Ar. 74. 24. Jahrgang. 2. KtilM i>es Jmtiirt!)" Kerlim AlksdlÄ. Die russische Revolution. Die Feldkriegsgerichte. BHr tragen den Schluß des Telegramms über die Dienstag- Sitzung der Reichsduma nach: Der Berichterstatter Hessen wendet sich gegen Stolhpins AuS- führungen und verzichtet dann auf seine Forderung, daß die Kom- miflion der Duma den Antrag binnen 24 Stunden prüfen soll! Der Präsident stellt den Antrage zur Abstimmung: zur Prüfung des Antrages betreffend Abschaffung der Kriegsgerichte eine Kommission von 16 Mitgliedern zu wählen. Die Duma nimmt ihn mit überwältigender Mehrheit an und vertagt sich darauf. In der nächsten Sitzung wird über einen von der Rechten ein- gebrachten Antrag verhandelt, der eine Verurteilung der politischen Morde ausspricht.— Eine Kundgebung russischer Aerzte. Während die Reichsduma seit dem 25. d. M. mit der Er- örterung des Gesetzesprojektes, betreffend die Abschaffung der Feldkriegsgerichte, beschäftigt ist, griffen die russischen Aerzte zu einer überaus bemerkenswerten Kundgebung. Man hat sich nämlich nach einem von Dr. Wigdortschik in der Aerzteversammlung zu Petersburg gehaltenen Vortrage dahin geeinigt, alle medizinischen Gesellschaften und sonstigen Organisationen Ruhlands auf- zufordern, unter den Aerzten dafür zu agitieren, daß sie sich weigern, den Hinrichtungen beizuwohnen! Zu diesem Zweck wird die nachfolgende Resolution der Petersburger Aerzte in Masten verbreitet: „Nach erschöpfender Erörterung der Frage betreffend die Teil- nähme der Aerzte an den Hinrichtungen und in Erwägung dessen, daß die Förderung des Todes nicht zu den Obliegenheiten des Arztes gehört, der berufen ist, das L e b e n und die Gesundheit aller Menschen ohne Ausnahme zu beschützen; daß die Teilnahme an den Hinrichtungen eben eine solche Förderung des Todes darstellt, daher eine himmelschreiende Ver- letzung der Berufspflicht und verbrecherischen Verrat an dem hohen Beruf eines Arztes bedeutet; daß diejenigen Aerzte, welche auS niedrigen materiellen Rück- sichten auf derartige Berufsverbrechen eingehen, den Aerztestand diskreditieren und ihn in den Augen der ganzen Gesellschaft herab- setzen. ist die Aerzteversammlung zu dem einstimmigen Beschluß gekommen, daß alle ärztlichen Organisationen in der energischsten Weise gegen die Teilnahme der Aerzte an den Hinrichtungen pro- testieren und alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zur Be- kämpfung derjenigen Aerzte ergreifen müssen, d'e dieser Auffassung ihres Standes nicht Folge leisten wollen." Die Kadetten und Stolypin . Petersburg » 25. März.(Eig. Ber.) Der 9.(22.) März ist ein Tag von großer politischer Bedeutung geworden: der Begründungstag des„Verbandes vom 9. März", wie er bereits von der Presse getaust worden ist. Der„Towarischtsch bringt auch die Illustration dazu: in der Mitte Stolypin , zu seiner Rechten ein echtrussischer Pogrombruder und links der Führer der Kadetten, Roditschew. Das ist die neue Bundesgenossenschaft, die auch in den nichtrussischen bürgerlichen Blättern ein wahre? Freudengeheul ausgelöst hat. Das ist ja auch erklärlich. Die russisch« Revolution ist der bürgerlichen Presse des Auslandes stet» ein Dorn im Auge gewesen. Von der neuen parlamentarischen Konstellation erwartet sie nun aber nicht weniger als das Erlöschen der Volksbewegung! Und das ist denn auch der wirkliche Zweck der kadettischen Schwenkung. Um jeden Preis gegen die Revolution — da» ist die Parole der Bundesgenossenschaft vom 9. März. Um diese Losung schart sich jetzt die ganze rechte Seite zusammen, und die Kadetten haben in diesem Reigen die Führerschaft übernommen »Ja, wer hätte e» glauben können," so schreibt die„Nowoje Wremja", daß die Rechten dem Herrn Roditschew Beifall klatschen «ud die Linken ihm zurufen würden:„Es ist genug!" und daß sie ihn der Blutsverwandtschaft mit Purischkewitsch beschuldigen werden? Wer hätte eS glauben können, daß der Premier in der Duma den Antrag Roditschew unterstützen würde und daß die Kadetten der Rede StolypinS Beifall klatschen werden? Alle diese unwahrscheinlichen und unglaublichen Sachen sind heute zur Tatsache geworden. Alles das ging vor den Augen der Duma vor sich und vor den Augen des verwunderten Publikums."