Einzelbild herunterladen
 

Den Herren Handwerkskrautern gehörte so ziemlich der Rest deS Tages, wenn man von dem verunglückten Rein- Waschungsversuch absieht, den der juristische Beauftragte der Hamburger Reeder, Herr Semler. an Ballin u. Eo. vor- zunehmen suchte. Nach einander sprachen ein Schreinermeister, ein Bäckermeister und ein Glasermeister, und die Reden sahen sich ähnlich wie Eier vom selben Huhn, obwohl von den Rednern der eine auf der linken, der andere in der Mitte und der dritte auf der rechten Seite des Hauses sitzt! Schreinermeister W i e l a n d aus Göppingen im Schwabenland, der zur demokratischen Gruppe des geadelten Payer gehört, schwärmte unter dem. jubelnden Beifall der Rechten für Zölle und Mittelstand. Für eben dasselbe und für eine neue Zuchthausvorlage obendrein schwärmte Bäcker- meister Rieseberg, der zum Stöcker-Liebermann-Grüpplein gehört, und für Zölle und Mittelstand, doch vorläufig ohne Zuchthausvorlage, brach Glasermeister Irl vom Zentrum die bekannte warme Lanze. Am Montag geht die Debatte weiter. Die konservativ- liberale Paarung soll bereits mit einem Schlußantrag schwanger gehen._ Für die höheren Beamten. Das Abgeordnetenhaus beschäftigte sich heute mit drei Vorlagen, die sämtlich den höheren Staatsbeamten neue erhebliche Vorteile zuwenden. Das erste dieser Gesetze, das Beamtenpensionsgesetz, erhöht die Anfangspensionen, die nach zehn Jahren erreicht werden, um ein Zwölftel und sieht eine raschere Erreichung der Höchst- Pensionen vor; es entspricht damit einem alten, wiederholt ge- äußerten Wunsch des Abgeordnetenhauses. Obwohl nun in der preußischen Verfassung vorgesehen ist, daß Finanzgesetze zunächst dem Abgeordnetenhaus und erst dann dem Herrenhaus zugehen sollen, hat die Regierung des Fürsten Bülow dieses Gesetz zuerst beim Herrenhause eingebracht, weil sie keine Gelegenheit vor- übergehen läßt, ohne vor dengeborenen" Gesetzgebern Preußens eine besonders tiefe Verbeugung zu machen. Die finanzielle Bedeutung der heute verhandelten Vorlage kann nun im Ernste gar nicht zweifelhaft sein, und das Abgeordnetenhaus zeigte sich zurzeit sehr entrüstet, als die erste Nachricht von diesem sonderbaren Vorgehen der Regierung kam. Heute aber wagte kaum ein einziger Redner noch an diesen flagranten Verfassungsbruch zu erinnern; man überwies unter allgemeiner Zustimmung die Vor- läge der Budgetkommission und wird sie wohl annehmen, ohne von der Regierung irgendwelche Rechenschaft zu fordern. Es folgte die Beratung eines neuen Richterbesoldungsgesetzcs, das die Richtergehälter erhöht und das Dienstaltersstufensystem einführt, so daß die Richter in Zukunft nach einer gewissen Dienst- zeit automatisch aufrücken und nicht, wie bisher, auf den Tod ihres Vordermannes warten müssen. Natürlich war auch diese Vorlage dem Abgeordnetenhause willkommen; sie wurde nach einer kurzen Besprechung einer Kommission von 21 Mitgliedern über- wiesen. Dann wurde die zweite Beratung des Kultusetats bei dem Kapitelhöhere Lehranstalten" fortgesetzt. Nachdem in der letzten Sitzung die beiden Anträge über Schaffung einer Einheitssteno- graphie und Abschaffung der Vorschulen erledigt worden waren, kam heute der dritte freisimrig-nationalliberale Antrag zur Bc° sprechung, der die Gleichstellung der Oberlehrer an den höheren Lehranstalten im Gehalt mit den Verwaltungsbeamten und Richtern fordert. Der freisinnige Abgeordnete Cassel, der diesen ur- alten Antrag begründete, konnte sich auf eine Aeußerung des Kultusministers Bosse berufen, die Bosse allerdings erst nach seinem Ausscheiden aus dem Amte getan hat; daß