den ganzen Kamp? aufgefaßt? Bekanntlich zogen um Mitternacht große Mafien vor das Berliner Schloß und brachten ihm eine Ovation. Der Kaiser erschien darauf am Fenster und zitierte einen BerS auS Kleists Drama„Der Prinz von Homburg ", einen Vers, den er im Sinne dieses WahlkampseS auslegte. Der Prinz von Homburg hatte die Schlacht von Fehrbellin entschieden. indem er entgegen ausdrücklichem Befehl und wider die Ordnung einen An- griff auf den Feind ausführte. Der Kursürst wollte trotz des entscheidenden Erfolges den Prinzen von Honiburg zur Verantwortung ziehen. Dagegen wandte sich der Oberst Kottwitz mit den Worten: „Was kümmert Dich, ich bitte Dich, die Regel, Nach der der Feind sich schlägt, wenn er nur nieder Vor Dir mit allen seinen Fahnen sinkt? Die Regel, die ihn schlägt, die ist die höchste.' Auf die Art kommt eS also nicht an, nicht darauf, ob der Wahlkampf anständig oder unanständig geführt wird! Die Haupt- fache ist, daß wir„niedergeritten" sind, wenn auch mit den allergemeinsten Mitteln, die denkbar sind.(Große Unruhe und Ge- lächter rechts.) Nun, das ist durch dieses Zitat selbst zugestanden worden.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Eine große Rolle haben in diesem Wahlkampfe die Verleumdungen de« ReichsverbandeS gespielt. ES würde mich stundenlang beschäftigen müssen, wollte ich alle die dreisten Unwahrheiten, Fälschungen und Weg- lassungen ausführen. deren sich der Reichsverband in seinen Zitaten schuldig gemacht hat. ES ist charakteristisch. daß Herr V. Liebert in seiner letzten Rede ein Zitat auS dem Zitatenschatz deS Reichsverbandes brachte, das mit der Wahrheit auf dem allergespanntesten Fuße steht.(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das Zitat betraf mich. Da eS sich hier um ein Zitat handelt, das zehnmal, hundertmal berichtigt worden ist, so ist eS schwer, zu glauben, daß Herr v. Liebert hier u n- wissentlich falsch zittert haben soll.(Rufe rechts: Wie heißt es denn?) Es betrifft meine Aeußerung auf dem Münchener Parteitage über die Agrarier. Ich soll gesagt haben:„Es gibt keinen egoistischeren, keinen rücksichtSlosereii, keinen brutaleren und keinen bontterteren Menschenschlag als die bäuerliche Klasse, gleichviel in welcher Gegend—"(Zuruf recht«:„Das ist in München gesagt!") Das ist eben nicht gesagt worden. Hier ist das offizielle Protokoll der Partei und da heißt es:„Es bewahrheitet sich hier wieder ein- mal. daß eS keine egoistischere, keine rücksichtslosere, brutalere, aber auch keine borniertere Klasse gibt als unsere Agrarier." (Zuruf rechts:„Das ist doch dasselbe!) Da hört doch alles auf l AuS den Worten„unsere Agrarier" hat man gemacht„bäuerliche Klasse". Man hat dann noch hinzugesetzt„gleichvielinwelcher Gegend".— Der Verband behauptet.— um nur noch einige weitere Belege seiner AgitationS- weise anzuftihren— daß die„VorwärtS"-Redakteure bis zu 10 000 M. Gehalt bekämen und daß in ähnlicher Weise die Redakteure der„Reuen Zeit" bezahlt würden. Das wird behauptet. obwohl aus den offiziellen Protokollen und aus den Abrechnungen des Parteivorstandes mit Leichtigkeit herauszurechnen war. daß das gar nicht möglich ist, was da behauptet wird. Der„Vorwärts" hat §egenwärttg 138 000 Abonnenten, mehr als die meisten Berliner eitungen, und der bestbezahlte der zehn„Vorwärts"-Redakteure erhält 4ö00 M. und nicht 10000 bis IS 000 M.. wie manche bürgerlichen Chefredakteure.(Zuruf rechts:„Das sind Hungerlöhne!') Jawohl! Wenn unsere Redakteure die Gepflogenheiten des Herm v. Hammerstein hätten, so würden fie damit nickt aus-
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