einfZngt, die Frage keineswegs erledigt. Der Artikel S4 der ReichZverfassuiig steht nach Ansicht von fast der gesamten deutschen StaatSrechtSwissenschaft den preußischen Plänen entgegen. und dieser Paragraph verliert nicht dadurch seine Gültigkeit, daß die preußische Negierung plötzlich eine andere Auslegung beliebt und für diese infolge allerlei Gefälligkeiten die Zustimmung anderer Bundesstaaten findet. Wenn sich die Bundesstaaten unter der Hand darüber einigen, einem Berfassungsparagraphen eine andere Deutung zu geben, als er bisher hatte, so wird dadurch diese neue Jnter- pretation keineswegs ohne weiteres maßgebend. Auch daS deutsche Boll kommt in Betracht, und diesem wird durch das Bestreben der preußischen Regierung, die Abgabenfreiheit auf den natürlichen deutschen Strömen zu beseitigen, ein Recht genommen, daS ihm durch die Reichsvcrfassung gewährleistet ist. Gelingt es der preußischen Negierung, einfach durch eine andere Interpretation einen Artikel der Reichsverfassung außer Kraft zu setze», dann wird sie sicherlich auch in anderen Fällen, wo ihren Absichten Bestimmungen der Reichsverfassung entgegenstehen, versuchen, über diese Hindernisse dadurch hinweg zu kommen, daß sie die betreffenden Bestimmungen anders interpretiert oder durch gefügige Staatsrechtslehrer inter pretieren läßt und dann für diese neue Auslegung-unter den anderen Bundesstaaten so viele Stimmen wirbt, daß sie mit diesen zusammen im Bundesrat die Mehrheit hat. Der Reichstag muß deshalb energisch Protest gegen das von der preußischen Regierung ein- geschlagene Verfahren einlegen.— Montagnini und kein Ende. Paris , S. April.(Gig. Ber.> Noch immer regnets„Montagnini-Papiere" von allen Seiten, Und aus des päpstlichen Auditors Tagebüchern und Briefregistern kommt noch manches Geheimnis des vatikanischen Geschäfts an den Tag. An dem Gesamtbild wird sich indes kaum mehr etwas ändern. Festgestellt ist die leitende Rolle, die Merry del Bal in der Wahlkampagne der„liberalen Aktion" gespielt hat, festgelegt seine Einflußnahme auf die Jnventurskandale und nicht minder das gegen die versöhnlicherer Stimmung verdächtigen Geistlichen be triebene Intrigen» und Spionagesystem. Auch über die anti- demokratischen Umtriebe der internationalen Diplomatengesellschaft ist hinlänglich Licht verbreitet, und es kommt nun nicht mehr daraus an, ob der schreiblustige Montagnini in Einzelheiten zu stark auf. getragen und loses Gerede zu festen Behauptungen verdichtet hat. Die große Frage ist jetzt, ob die Regierung aus der Beröffent- lichung der Papiere politische Konsequenzen ziehen wird. Schon gibt es genug Leute, die allen Ernstes von einem Hochverrats- Prozeß sprechen. Ohne Zweifel ließe sich aus den Papieren des Auditors von einem staatsanwaltschaftlich Begabten eine einiger. maßen ansehnliche Anklage konstruieren. Aber ebenso klar ist es, daß eine derartige Anklage nichts als ein politischer Humbug wäre. Man braucht sich ja nur die Leute anzusehen, die nach einer solchen Aktion rufen. Es sind die Radikalsozialisten vom Schlage des klein bürgerlichen Reaktionärs Maujan, des giftigsten Gegners der Sonntagsruhe und der Arbeiterbewegung. Denen käme cS zupaß, die Unterdrückung der Gewerkschaften, nach der sie jetzt schreien, unter einer demagogischen Sensation zu verstecken und die so oft versprochene Erfüllung des radikalen Reformprogramms durch die Verewigung des religionspolitischen*ZankS zu ersetzen. Bei der Regierung würde der Wunsch jener schwerlich auf einen aufrichtigen Widerstand stoßen. DaS Ministerium Clcmenceau ist nämlich in einer so üblen Lage, daß es bei normalem Verlauf der parla mentarischen Politik binnen kurzem fallen muß. Nur ein Theater. coup der Regierung kann ihre