man nämlich, wenn man gute Lehrer haben wolle, sie von Staats wegen nicht wie Schuhputzer behandeln dürfe! Die Konservativen fürchten auch heute noch, daß der Unterricht in den Schulen, in die doch ihre Kinder gehen, zu rasch verbessert würde, und sie wollten da- her dem Antrag nur dann zustimmen, wenn sein Inkrafttreten hinausgeschoben würde auf den Zeitpunkt der allgemeinen Revision der Beamtenbesoldung. In dieser Form kam er dann auch einstimmig zur Annahme. Von der viel dringlicheren Auf- gäbe, endlich die Gehälter der Volksschullehrer aufzubessern und die V o l k s f ch u l c n zu heben, sprach im Dreiklassenparlament kein Mensch. Das kann man ja von ihm auch nicht verlangen. Am Montag wird die Beratung des Kultusetats fortgesetzt. Deutrches Reich. Ackerheimweh. Das Organ der Landbündler ist durch die sonnigen, knospen- sprengenden Apriltage lyrisch inspiriert worden. In einem Artikel AckcrHeimweH" besingt es die Poesie der nahrungs- und freude- spendenden Ackerkrume:«Die Sehnsucht nach einem Stückchen sonnigen Landes, nach einem Streifen fruchttragenden AckerS, nach der Möglichkeit, unmittelbar dem LebcnSschlage der schaffenden Natur zu lauschen, wird immer tiefer und immer allgemeiner." Es sei, als ob das grotzstadtmüde Geschlecht aufatme in der freien Lust, als ob es körperliche und seeliche Genesung suche und finde.im Ouickborne deS frischen Ackers." Die in diestickigen Masscnpferche" der Groß- stadt Gebannten würden immer niehr vom Ackerheimwch gepackt. Dieser lyrischen Einleitung folgen dann literar- und kultur« historische Betrachtungen über das.Ackerheimweh". Imdeutschen Liebe" komme überall die Sehnsucht nach dem frischen Mutterboden, nach demheimfriedlichcn Laubengrün zu köstlichem Ausdruck". Und alle Völker, von den alten Griechen und Römern an, hätten solches .Ackerheimweh" empfunden. Der Artikel, der so poetisch ansetzt, schließt selbstverständlich echt agrarisch mit der Verherrlichung der agrarischen Politik, die ganz allein geeignet sei,.das Acker- Heimweh des Gesamtvolkes zu stillen." Ein ebenso schöner Artikel wie über daS Ackerhelmweh ließe sich über das G r o ß st a d t h e i m w e h der Herren Agrarier schreiben! Die braven Junker, die über die Landflucht der Land- arbeiter zetern, werden nur zu oft von dem Großstadtheimweh befallen, von der Sehnsucht zwar nicht nach den.erdfernen Dach- geschossen" und den.sonnenlosen lustarmen Kellerwinkeln" der Groß- städte, Wohl aber nach der parfiimgeschwängerten Luft der exklusiven Kabaretts und Bariütüs, nach den lauschigen juponknisternden Winkeln der Chambres separös. Doch wir wollen davon nicht einmal sprechen. Wohl aber steht eS gerade der Junkerpresse seltsam an, daS moderne.Ackerheimweh" zu besiegen. Waren es doch gerade dieVorsahren unserer heutigen ackergesegneten EdelstenundBesten.diefeinerzeitdieBauernvon Hof und Scholle getrieb'enl Waren es doch gerade die Herren Junker, die, als die Zeiten des Faustrechts durch das Erstarken der Fürstenmacht verschwunden, imBauernlegen", d. h. in der Enteignung der Bauern, so Hervorragendes leisteten. Waren es doch gerade die Vorfahren der Leser der.Deutschen Tageszeitung", die noch in der Aera der Bauernbefreiung den Grundsatz aufstellten und durchsetzten, daß die Bauern, nm den feudalen Fronden und Lasten ledig zu werden, ein Drittel ihres Besitzes an den Junker abzutreten haben I Die solchermaßen beraubten Bauern mögen vübt wenig.Ackerheimweh" empfunden haben! Der Artikel der.Deutschen Tageszeitung' atmet völlig den Bismarckschen Erzjunkergeist der Großstadtfeindschaft. Auch Bismarck hätte am liebsten