Der Wahlkamps in Glauchau -Meerane . Durch die perfide Kompfesweise unserer Gegner sind nunmehr die Gemüter glücklich bis zum Siedepunkt erhitzt. Die Gegner Der- leumden in einer nie dagewesenen Art. Eine ganze Schar von Rednern. ReichSverbändler. Christlichsoziale usw., treibt sich im Wahlkreis herum. Unsere Genossen meiden die gegnerischen Ber. sammlungen, denn sie find dort vor Provokation und anschließender Denunziation nicht sicher. So sprach der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Dr. E v e r l i n g in Lichtenstein in einem fast 3000 Personen fassenden Saal vor 49 Besuchern! Die Wut der Gegner darüber kennt keine Grenzen. Sie besuchten nun unsere Versammlungen, speziell der Kandidat Dr. Clauß ging stets dem Genossen Molkenbuhr nach. Däbei traten diese Leute in unerhört provozierender Weise auf. Bebel sprach am Sonntag in Glauchau . Diese Versammlung sollte zur Auf- lösung gebracht werden, zu welchem Zweck sich die Gegner einen angeblichen„Müller aus Dresden " gedungen hatten, der Bebel in der unflätigsten Weise persönlich beschimpfte. Mit Mühe und Not konnte die Auflösung vermieden werden. Nun haben die Gegner Sprengkolonnen gebildet. Der Versuch, am Montagabend eine Versammlung in Meerane , wo Dr. David sprach, zu sprengen. mißlang. Desto besser glückte es in dem Dorfe Rothenbach bei Glauchau , wo Stück len reden sollte. Eine halbe Stunde vor Beginn der Versammlung erschien der angebliche„Redakteur Müller aus Dresden " in Begleitung eines Schuldirektors, eines Gerichtsbeamten, einiger Lehrer, eines Herrn Pfefferkorn(Teil- haber der Spinnerei Pfefferkorn u. Co.) sowie noch einiger anderer Personen der gebildet sein wollenden Stände. Kaum hatte der Ein- berufer das Podium betreten, als auch der Ehrenmann„Mülle r" an der Bühne erschien und in barscher Weise erklärte, daß er das Wort verlange. Nach der Bureauwahl stellte er dasselbe Verlangen in unerhört dreister Weise an den Vorsitzenden. AIS Stückle n den Burschen darauf aufmerksam machte, daß er nach seinem Verhalten hier in Glauchau überhaupt nichts zu fordern habe, brüllte er diesem entgegen:„Halten Sie das Maul! Mit Ihnen rede ich überhaupt nicht." Die Empörung der Versammlung wuchs von Minute zu Minute, der Mann provozierte weiter. Vor dem Podium stehend, brüllte er unausgesetzt:„Zur Geschäftsordnung!" Der über- wachende Beamte steht auf und droht mit Auflösung der Bersamm- lung. Der„Müller" geht zu seinen Begleitern und brüllt dort weiter. Der Versammlung hat sich eine ungeheure Auf- r e g u n g bemächtigt. Als Stücklen zu sprechen anfing, tobte der Mensch wie besessen, sein Gebrüll muß man auf der Straße gehört haben, fast gewann es den Anschein, daß man es mit einem Wahn- sinnigen zu tun habe. Mit großem Gleichmut sahen seine Begleiter dem Treiben zu, bis er nach einigen Minuten seinen Zweck ereicht hatte�— Der Unberwachenbe löste die Versammlung auf. Stürmische Rufe der Verwünschung, gegen den„Müller" ge- richtet, erschollen aus Hunderten von Kehlen, und was macht er? Er setzt den Hut auf, nimmt den Stock in die Hand, steckt die Zigarre in den Münd und verlacht und verhöhnt die empörte Menge. Die Absicht dieses Menschen war klar, er wollte an- gegriffen, mißhandelt werden, dann hätte das Preßgesinde des Dr. Clauß in die Welt hinausposaunt:„Die Sozialdemokraten haben einen nationalgesinnten Mann miß. handelt." Stücklen erkannte das Gefahrdrohende der Situa- tion. sprang vor und, nachdem einen Moment Ruhe eingetreten war, bat er die Menge eindringlich, kaltes Blut zu bewahren. Das wirkte. Der Gendarm begleitete „Müller" aus dem Saal hinaus; dann skanbalierte er in der Gast- stube so lange, bis ihn der Wirt hinausschob. Nur lang- sam legte sich die Empörung der Leute, die gekommen waren, einen Vortrag zu hören und nun durch diesen Krakehler um ihre Absicht betrogen waren." Diese Bersammlungssprengungen sollen weiter fortgesetzt wer, den, weshalb unsere Genossen eine besondere Versammlungspolizei organisiert haben, die solche Elemente glatt an die frische Luft befördert. Genosse Bebel hat außer mit einer Versammlung auch noch Mit einem Aufruf zugunsten Molkenbuhrs gewirkt. In diesem Aufruf sagt er: „Hermann Molkenbuhr hat sich während seiner Mit- glicdschaft im Reichstage sowohl in diesem wie im Bundesrat den Ruf erworben, einer der besten Kenner unserer A r b e i te r v e r s i cher un g s- und Sozialgesetzgebung zu sein. Er hat durch seine Sachkunde und die objektive Behandlung der einschlägigen Fragen großen Einfluß auf die Gestaltung der betreffenden Vorlagen in den Kommis- sionen wie im Plenum des Reichstages ausgeübt und eine Reihe nicht unwesentlicher Verbesserungen durchgesetzt. Als im Jahre 1892 die Kommission für Arbciterstatistlk ins Leben gerufen wurde, ernannte die sozialdemokratische Fraktion Molkenbuhr zu ihrem Vertreter in derselben. Und als diese Kommission vor einigen Jahren in den Beirat für