portefeuillesüchtigen Gegner auf der Linken zwingen, ihren Machttrieb zu zügeln. Clemenceau ist sicher nicht der Mann, sich der M i t t e l halber Skrupel zu machen. Man hat ihn bor einem Jahre ein„Komplott" erfinden sehen, dem die tatsächliche Grundlage noch ganz anders fehlte als emec etwaigen Anklage gegen Piou und Genossen. Clemenceau würde sich aber auch daraus nichts machen, daß er selbst durch die Unlust, mit der er sich von den Sozialisten zur Ausfolgung der Papiere MontagniniS an das Parlament bewegen ließ, eingestanden hat, daß kein Staats- interesse die Einleitung eines Prozesses verlangt. Aber die Sozialisten, die das radikale Ministerium vor seinen ehrgeizigen Parteifreunden solange beschützten, als es noch einigermaßen Ernst machte mit seinen Reformvorschlägen, haben das höchste Interesse daran, es zu stürzen, wenn es sich durch eine demagogische, die ganze Demokratie kompromittierende Schwindelpolitik zu retten sucht. Sie werden auch nicht übersehen können, daß der klein- bürgerliche Chauvinismus, der das Einverständnis der französischen Römlinge mit den Politikern dcS Vatikans als Hochverrat strafen will, unter Umständen auch nicht davor zurückschrecken würde, sozialistischen Arbeitern den Prozeß zu machen, wenn sie Beschlüsse internationaler Kongresse zur Ausführung bringen. Die Sozialisten haben mit Ergötzen die Enthüllungen betrachten dürfen, die die wildesten Nationalisten als Mietstruppe Roms zeigten, sie werden aber auch bei der patriotischen Komödie nicht mitspielen, die zum heimlichen Benefiz deS Unternehmertums aufgeführt werden soll. •»• Oeutkickes Reich. Woermann klagt weiter. In d'er Nummer vom t. Dezember 1906 der„Frank- furter Zeitung" ist unter der Rubrik„Deutscher Reichstag" ein Entrefilet über die Reichstagssitzung vom 30. November enthalten, in dem die Woermann-Linie beschuldigt wurde. das Reich übervorteilt zu haben, besonders durch die Berech- nung der Liegegelder. Hierdurch fühlt Woermann sich beleidigt. Er behauptet, Erzberger habe den in der„Frankfurter Zeitung " enthaltenen Ausdruck nicht gebraucht, der auch nicht im stenographischen Reichstagsbericht enthalten sei: es sei mithin unwahr, was die„Frankfurter Zeitung " dem Abgeordneten Erzberger in den Mund lege. Woermann hat nun durch seinen Schwießersohn Rechts- anwalt Dr. Hauers, der am Sonnabend im„Simplicissimus"» Prozeß den Ausspruch tat:„Wir können uns so etwas nicht mehr gefallen lassen", gegen den für den politischen Teil des Frankfurter Blattes als Verantwortlicher zeichnenden Redak- teur Albert Büsching eine Privatbeleidigungsklage beim Schöffengericht I zu Hamburg anhängig gemacht. Der Vertreter des Beklagten, Rechtsanwalt Dr. Hertz- Frank- furt, hat gegen die Klagebegründung eingewendet, eS handle sich bei Besprechung der Reichstagsrede nicht um eine wört- tiche Wiedergabe, sondern nur der Sinn der Ausführungen des Abgeordneten Erzberger über die Liegegelder sei kurz angedeutet. Die Verhandlung gegen Büsching findet in einigen Wochen statt.— -. Juristische Tüfteleien. DaS neue bayerische Landtagswahlgesetz hat seine erste Probe noch nicht bestanden, und bereits mutz eö sich von den Juristen die wunderlichsten Auslegungen gefallen lassen. Bekanntlich ist die Ausübung des Wahlrechte? davon abhängig gemacht, datz der Wähler fxst mindestens einem Jahre eine direüe Steuer entrichte� d. h. er mutz seit mindestens einem Jahre zur Steuerzahlung an- gesetzt sein und diese Steuer auch entrichtet haben. Aach dein ge- sunhen Menschenverstände ist das nicht anders aufzufassen, als datz die Steuer für das dem Wahljahre vorausgegangene Jahr, also für 1306, bezahlt sein mutz. Anders entschieden jedoch die Bambergcr RathauSjuristen. Sie bestimmten, datz nur diejenigen