die Großstädte dem Erdboden gleichgemacht gesehen nicht um den vom Junkertum Enteigneten wieder zum Landbesitz zu verhelfen, sondern aus Ingrimm gegen die Frucht deS JndustriealismuS, das moderne sozialistische Proletariat! UebrigenS wollen wir dem Oertel- Organ verraten, daß auch der Sozialismus die kapitalistische Scheidung zwischen Stadt und Land aufzuheben trachtet. So schreibt Friedrich Engels in seinem Antt-Dühring: Die Aufhebung der Scheidung von Stadt und Land ist also keine Utopie, auch nach der Seite hin. nach der sie dw möglichst gleichmäßige Verteilung der großen Industrie über das ganze Land zur Bedingung hat. Die Zivili- sation hat uns freilich in den großen Städten eine Erbschaft hinterlassen, die zu beseitigen viel Zeit und Mühe kosten wird. Aber sie müssen und werden beseitigt werden, mag es auch ein langwieriger Prozeß sein. Welche Ge- schicke auch dem Deutschen Reich preußischer Nation vorbehalten sein mögen, Bismarck kann mit dem stolzen Bewußtsein in die Grube fahren, daß sein Lieblingswunsch sicher erfüllt wird: der Untergang der großen Städte." Freilich erstrebt der Sozialismus die Sttllung des.Acker- Heimwehs" nicht auf agrarischem Wege, sondern durch Bc- sdtigung deS kapitalistischen Systems, das erst diesonnenlosen lustarmen Kellerwinkel der Großstädte" geschaffen hat, durch Ex- propriation der Expropriateure, in erster Linie auch des land- räuberischen, brot- und fleischwucherischen Junkertums! Offiziöse Kaltwasscrstrahlen. Herr Naumann hat in seiner Jungfernrede im Reichstag das Mitbestimmungsrecht der organisierten Arbeiterschaft auf die Produktion gefordert. Trotzdem Herr Naumann sich während und nach der Wahl als getreue st er Bundes- genösse des neuen Regierungsblocks bewährt hat, fühlt sich die N o r d d. A l l g e m. Z t g." veranlaßt, gegenüber denidealen Phantasiegebilden" Naumanns zu erklären, daß diese Phantasie- gebildenicht unwesentliche Korrekturen seitens der erfahrenen und nüchternen Männer der Praxis erfahren" müßten. Die.Hausherrn- freiheit des Unternehmertums" müsse unbedingt gewahrt bleiben I Einen ähnlichen Rüffel erteilt daS offiziöse Organ Herrn N a u- mann wegen seiner Ausführungen auf demDelegiertentag deS Wahlvereins der Liberalen". Die Erklärung Nau- mannS, der Kampf des entschiedenen Liberalismus müsse am letzten Ende nach rechts, nicht nach links geführt werden, sei nur ge- eignet, den Eindruck einer gewissen.Ziellosigkeit, Selbst- Überschätzung und Zerfahrenheit" des Liberalismus zu erwecken. Auch diese Aeußerungen des offiziösen Organs beweisen, daß die Regierung gar nicht daran denkt, dem Liberalismus irgend welche Zugeständnisse machen zu wollen I Die Ersatzwahl in Glauchau -Meerane . Das durch den Tod des Genossen Auer erledigte Reichstags- mandat erfüllt die Scharfmacherkreise bereits mit neuen Sieges- Hoffnungen. Man hält es nicht für ausgeschloffen, daß dies Mandat der Sozialdemokratie entrissen werden könne. Wenn Auer auch mit einem Borsprung von mehr als 3000 Stimmen gesiegt habe, so hätten sich doch am 2S. Januar auch zirka 3000 stimmberechtigte Wähler der Abstimmung enthalten. Es sei deshalb wohl möglich, daß durch eine.konzentrierte Agitation", für die nicht nur die bürgerliche» Parteien, sondern auch der Reichsverband zur Verleumdung der Sozial- demokratie diegeeignetsten Kräfte" mobil zumachen habe, die Wahlfaulen" an die Urne zu bringen seien und der Sozial- demokratte das Mandat entrissen werden könne. Die Sozialdemokratte wird es ihrerseits an Ansttengungen nicht fehlen lassen, die Siegestrunkenheit der durch die Hottentotten« wählen in einen Siegestaumel versetzten Bourgeoisie zuschandcn zu machen!