„Der- artige Reden wie die RoditschewS," sa sagt der deutschjunkerliche .Herold",.konnte man in der ersten Duma nicht hören."— Gewiß, damals waren sie noch nicht so weit heruntergekommen. Die Kadetten selbst tun übrigens so, als ob sie von der neuen Konstellation überrascht wären! Es ist zum Lachen, wie sich die„Rjetsch" in ihrem heutigen Leitartikel dreht und windet, und wie doch in dem ganzen Gerede nur ein Gedanke deutlich her- vortritt, der Gedanke, daß den Gewinn aus der denkwürdigen Sitzung vom 9.(22.) März nur Stolypin nach Hause tragen wird! Die Regierung braucht Geld, das Ausland verlangt aber die Unterschrift der Duma unter den Wechsel. DaS Kapital will endlich einmal Frieden sehen, um desto bessere und sichere Geschäfte machen zu können. Dazu reichen nun die Kadetten ihre hülfreiche Hand.„Die Reden des gegenwärtigen Kabinetts," schreibt der„Towarischtsch",„sind nicht an Rußland gerichtet, sondern an Europa . Seine Aufgabe ist nicht, mit dem eigenen Lande Frieden zu schließen— das wäre wahrlich aussichtslos—, das Kabinett will einfach den Boden für eine neue Anleihe vor» bereiten." Während die Kadetten selbst noch die Ahnungslosen spielen Und nichts von geheimen Verhandlungen hinter den Kulissen wissen wollen, bringt die Presse immer deutlichere Hinweise, daß solche Verhandlungen tatsächlich bereits stattgefunden haben! Die„Russj" sagt:„In der Presse gehen Gerüchte von Abmachungen der Kadetten mit der Regierung. Wir denken, daß die Kadetten selbst nicht wissen, ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprechen. Auf jeden Fall steht fest, daß noch vor kurzem die Kadetten mit der Regierung sehr erfolgreiche Verhandlungen führten!" Die„Russj" steht den Kadetten ziemlich nahe, und sie würde diese Mitteilung daher nicht in einer so kategorischen Form gebracht haben, wenn sie dafür nicht sichere Grundlagen hätte. Es liegt natürlich im Interesse der Kadetten, jetzt zu leugnen und die unwissenden Ueber- raschten zu spielen. Ihr Spiel ist aber aufgedeckt, und daS ist den Herren unangenehm. Die Parteien in der Duma. Die Parteien sind soeben in der Reichsduma wie folgt verteilt worden: Auf der äußersten Linken sitzen 69 Sozialdemokraten, dann folgen 41 Sozialrevolutionäre, 19 Volks-Sozialisten, 16 Ukrainzy. 80 Trudowiki, 21 Kosaken, 88 Muselmänner, 46 Polnisches Kalo, 83 Kadetten. Parteilose, Oktobristen und die Rechte haben ins- gesamt 192 Plätze. Die Regierungsprovokateure an der Arbeit. Petersburg, 27. März. Den Abgeordneten von Kostroma tvurde auf ihr Gesuch offiziell mitgeteilt, daß die Un- ruhen im Gouvernement Kostroma , die von Kosaken unter- drückt wurden, wobei es 100 Tote gab, auf Provokation zu- rückzuführen seien!! Die zugereisten Provokateure hätten Schüsse abgegeben, worauf die Kosaken feuerten. Den Ab- geordneten wurde eine sofortige Untersuchung des Falles versprochen. Attentat. Moskau , 27. März.(W. T. B.) Der Redakteur der„Rußkija Wiedomosti", Dr. Jollos, Abgeordneter der ersten Reichsduma, ist heute, als er im Begriff war, seine Wohnung zu verlassen, von einem unbekannten jungen Manne durch Revolverschüsse ermordet worden. Der Mörder ist entkommen. Die„Russische Korrespondenz" erhielt ein Telegramm, aus dem hervorgeht, daß Jollos von einem gewissen Toropow, einem Mitglied« des Verbandes echt russischer Leute» getötet worden ist!