in die Liste eingetragen werden, die auch für das erste Semester 1307 die Steuer bezahlt haben. Da die Steuern distriktweise ein- gehoben werden, so werden bis zur Beendigung der Listenauflage noch nicht einmal alle Steuern fällig sein. Die Betreffenden dürfen dann nicht wählen, wenn sie auch gerne die Steuer bezahlen würden. Eine ebenso rigorose Auslegung erfährt eine andere Be stimmung, die vorschreibt, datz jeder Wähler nur in dem Wahl bezirk wählen darf, in dem er wohnt. Die Auslegung geht nun dahin, datz jeder, der nach der Auflage der Listen aus einem Wahl bezirke verzieht, weder in dem alten noch in dem neuen Bezirk wählen darf; er ist einfach seines Wahlrechtes beraubt, auch wenn er nur eine Straße weit verzogen ist und den Wahlkreis nicht vco lassen hat. Es braucht nur eine WahlbezirkSgrenze zwischen der alten und der neuen Wohnung zu liegen. Datz der Gesetzgeber dies auf keinen Fall beabsichtigt hat. steht fest. Wenn zwischen der Auflage der Listen und dem Wahltermm ein Quartalsziel läge, wären Tausende von Wählern ohne weiteres um ihr Wahlrecht gebracht, aber es gibt auch noch monatliche Umzüge genug. Natür» lich wird hiervon die arbeitende Klasse am meisten getroffen. Im neuen Landtage wird man sich wohl über diese Auslegungskünste näher unterhalten müssen._ Hottentottisches. Die Regierung fühlt sich bewogen, der Welt mitzuteilen, wie es trotz der vom Kommando der Schutztruppe getroffenen Maßregeln dem Hottentottenhäuptling Simon Kopper möglich geworden ist, er« neut eine feindliche Haltung einzunehmen und in die Wüste Kala. hart auszurücken. Das„Wolffsche Telegraphenbureau" berichtet nämlich: „Der Marsch Simon KopperS nach GochaS wurde durch die Heranziehung entfernter und in der Kalahari weit zerstreuter Banden sowie durch daS tiefe, sandige Dünengelände-und die Mitführung von Weibern und Kindern erheblich verlangsamt. Major Pierer, der diesen Marsch zunächst überwachte, wurde durch Mangel an Verpflegung und Wasser gezwungen, die Truppe schneller nach Gochas vorauszusenden. Mit Patrouillen hielt er jedoch die Fühlung mit Simon Kopper aufrecht und hoffte hier- durch dem Kapitän, dessen Haltung bisher verläßlich erschien, das Sammeln seiner ängstlichen und mißtrauischen Leute zu er« leichtern." Biel deutlicher wird durch diese nichtssagende Entschuldigung das Entkommen des Hottentottenhäuptlings auch nicht.— Ein Majeftätsbcleibigungsprozeß in Sachsen . Zwickau , 6. April. (Eig. Bcr.) Vor dem hiesigen Landgericht begann gestern ein Majestäts. bekeidigungsprozeß gegen fünf Parteigenossen aus Oberlungwitz . Die Anklage resultiert aus einem Borgang aus der Reichstagswahl- bewegung. In einer von nationalliberaler Seite einberufenen Wählerversammlung, die am 13. Januar in Oberlungwitz stattfand. trat ein Meerancr Parteigenosse dem jungliberalen Kandidaten Dr. Clauß entgegen. In seinen Ausführungen berührte er auch die bekannte Rekrutenvcrcidigungsrede des Kaisers. Seine diese Rede betreffenden Ausführungen wurden von einem großen Teil der Anwesenden mit lauten Pfuirufen begleitet. Der die Versamw lung überwachende Brigadier Kluge aus Oberlungwitz erwähnte das auch in seinem Bericht an seine vorgesetzte Behörde und er- hielt auf Antrag des Staatsanwalts den Auftrag, Erörterungen nach den Rufern anzustellen. Auf diese Weise kamen die Genossen Riedel, Bennewitz , Ficker, Fischer und Sturm auf die Anklagebank. Die Verteidigung führte der Zwickauer Rechtsanwalt Eißner I. Sämtliche Angeklagten stellten die ihnen zur Last gelegte Bcleidi- gung deS Kaisers durch Pfuirufe eintschieden in Abrede. Durch Vorlegung einer ausführlichen Zeichnung deS Saales führten sie den Beweis, daß, selbst wenn sie sich an den Zwischenrufen be- teiligt hätten, die