_ Der Oberpräfident als Reblaus. Auf dem Ständeessen des rheinischen ProvinziallandtagcS hatte der Oberpräfident der Rheinprovinz , Freiherr v. Schorlemmer, sich darüber beklagt, daß er im Wahlkampfe von ZentrumLseite mit einer Reblaus verglichen worden sei. In einer Zuschrift derKölnischen Volkszcitung" von der Mosel wird hervor- gehoben, daß dieser zoologische Vergleich nicht dernationalen" Tätigkeit des Herrn v. Schorlemmer gelte, wie man im Kreise Bern- kastel , der Heimat des Obcrpräsidentcn, ganz genau wisse.Vor langer Zeit schon wurde diese Bezeichnung scherzhaft einem dem Oberpräsidenten genau bekannten Herrn wegen seiner zahl- reichen Erwerbungen von Weingelände beigelegt. Der jetzt verstorbene Herr wußte das genau und nahm mit Humor davon Kenntnis; er hat schon einen angebotenen Kauf abgelehnt mit dem Bemerken: er sei ja schon ohnehin die.Reblaus an der Mosel ". Daß dann der Kosename auf dem Wege der Erbschaft in Gebrauch geblieben ist, mag schon sein. Der Mosellauer sieht es ebensowenig gern, wenn die besten Grund st ücke und der größte Teil der Liegenschaften nach und nach an irgendeine geldmächtige Herrschaft übergehen. Argwöhnisch betrachtet er den Großgrundbesitzer mit seinen vielen Erwerbungen als eine Gefahr; der Ver- gleich mit dem Schädling entspringt dem berechtigten oder un- berechtigten Unmut, den der Kleinbauer nun einmal empfindet über den wirklichen oder vermeintlichen Schaden, der ihn trifft. Doch braucht das nicht so bös, und vor allem nicht beleidigend ge- meint zu sein. Einen politischen Beigeschmack hat es ganz und gar nicht. Wer Land und Leute kennt, für den ist es ausgcschloffen, daß an der Mosel ein Redner mit derReblaus" die politische Tätigkeit des Oberpräsidenten treffen wollte." In diesen Ausführungen steckt ein gut Teil Bosheit. Herr v. Schorlemmer ist nämlich der Schwiegersohn und als solcher der Erbe des verstorbenen Wcingutsbesitzers Puricelli, dessen einzige Tochter er geheiratet hat. Puricelli genoß an der Mosel keinen guten Ruf, weil der geldmächtige Mann das Auskaufen der kleinen Winzer gewerbsmäßig betrieb und sich infolgedessen den Vergleich mit dem Weinberge verwüstenden Insekt gefallen lassen mußte. Der alte Puricelli hat denKosenamen" mit mehr Humor ertragen als sein frciherrlicher Schwiegersohn, für den. wie das Zentrums- blatt bemerkt, der Vergleichauf dem Wege der Erbschaft in Gc- brauch geblieben ist".--- Der heilige Paasche als Rclchsschatzsekretariats-Kandidat. DieKölnische Volkszeitung" stellt den Rücktritt des derzeitigen Reichöschatzsekretärs v. Stengel für den Herbst in Aussicht. ES sei eine abermalige Sanierimg der Reichsfinanzen un- umgänglich. Da aber der jetzige Leiter des Reichsschatzamtes kaum große Lust haben werde, die dornenvolle Aufgabe, schon wieder neue Steuern zu vertreten, nochmals zu übernehmen, so dürste also ein Nachfolger ein in Steuer- und Finanzsragen besonders gewandter Parlamentarier der nationalen Mehrheit in Frage kommen. Eben Herr P a a s ch e I Das Steuerprogramm des neuen Reichsschatzamts- kandidaten bestehe in der Beseitigung der Branntweinliebesgabe und in einer höheren Besteuerung des Tabaks. Allerdings sei es fraglich, ob die Beseitigung der Branntweinliebesgabe d,e Luttimmuna der Rechten und die Erhöbuno der Tabaksteuer die Zustimmung der Freisinnigen B olkspartei finden würde Die Stellung des neuen Letters des Reichsschatzamtes werde also eine keineswegs angenehme sein. Es ist allerdings äußerst wahrscheinlich, daß die ewige Defizit» Wirtschaft des