— Deklaration der sozialdemokratischen Dumafraktion. Die Erklärung, die Zeretelli im Namen der sozialdemokratischen Dumafraktion als Antwort auf Stolhpins Deklaration verlas, hat folgenden Wortlaut: „Nachdem sie die erste Duma aufgelöst und jede Kontrolle über ihre Tätigkeit beseitigt hatte, zeigte die Regierung unverhüllt ihr wahres Gesicht. Sie zeigte, daß sie nichts anderes ist als eine Regierung des Adels, die in innigem Verein mit den Feudaljunkern und den Schmarotzerelementen der Gesellschaft handelt. Sie be- nutzte den ihr zur Verfügung stehenden Zeitraum von sieben Monaten, um unter dem Vorwande der„Beruhigung" des Landes mit allen Mitteln die Interessen der regierenden Bureaukratie, der feudalen Großgrundbesitzer und aller sonstigen Parasiten zu be- festigen. Sie trat alle bereits bestehenden, wenn auch sehr be- schränkten Freiheitsgesetze- mit Füßen. Die Freiheit der Ver- sammlung, der Rede, der Presse und die Koalitionsfreiheit, die durch das Manifest vom 39. Oktober verheißen waren, blieben ein leerer Schall. Die Regierung überzog das ganze Land mit dem dichten Netz des Kriegszustandes, des verstärkten und des außer- ordentlichen Schutzes. Sie zwang die Soldaten der Armee und Marine ebenso wie die Kosaken, der Sache der Volksknechtung zu dienen, und sie strafte sie schonungslos für jeden Versuch, sich auf die Seite des Volkes zu stellen. Sie trieb die administrative Will- kür bis zu einem Grade, wie man ihn selbst damals, als in Ruß- land noch keine Konstitution verheißen war, nicht gekannt hatte. Sie füllte die Zuchthäuser, Gefängnisse und Verbannungsorte mit den Kämpfern für die Sache der Freiheit und den Opfern der Exekutionen und der Rache der Feudaljunker und Parasiten. Sie spottete aller Begriffe über Rechtsprechung, indem sie die Anwen- dung der mittelalterlichen Folter zuließ, und sie krönte diesen ihren Spott durch die Einführung der Feldkriegsgerichte, die bereits mehr als 799 Menschen hingerichtet haben. Sie verschloß ihre Augen vor der verbrecherischen Tätigkeit der Schwarzen Banden, sie unter- stützte die Hetze gegen die Juden, Polen , Armenier, Grusier und Mohammedaner, sie förderte die Organisierung des Pogroms in S i e d l c e und belohnte die Organisatoren dieses Pogroms. Sie schaltete und waltete nach Gutdünken mit den Volksgeldern und ließ— in der Person des Ministergehülsen G u r k o— zu, daß man sich selbst an jenen Mitteln vergriff, die zur Unter- stützung der Hungernden bestimmt waren. Sie traf die ungesetz- lichsten Maßregeln, um Privatpersonen, die den Hungrigen Hülfe bringen wollten, daran zu verhindern. Durch willkürliche Senats- „Erläuterungen" und administrative Matznahmen brachte sie eine Million Bürger um ihr unbestrittenes Wahlrecht und suchte durch ungenierte Einmischung in den Gang der Wahlen den freien Aus- druck des Volkswillens zu hintertreiben und ihre eigenen Leute in die Duma zu bringen. Ein« ganze Reihe von Gesetzen, die von der Regierung, ent- gegen den Verheißungen des 39. Oktober und ohne Einwilligung der Volksvertretung, erlassen wurden, verfolgen den Zweck, im Interesse des Fiskus und der feudalen Großgrundbesitzer jene Landstücke zu veräußern, auf die das Volk, das so lange in Knecht. schaft und Ausbeutung schmachtet, ein unzweifelhaftes Recht besitzt. Die Regierung hat alles, was in ihrer Macht stcht, getan, um mit Hülfe dieser Gesetze über den Landverkauf und mit Hülfe jener Be- dingungen, mit denen sie den Austritt aus der Gemeinde umstellt hat, den armen Bauern zugunsten der Gutsbesitzer und der wohl- habendem Bauern zu berauben, unter der Bauernschaft Haß, Er- bitterung und Bruderzwist zu säen und auf diese Weise ihre Kräfte zu zersplittern und zu schwächen. Mit besonderem Haß aber fiel die Regierung in diesen sieben Monaten über die Arbeiterklasse her: sie suchte alle ihre politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zu vernichten, sie