Belastungszeugen dieses von ihren Plätzen aus nicht hätten wahrnehmen können.' Die Belastungszeugen Brigadier Kluge, Gendarm Feuer und Schutzmann Lasch wollten jedoch an Mund, und Körperbewegungen die Teilnahme der Angeklagten an den Pfuirufen wahrgenommen haben. Auf die Frage deS Per teidigers, welche Mundbewegung der Zeuge Gendarm Feuer im Moment des Rufe? bei den Angeklagten wahrgenommen habe, gab der Zeuge �ur Antwort:„DaS Mundspitzen l" Auf die Frage des Verteidigers nach der Körperbewegung machte der Zeuge mehr. malS pfuirufcnd die von ihm angeblich wahrgenommene Kopf. vorwärts-bcugt-Bewegung. Der Schutzmann Lasch will den An. geklagten Ficker an seiner Stimme erkannt haben. Mehrere weitere Belastungszeugen, darunter ein Schutzmann und der Ortsrichter von Oberlungwitz erklärten, nicht in der Lage gewesen zu sein, auS den vielen Stimmen Bestimmtes herauszufinden. Die Eni- lastungSzeugen Herold, Katzsch und Weber, die mit den Angeklagten an denselben Tischen gesessen haben, erklären, daß von den An- geklagten keiner sich an den Pfuirufen beteiligt hätte. Die sehr bestimmte Aussage des Zeugen Herold wurde auf Antrag des Staatsanwalts protokolliert. Der Zeuge hatte, die Begriffe„nahe Berwandschast" und„Freundschaft" verwechselnd, die nähere Be- kanntschast mit dem Angeklagten Riedel in Abrede gestellt. Auch das wurde protokolliert, trotzdem der Zeuge, nachdem der Brigadier Kluge ausgeführt hatte, daß Riedel und Herold Mitglieder eines '«zialdemokratischen Vereins seien, sofort erwidert, er habe die .rage des Borsitzenden nur dahin verstanden, als handele es sich üm nähere Verwandschaft. Die Vereidigung des Zeugen Herold wurde vorläufig ausgesetzt. Der Verteidiger behielt sich einen die Aussage des Zeugen Brigadier Kluge betreffenden Protokollierungs- antrag vor. Er beantragte die Vorladung weiterer Zeugen, die eine? die Schwerhörigkeit des Angeklagten Bennewitz begutachten- den Sachverständigen und die gerichtliche Inaugenscheinnahme des SaaleS, um festzustellen, wie weit die Belastungszeugen von ihren Plätzen aus die bekundeten Wahrnehmungen machen konnten. Auch der Staatsanwalt beantragte die Vorladung weiterer Zeugen. Die Anträge des Verteidigers und des Staatsanwalts auf Vorladung weiterer Zeugen nahm da» Gericht an, lehnte aber alle anderen Anträge ab. Montag, den 8. April, nachmittags 4 Uhr« soll die Verhand- lung fortgesetzt werden.—__ Ermäßigung der Zucket[teuer. Der Verein der deutschen Zuckerinduftrie hat an den Reichstag eine Eingabe gerichtet, in der er eine Herabsetzung der Zuckersteuer um 4 M.. also von 14 auf 10 M. pro Doppelzentner verlangt. Die Agrarier denken durch eine derartige Verbilligung des Zuckers den einheimischen Konsum zu heben und dadurch die deutsche Zucker- industrie von dem Export unabhängiger zu gestalten, der noch immer äst die Hälfte der deutschen Zuckerproduftion beträgt. Die agrarische Presse ist deshalb über die Eingabe sehr erfreut. Die»Deutsche TageSztg." schreibt z. B. zu ihrer Empfehlung: .Diese EntWickelung ist nicht ungefährlich. Der durch die Steuer übermäßig erhöhte Zuckerpreis ermöglicht nur eine lang« fame Steigerung des inländischen Verbrauchs, obwohl der Zucker vonHauS au» da» billigste und gesündeste Nahrungsmittel ist. Bei fortschreitender Vervollkommnung de» Rübenbaues und Erhöhung der guckerausbeute wachsen die Mengen de» Zucker», der aus den Markt kommt. Eine Einschränkung deS Anbaues durch eine Pro« duzentenvereinigung, um lohnendere Preise zu erzielen, ist seit Aufhebung der Prämien durch die Brüsseler Konvention und der Sprengung des Kartells bisher nicht möglich gewesen. Sie ist im Interesse der Landeskultur auch keineswegs Wünschens« wert, weil die Rübe in der Fruchtfolge vieler Gegenden gar nicht' mehr entbehrt werden kann, ohne den Betrieb aufs schwerste zu beeinträchtigen." Sonst ist eS der agrarischen Presse höchst gleich, ob dem Volk die„gesunden" Nahrungsmittel verbilligt werden; entscheidend ist für sie allein der Nutzen der Landwirtschaft; in diesem Fall ver« schmäht sie jedoch nicht, auch die Billigkeit als Argument zu be« nutzen.