Reiches, die durch dieSanierung" der Reichsfinanz» keineswegs behoben ist, Herrn von Stengel fein Amt nur zu bald verleiden dürfte. Ebenso wahrschemlich ist es. daß auch ein national liberaler Nachfolger des Herrn v. Stengel kaum in der Lage sein dürfte, eine wirkliche Reichssinanzreform zur Zustiedenheit der heterogenen Elemente des derzeitigen RegierungS- blocks durchzuführen._ MauserungSillusionea. Einige Zentrumsblätter haben in den letzten Tagen die Legende verbreitet, daß die sozialdemokratische Reichstags- fraktion, diebisher das heilige Feuer der marxistischen Lehre am treulichsten gehütet", sich für einerevisionistische Politik" ent- schieden habe und künftig nicht mehr..dem blinden Draufgängertum huldigen, sondern nur ernste Arbeit leisten" wolle. Freisinnige Blätter drucken diese Zeitungsente mit Behagen nach. Leider ist wieder einmal der fromme Wunsch der Vater dieser kindlichen Illusion gewesen. Selbstverständlich wird die neue sozialdemokratische Reichstagsfraktion ebensowenig auf ernste Arbeit verzichten, wie ihre Vorgängerin. Aber von dem, was die Zentrums- und Frei» sinnspresse alsblindes Draufgängertum" bezeichnet, dem sozialistischen Klassenkampfprinzip, wird natürlich die neue Reichstagsfraktion auch nicht um Haaresbreite abweichen. Preußischer Fiskalismus. Einen netten Beitrag zur Charakteristik deS preußischen Fiskalismus weiß dieFranks. Ztg." zu melden: Am 18. Oktober erließ der preußische Justizminister eine neue am 1. Januar 1007 in Kraft getretene Geschäftsordnung für die Gerichtsschreibereien der preußischen Amtsgerichte, die neben manchen sehr verständigen und zweckmäßigen Bestim- mungcn auch eine Anordnung enthält, die wegen des ungemein kleinlichen Fiskalismus wohl verdient der Oeffentlichkeit unter- breitet zu werden. Während bisher für alle Straf- und Zivil- Prozesse sofort nach Eingang des ersten Schriftstücks, also Er- Hebung der Klage, feste Aktcnbände angelegt werden mußten, ist das in Zukunft nicht statthaft. Für alle eingehenden Klagen sind vielmehr Blattsammlungcn anzulegen, in deren dünnen Hülle alle eingehenden Schriftstücke lose aufbewahrt werden müssen. Nur wenn die Blattsammlung nach auswärts, etwa zu Zeugenvernehmungen versandt werden muß, oder mehr als 10 OrdnungS nummern(d. h. Schrift- sätze) eingegangen sind, darf die Hülle geheftet werden. Daß damit in kleinlicher und kümmerlicher Weise gespart werden soll an den Aktendeckeln und an dem Lohn für das Einheften. dieser Verdacht lag nahe, er wird zur Gewißheit dadurch, daß in ganz Preußen seit kurzem von den Landgerichtspräsidenten an die Amtsgerichte Anfragen ergehen, wieviel schon durch die neue Einrichtung gespart sei. Die neue Bestimmung bedeutet gegen früher zweifellos einen ganz bedenklichen Rückschritt. Wie leicht können bei dem häufigen Hin- und Hertragcn dieserfliegenden Blätter". amtlichBlattsammlungen" genannt, aus der GerichtSschreibcrci in das Sitzungszimmer, von diesem in die Wohnung des Richters und wieder zurück, wichtige von den Parteien zu derBlatt- sainmlung" überreichte Urkunden, Verträge, Briefe, Vollmachten und dergleichen mehr verloren gehen! Man kann den Parteien wirklich nur raten, in Zukunft mit Ueberrcichung wichtiger Originalurkunden, die nur in einem Exemplar existieren, äußerst vorsichtig zu sein und nur noch Abschriften zu überreichen wenigstens so lange als die Blattsammlung noch nicht 10Orb- nungsnummern" aufweist. Der Schutz der Deutschen im Ausland. Ueber den von uns vor einigen Tagen berichteten Angriff russischer Polizisten auf einen deutschen Reichsangehörigcn werden derVoss. Ztg." aus