mischte sich in den ökonomischen Kampf des Proletariats, indem sie sich jedesmal auf feiten des Kapitals stellte, sie unterstützte wohlwollend die Schwarzen Hunderte, welche die Arbeiterstreiks sprengten, sie tat nicht nur nichts, um dem Elend der Arbeitslosigkeit zu steuern, sondern suchte sie zu erhöhen, indem sie die Aussperrungen ourch die Arbeitgeber, die vermehrten Arbeiterentlassungen in fis- kalischen Betrieben und ihre völlige Schließung nach Kräften förderte. Durch ihre Gesetze über die Sonntagsruhe und durch die Verminderung der Arbeitszeit in Handelsbetrieben und Werkstätten legte die Regierung die Lösung dieser Frage in die Hände der Arbeitgeber und der Stadtausschüsse, die sich aus den Vertretern der Kaufmannschaft zusammensetzen; sie richtete ihre Schläge gegen die wehrloseste Kategorie des Proletariats, die Landarbeiter, und stellte ihnen die schwersten Bußen in Aussicht, falls es ihnen ein- fiele, sich zum Kampfe gegen die Gütsbesitzer zusammenzutun. Das ist die Regierung, der das Land bereits durch die Wahlen sein Mißtrauen offen ausgedrückt hat und die jetzt vor die Reicks duma mit ihrer Deklaration getreten ist, in der sie F r e i h e i t s gesehe verspricht! Als ob man an diese Gesetze und an diese Freiheiten glauben könnte, so lange eine Regierung, die sich nicht entblödet hat und nicht entblödet, alle Freiheiten und alle Gesetze mit Füßen zu treten, am Ruder bleibt! Gegenüber allen Deklarationen und Versprechungen der Re- gierung erklärt die sozialdemokratische Dumafraktion folgendes: Sie erwartet nichts von der Regierung der autokraten Bureau- kratie; sie ist dessen eingedenk, daß die erste Duma nur deswegen nichts erreicht hat, weil es ihr noch nicht gelungen war, ein festes Band zwischen Volk und Volksvertretung herzustellen; sie weiß, daß auch die jetzige Duma durch ihr bloßes Mißtrauensvotum den hart- nackigen Widerstand der autcckraten Bureaukratie nicht brechen wird, daß die Duma erst eine Macht werden muß, die geeignet wäre,«in starkes Werkzeug der Volksbefreiung zu werden; sie setzt alle ihre Hoffnungen auf die Bewegung des Volkes selbst, welches einzig und allein dem Regime der Willkür und der Gewalt ein Ende machen und der Volksvertretung die Kräfte geben kann, die nötig sind, um die Gefängnisse zu öffnen, die Freiheit zur Lösung der Landfrage zu sichern, dem Kampfe des Proletariats freie Buhn zu schaffen, das Heer zu reorganisieren, die Steuerlast von den ärmeren auf die reicheren Bevölkerungsschichten abzuwälzen usw. Die sozialdemokratische Fraktion ist eben zu dem Zwecke in die Duma eingezogen, um durch unaufhörliche Arbeit auf allen Gebieten der parlamentarischen Tätigkeit und unter Benutzung der der Duma zustehenden Rechte das Volk über die wahre Lage der Dinge aufzuklären und ihm zum Bewußtsein zu bringen, daß die Duma in allen ihren Schritten, die auf die Erkämpfung der Frei- heit und die Unterordnung der exekutiven- Gewalt unter ihren Willen gerichtet sind, unterstützt werden muß. um den Zusammen. schluß und die Organisierung der Volkskräfte zu fördern, vor allem die der Kräfte des Proletariats, einer Klasse, deren Vertreterin die Sozialdemokratie ist und die in der Sache der Befreiung des ganzen Rußlands die Hauptrolle gespielt hat, spielt und spielen wird. Indem sie an diese schwierige Aufgabe herantritt, wendet sich die fozialde molratische Fraktio« im Geiste den Kampfesgenossen zu, jenen Tausenden Verbannter und Eingekerkerter, die in der®f« fangenschaft der Regierung schmachten. Die sozialdemokratisch« Fraktion wird auch nicht einen Augenblick lang jenen Volksruf ver- gessen-, der ihre Abgeordneten geleitet hat und der täglich in un» zähligen Briefen und Mahnungen wiederholt wird. Sie wird keinen Augenblick lang der verbannten und eingekerkerten Kämpfer vergessen und wird, um ihre Befreiung zu erreichen, sich des ein» zigen Mittels bedienen, welches diese Befreiung herbeiführen kann: des stetigen Hinweises darauf, daß das Volk nur dann- seine Kämpfer befreien kann, wenn es selbst seine Ketten zerbricht. Tatjana Leontieff vor den Geschworenen. Thun (Schweiz ), 27. März.