—_ Herr Liebermann von Sonncnberg. Die Geistesgröße des Antisemitismus, Herr Liebermann hat im Reichstage sehr energisch bestritten, datz er die von der„Hess. Rundschau", einem Organ der Reformpartei, ihm nachgesagte Aeußerung:„Dt eine Schwälmer Bauern sind treu wie die Hunde, aber dreckig wie die Schweine" jemals getan habe, und erklärt, er habe gegen das Blatt Beleidigungsklage angestrengt. Bisher ist aber, obwohl bereits über sieben Monats darüber verflossen sind, den Gerichten ein solcher Strafantrag gegen das antisemitische„Bruderblatt" nicht zugegangen. Dagegen hat Herr Liebermann, wie die„Voss. Ztg." berichtet. jüngst einen Homberger Sattlermeister, der am Biertisch gelegentlich diese Aeußerung erwähnte, vor den Kadi geladen. Am Mittwoch voriger Woche fand die Gerichtsverhandlung statt, die das über« raschende Ergebnis hatte, daß Herr Liebermann von Sonnenberg seine Klage zurückzog und die Kosten des Verfahrens tragen muß.— Der Elberfeld er„Wahlkrawall" vor Gericht. In der Sonnabendsitzung wurden zunächst die von der Ver« teidigung nachträglich geladenen Zeugen vernommen. Durch ihre Aussagen wurde festgestellt, daß die Polizei nicht nur in dem allge- meinen Trubel Unschuldige getroffen, sondern auch auf ziemlich menschenleeren Straßen völlig unschuldige Per- sonen mißhandelt hat. Eine herzleidende Frau nmrde, ob- wohl sie fortgesetzt rief, sie sei krank und könne nicht voran, mit Säbelhieben selbst dann noch traktiert, als sie schon am Boden lag; ein Mann, der sich ihrer annahm und sie fortführen wollte, bcl...» gleichfalls Säbelhiebe. In einer anderen Straße wurde ein KommiS, der sich um den ganzen Auflauf gar nicht gekümmert hatte, als er im Begriffe war, die Haustür zu seiner Wohnung aufzuschließen, von hinten durch zwei Säbelhiebe so schwer verletzt, daß er längere Zeit arbeitsunfähig war. Noch weitere Fälle werden konstatiert, wo Passanten ohne jede Veranlaffung von Polizisten geschlagen oder mit Schlägen bedroht wurden.— Vor Schluß der Beweisaufnahme wurde von der Polizei in einem Falle der Strafantrag gegen die Genossen Eberle und Hoffmann zurückgezogen.— Der Staats- anwalt beantragte, von den wegenA uflaufs, Widerstand»« le istung und Beleidigung angeklagten Personen vier zu Gefängnisstrafen von zwei Wochen bis zu sechs Dtonaten zu ver- urteilen, gegen die übrigen beantragte er Geldstrafen von 30 und 60 M., gegen Dr. Rascher eine Geldstrafe von 200 M. und gegen den Genossen Eberle drei Monate Gefängnis und 200 M. Geldstrafe. In einem Falle beantragte der Staatsanwalt Freisprechung.— DaS Gericht erkannte in zwei Fällen auf Freisprechung, ein Angeklagter wurde wegen tätlichen Angriffs und Beleidigung zu d r e i M o n a t e n, ein anderer wegen Wider- standSleiswng und Beleidigung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, fünf erhielten wegen Beleidigung und tätlichen Angriffs Geldstrafen von 30 und 60 M. Dr. R a s ch e r erhielt wegen öffent« licher Beleidigung 60 M. Geldstrafe. Beim Genoffen Eberle wurde nicht eine fortgesetzte Handlung angenommen, sondern wegen jedes einzelnen der noch unter Anklage siebenden Artikel erfolgte Verurteilung. Die Gesamtstrafe beträgt bei Eberle 1160 M. Von einer Gefängnisstrafe, so heißt es in dem Urteil, habe das Ge- richt auS dem Grunde Abstand genommen, weil die aus der Wahl hervorgegangene Erregung dem Angeklagten zugute gehalten werde. Im