Riga noch folgende Einzelheiten gemeldet: Ein Herr R. Rittiughaus ist von einem Polizcipristawsgchülfen ganz ohne Verschulden durch vier Schüsse verwundet worden. Der Polizeibeamte hatte den Auftrag erhalten, in der Wohnung eines Juden, der politischer Umtriebe verdächtig war, eine Haussuchung vorzunehmen. Als er diesen Auftrag in der Nacht vom Sonnabend. auf Sonntag ausführen wollte, war er nach Aussage von Zeugen bc- trunken. Er kam mit seiner Patrouille an eine falsche Adresse und drang in den Hof der Fabrik von Rückvart u. Wagner ein, in der Herr R. NittinghauS als Meister tätig ist, und wo er auch seine Wohnung hat. Es war zwischen 2 und 3 Uhr nachts. Der Pristaws- gehülfe verlangte lärmend Einlaß in die zu ebener Erde gelegene Wohnung deS Herrn Rittinghaus. Dieser lag im Schlafe. Seine Frau eilte zur Tür und fragte, wer da sei. Sie erhielt eine russische Antwort, die sie nicht verstand. Sie glaubte, daß es sich um einen Ucberfall handle, zumal da sie nur das drohende Gepolter hörte, in der Dunkelheit durch daS Fenster aber die Uniformen der Poli- zisten nicht erkennen konnte. Sie öffnete die Tür nicht und rief ihren Mann herbei. Tie Polizisten schlugen unterdessen das Fenster und alsbald auch die Türfüllung ein. Dadurch wurde Herr Ritting- haus in der Vermutung bestärkt, daß er Einbrecher oder Terrc- risten vor sich habe. Er versuchte, die Tür zu verbarrikadieren, aber der Pristawsgehülfe gab durch die zertrümmete Tür ohne weiteres schnell hintereinander 15 Schüsse in das Zimmer ob. Herr Rittinghaus wurde von vier Kugeln getroffen, glücklicherwesse nicht schwer. Die Polizisten drangen hierauf ein und erklärten, fie hätten den Auftrag, bei dem Juden T eine Haussuchung vorzu- nehmen und ihn zu verhaften. Obgleich Herr Rittinghaus seinen Namen nannte und darauf hinwies, daß offenbar ein Mißverständnis vorliege, durchwühlten die Polizisten mehrere Stunden lang die gange Wohnung und hinterließen sie, als sie endlich um 10 Uhr morgens abzogen, in einem fürchterlichen Zustande. Herr Ritting- haus wurde mit einem Sanitätswagen ins Krankenhaus gebracht. Herr Rittinghaus hat, wie das freisinnige Blatt berichtet, sofort beim deutschen Generalkonsul Dr. Oihnesseit Beschwerde ge­führt, der seinerseits energisch beim Gcneralgouvcrneur Aufklärung gefordert hat. Auf das Endresultat kann man neugierig sein. Bisher hat die deutsche Regierung wohl die Rechte deutscher Rcichsangehörigen gegenüber Staaten von der Bedeutung Haitis , Nicaraguas usw. geschützt das Zarenreich aber ist der alte Erbfreund der preußischen Monarchie._ StaatsmänuischcS aus Sachsen -Altcniurg. Man erinnert sich noch von, Jenaer Parteitag her, daß die Regierung des Herzogtums Sachsen-Altenburg in ihrem Bemühen. die Sozialdemokratie zu bekämpfen, vor keiner Blamage zurückschreckt. Den Parteitagsdelegierten wurde das Betreten der Leuchtenburg bei Kahla verboten, weil die Behörden mit denroten Brüdern" nichts gemein haben wollten. Inzwischen ist noch mancher Streich, der auf demselben Konto zu buchen ist. verübt worden. Nun liegt ein neuer Fall vor. DemJenaer Volksblatt" wird aus Kahla vom 10. April berichtet: Wegen Zugehörigkeit zur sozial de mokrati- scheu Partei sollen die G e m e i n d e ä l t e st e n(die in Ver­hinderungsfällen den Gemeindevorsteher zu vertreten haben) der Gemeinden Löbschütz und L i n d i g ihres Amtes enthoben werden. Den betreffenden wurde dieser Beschluß am Montag vom herzoglichen Landrat v. Kropfs in Roda mitgeteilt mit der Begründung, daß sie als sozialdemokratische Agitatoren das Wohl der Gemeinde nicht vertreten können.