(Telegr. Bericht.) Zur Begründung der Anklage ergreift heute an erster Stelle Bezirk?« prokurator Dr. Kummer das Wort: Die Blicke der ganzen Welt seien auf die Verhandlung gerichtet, und mit Recht verlange man allgemein eine Sühne für die verbrecherische Tat. Dieser Pflicht müßten die Geschworenen nachkommen, schon im Interesse des be- deutenden Fremdenverkehrs, dessen sich die Schweiz erfreue, der ja den Lebensnerv dieses Landes ausmache. Dieser Verkehr würde nachlassen, wenn die persönliche Sicherheit nicht mehr hinreichend gewährleistet sei. Was die Tat selbst anlange, so sei nicht zu be» streiten, daß gewisse äußere Umstände, vor allem die innerpolitischen Zustände Rußlands , auf die Angeklagte eingewirkt haben und daß deshalb die Beurteilung des Verbrechens in gewissem Sinne eine Milderung rechtfertige. Allein diese Milderung dürfe nicht weiter gehen, als das Gesetz es vorschreibe. Die Angeklagte sei sich ihrer Tat bewußt gewesen. Sie habe ein klares und ver- ständliches Motiv zu der Tat gehabt, und zwar ein politisches Motiv. Ihr Verhalten in der Voruntersuchung habe auch bestätigt, daß man es bei ihr durchaus mit einer intelligenten und geistig gesunden Person zu tun habe. Sie selbst bestreite ja auch auf das entschiedenste, daß sie geistig nicht normal sei. Die Angeklagte sei eine Person, die vor keiner Tat und keiner Strafe zurückschrecke, um ihre revolutionären und terroristischen Grundsätze in die Tat um- zusetzen. Sie müsse deshalb als ein der menschlichen Gesellschaft gefährliches Mitglied bezeichnet und die menschliche Gesellschaft müsse vor ihr geschützt werden. Es sei einfach empörend, daß die Angeklagte es unterlassen habe, sich genau über die Persönlichkeit Durnowos zu orientieren. Hätte sie das getan, so hätte ihr die ver- hängnisvolle Verwechselung nicht passieren können.— Der Staatsanwalt bespricht dann ausführlich den Charakter Durnowos und seine Karriere vom Polizeirat bis zum Minister des Innern. Durch die Vernehmung eines Sachverständigen habe die Verteidigung hier den Beweis führen wollen, daß auf das Schuld- konto Durnowos all' die Gewalttaten, Grausamkeiten, Pogrome und Folterungen, kurz das ganze gegenwärtige russische Schreckens- regiment zu setzen sei. Er betrachte es nicht als seine Ausgabe, an den innerpolitischen Verhältnissen Rußlands an dieser Stelle Kritik zu üben, und die Verteidigung habe diese Vorgänge wohl auch nur in die Verhandlung hineingezogen, um ein M o t i v für die Tat der Angeklagten festzustellen. Der Gapon-Zug vom 22. Januar 1995 mit seinem blutigen Ausgang brachte die Angeklagte in die Kreise der Revolutionäre, und sie führte in jenem Winter ein gefährliches Doppelleben zwischen den Prunksälen des Hofes und den dunklen Berstecken der Verschwörer. Die Familie der Angeklagten war aufs engste befteundet mit der des Generals Trepoff, und wiederholt hat daher die Angeklagte im Hause Trepoffs verkehrt. Diese Gast- freundschaft aber hat sie schnöde entgolten. Sie ließ sich durch sie nicht davon abhalten, sich an einen: Mordanschlag gegen Trepoff zu beteiligen, ja sie ging noch weiter und suchte die beiden Töchter Trepoffs zu beeinflussen, die Verschwörung gegen ihren eigenen Vater mitzumachen. Das gelang ihr auch! Aber als diese beiden Mädchen von der im März 1995 in Petersburg erfolgten Verhaftung der Angeklagten hörten, begingen sie Selbstmord, wohl aus Furcht, daß auch ihre Verschwörerpläne ans Tageslicht kommen würden. Diese beiden jungen Menschenleben hat die Angeklagte auf dem Gewissen(Bewegung). Ihre