übrigen aber sei der von der„Freien Presse" der Polizei ge« machte Vorwurf ungerechtfertigt, die Polizei habe vielmehr Pflicht« gemäß gehandelt und ihr besonnenes Vorgehen verdiene alle— An- erkennung I Wenn bei solchen Vorkommnissen Unschuldige leiden müßten, so sei da» nicht zu vermeiden. Wir verzichten auf eine Kritik deS Urteils. Unterlasten wollen wir aber nicht die Bemerkung, daß nach dem Stichwahltage die Freie Preffe" rund 6000 neue Abonnenten bekommen hat und die bürgerliche Presse ihrem Neid durch Rufe nach dem Staatsanwalt gegen da»»verhetzende Treiben' der»Freien Presse" Luft gemacht hat._ Regenmcmgel— Frost— Heuschrecken. AuS unserem südwestafrikanischen»Neu-Deutschland" berichtet daS Organ der deutschen Kolonialgesellschaft nach einem Briefe aus Windhuk : »Mit dem Viehstande ist eS recht gut bestellt. Wer außer« ordentlich betrübend sieht es mit Wasser und Weide auS. Zwar hatte die Regenzeit gut eingesetzt, und daS GraS war gut aufgegangen, aber plötzlich erschienen ungeheure Mengen von Heuschrecken, wie sie seit vielen Jahren nicht mehr beobachtet worden waren, und große Strecken swd wie mit einer Decke von der jungen Brut bedeckt, so datz die Weide vollständig vernichtet ist. Außerdem ist der Regen seit Wochen ausgeblieben, und die Regenzeit geht bald zu Ende. Wir müssen wohl auf ein schlimmes Jahr für die Farmwirtschaft gefaßt sein. Ebenso stark haben die Kleinsiedelungen gelitten. In Klein-Windhuk hat zuerst der F r o st ein D r i t t e l biS zur Hälfte der Weinernte vernichtet. Jetzt sind nun auch dort die Heuschrecken eingefallen, gegen deren Andrang wir ziemlich machtlos sind. Sie haben alle Kartoffeln und alle» Gemüse verzehrt und zum Teil bis auf den Stumpf abgefressen. Auch in Osona ist die ganze Ernte dahin." Ein reizendes Land, dieses Wüst-West, für das wir eine halbe Milliarde verpulvert haben und fortdauernd noch mindestens fünfzig Millionen verpulvem sollen l—_ Durch Mißhandlungen in den Tod getrieben. Wegen fortgesetzter schwerer Mißhandlungen Untergebener hatte ich am Sonnabend vor dem Kriegsgericht der 7. Division in Magdeburg der Unteroffizier Bernhard Fiebellorn zu ver- antworten. Fiebelkorn. der bei der 4. Kompagnie deS in Hohensalza qarnisonierenden 140. Infanterieregiments steht, ist wegen achtzehn MßhandlungSfällen angeklagt, die aber nach einer Bemerkimg de» Anklagevertreters nur einen Bruchteil der wirklich vor- gekommenen Mißhandlungen darstellen. In der Kompagnie des Soldatenschinders diente auch der Musketier Stanbert, der an einer Hand gekrümmte Finger hatte, so daß er die Gewehrgriffe dem Unter« offizier nicht zu Dank machen konnte. Dieser suchte„nachzuhelfen". indem er dem armen Menschen fortgesetzt Schläge mit seinem Seitengewehr auf die Finger versetzte, so daß der Mißhandelte da» Lazarett aufsuchen mutzte. Nach seiner Entlastung ans dem Lazarett, wo man ihm die Jfinger auch nicht hatte gerade richten können, schrieb Stanbert an eine Eltern, daß er die„Drieseleien" des Unteroffiziers nicht länger ertragen könne und deshalb in den Tod gehen wolle. Am 14. Dezember 1304 führte der Unglückliche diesen Vorsatz au» und erschoß sich. Dem Musketier Knopf hat ferner der ehrenwerte»Stellvertreter Gottes" immer mit der Faust ins Gestckit geschlagen, so daß die Wangen und da» Zahnfleisch bluteten. Selten sei ein Tag ohne Mißhandlungen vergangen, sagte Knopf als Zeuge au». Auch er lat die Absicht gehabt, Selbstmord zu begehen; nur der Gedanke an eine armen Eltern hat ihn die Absicht nicht ausführen lassen, wie er mit tränenerstickter Stimme bekundete. Zu beschweren getraute er sich nicht, au» Furcht, daß es ihm dann später noch schlimmer er- gehe» würde.
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