Entlassung aus der ersten Haft verdankt die Angeklagte der Verwendung ihrer Verwandten an einflußreichen Stellen. Man ließ sie frei, weil man glaubte, daß Tatjana ihren unbesonnenen Schritt einsehen und auf die Worte ihrer Eltern hören würde. Statt dessen entfernte sie sich unter nichtigen Borwänden von Lausanne , wohin sie mit ihrer Mutter übergesiedelt war, und brachte Wochen und Monate in Zürich und Genf mit ihren revolutionären Gesinnungsgenossen zu. Sie schloß sich der schärfsten Richtung der russischen Revolutionäre, der„Organigation de combat socialiste- revolutionäre rn a x i in i s t e" an, und im Auftrage dieser Organisation führte sie ihr Verbrechen aus. Sie tötete aber den Angehörigen der französischen Nation. �Frankreich respektiert das Asylrecht und kann daher verlangen, daß eine in der Schweiz vorgekommene Verletzung des Asylrechts die verdiente Sühne findet. Aber ganz abgesehen davon, die Angeklagte hat mit Vorbedacht einen Menschen ge- tötet, also einen Mord begangen und muß daher wegen Mordes bestraft werden. Die Auffassung der medizinischen Gutachter, daß man die Tat der Angeklagten ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der gegen- wärtig in Rußland herrschenden Verhältnisse beurteilen könne, gehe zu weit. Die Tat selbst sei nicht etwa ein bedauerlicher Irrtum, sondern ein scheußlicher Mißgriff. Weil Müller ein Kapitalist, ein Angehöriger der bürgerlichen Gesellschaft war, deshalb tue der An- geklagten ihre Tat nicht leid. Die Volksmeinung über die An- geklagte sei geteilt: Die einen halten sie für eine Befreierin des unterdrückten russischen Volkes, für eine Heldin, die anderen für eine gemeine Mörderin. Wenn die Geschworenen der Ansicht sein sollten, daß die Angeklagte eine BolkSbefreierin»st, die bereit war, für die Sache des Volkes ihr Haupt auf den Richtblock zu legen, dann müßten sie zweifellos zu einer Zubilligung mildernder Um- stände komme«.(Bewegung.) Wenn das„Berliner Tageblatt" daran gezweifelt habe, daß die Bernischen Bürger und Bauern, die hier zu urteilen haben, dazu das nötige Verständnis besitzen,(Oho!» Rufe auf den Bänken der Geschworenen), so müsse das zurück. gewiesen werden. Die oberländischen Geschworenen werden vielmehr streng objektiv ihr Urteil fällen, und in deren Hand lege er vertrauensvoll das Schicksal der Angeklagten. Der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. B r ü st l e i n beantragte zunächst prinzipiell die Freisprechung von der Anklage des Mordes. Die Tat in Jnterlaken ist nur eine kleine Episode der großen russischen Revo- lution, die alle Schichten des russischen Volkes aufgerüttelt habe. 29 999 Menschenleben hat das russische Gewaltregiment allein in den letzten zwei Jahren auf sein Gewissen geladen. Gegenüber einem solchen Regiment war eS für eine Natur wie die Angeklagte unmöglich, ruhig zu bleiben. Sie hat sich an die Seite derer gestellt, die für die Freiheit des Volkes kämpften. Durch die Verwechselung ist die an und für sich schöne Tat der Angeklagten leider beeinträchtigt worden. Man muß aber als Erklärung in Betracht ziehen, daß der Erschossene, Müller, eine fatale Aehnlichkeit mit dem Manne hatte, dem die Schüsse eigentlich galten. Der Mut und die Willenskraft der Angeklagten sind bewundernswert, und die Mehrheit des russischen Volkes billigt ihre Tat. Es gibt eben in Ruhland gegen die Gewalthaber kein anderes Mittel als den politischen Mord. Einzig und allein unter diesem Gesichtspunkte mutz die Angeklagte und ihre Tat beurteilt werden, nur aus der Zeitströmung heraus, in der sie lebte, kann man die Handlung der Angeklagten verstehen. Man denke daran, welche Begeisterung im russischen Volke Platz griff, als die Ermordung der Bluthund« Plehwe und Großfürst Sergius bekannt wurden.
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