Ar- beiterstatistik umgewandelt wurde, blieb er auch Vertreter der Fraktion in diesem und hat hier, wie selbst seine politischen Gegner anerkennen, ebenfalls erfolgreich gewirkt. Als dann vor drei Jahren von feiten der Reichsregierung eine Kommission niedergesetzt wurde zur Prüfung des Kartell- wesenS in der Großindustrie, ernannte die sozial- demokratische Fraktion ihn auch für diese Kommission zu ihrem Vertreter und hat er an deren Arbeiten abermals den fleißig- st e n und sachkundigsten Anteil genommen. Die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages sah eben in Molkenbuhr den Mann, der für die erwähnten Aufgaben sich be- sonders eignete, und er hat das in ihn gesetzte Vertrauen nie getäuscht." , Die Empörung unter den Wählermassen ist eine ungeheure, das Verhalten der Nationalliberalen findet selbst in bürgerlichen Kreisen Verurteilung. DaS Mandat Auers. wird unS nicht entrissen werden! � Ministerwechsel in Baden. Ueber den nicht freiwillig erfolgten Austritt des Mnisters Schenkel aus dem badischen Ministerium und seine Ursachen wird uns aus Baden geschrieben: Der Rücktritt der Exzellenz Schenkel kam, soviel auch bereits über die Sache geschrieben worden ist, doch überraschend. Ueber die Ursachen gehen die Meinungen in der bürger« lichcn Presse stark auseinander. Die einen, Zentrum und Konservative, suchen' sie in der Parteikonstcllation bei den letzten Landtagswahlen, indem sie Herrn Schenkel — ganz gegen die Wahrheit der Tatsachen— als Vater des liberalsozialistischen Stichwahlkompromisses bezeichnen, und in dem Ausfall der jüngsten R e i ch s t a g s w a h l e n. wo er es versäilmt habe, die Einigung des Gesamtbürgertums gegen die Sozialdemokraten zu fördern. Andere wieder schieben als Ursachen der Ausschiffung Schenkels aus dem Ministerium v. Dusch Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Schiff- fahrtsabgaben und die bekannten Differenzen mit dem Bor - stand der Fabrikinspektion Dr. Bittmann in den Vordergrund. Am meisten Glauben findet Wohl die Version, daß bezüglich der Finanzpolitik des badischen Staates die Harmonie der Regierung durch Herrn Schenkel gestört wurde. Er habe— heißt es— im Gegensatz zum derzeitigen Finanzminister Hansell der Deckung außerordentlicher Staatsausgaben durch Anlehns- mittel das Wort geredet, also die. Finanzpolitik der großen Städte auf den Staat zu übertragen versucht, während die herrschende Richtung im Ministerium bei dem alten System der Befriedigung solcher Bedürfnisse aus den laufenden Wirtschaftsmitteln beharren wollte. So sei es auch in der Frage der Erhöhung der Beamten- gehälter zu Differenzen gekommen, indem Herr Schenkel für diesen Zweck größere Summen bereitzustellen verlangte, als die„Sparer" der alten finanzpolitischen Richtung ihm gewähren wollten. Hinsichtlich der Bedeutung der Ausschiffung Schenkels für die künftige Richtung der inneren Politik des Lances geht die allgemeine Auffassung der Presse dahin, daß wohl mit einem Beharren im derzeitigen Kurs zu rechnen sei, wenn auch da und dort von einem„Ruck nach rechts" gesprochen wird. Herr v. Bodman », der von der Leitung des Wasser- und Straßen- baues weg als Nachfolger Schenkels berufene ehemalige Bundesratsbevollmächtigte Badens, wird als liberaler Politiker bezeichnet, so daß die Partei Bassermanns allen Grund habe, ihm volles Vertrauen entgegen zu bringen. Er werde— meint beispielsweise die„Straßb. Post"— die Politik seines Vorgängers sicherlich fortsetzen; insbesondere erwartet man von ihm, daß er die Organisation der inneren Ver- w a l t u n g des Landes, die in vielen Beziehungen nicht mehr den Anforderungen der modernen Zeit entspricht, auf eine neue Grundlage stellt. Die Mannheimer „Volks stimme" beurteilt den Ministerwechsel folgendermaßen; „Wir Sozialisten werden der„kleinen Exzellenz" keine Träne nachweinen. Denn trotz zeitweiliger in der Form konzilianter Sympathiebezeugungen für die Arbeiterklasse war Schenkel im Innersten seines Herzens— und als treuer Diener seines Herrn war das ja auch seine Pflicht!— ein erbitterter Feind der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die be- rüchtigten Spitzelerlaffe an die Bezirksäinter zur politischen AuS> schnüffelung der Relruten; die schroffe Kriegserklärung an unsere Partei aus Anlaß der Kräuterschen Kammerrede im Interesse der Freiburger Polizeiunterbeamten im März v. I., wobxi es, wie er- innerlich, zu einer stürmischen Gegenkundgebung der Sozialisten kam; die Prügel, die er in der letzten Zeit dem Vorstand unserer Fabrikinspektion, Dr. Bittmann, zwischen die Beine warf, um ihn den Wünschen der Scharfmacher und sozialpolitischen Reaktionäre gefügig zu machen; die Hartnäckigkeit' im Widerstand gegen die Einführung eines gerechteren Wahlsystems für die Gemeinde- Vertretungen; die schmähliche Verleugnung jedes freiheitlichen und volkstümlichen Verwaltungsgeistes anläßlich der internationalen Sozialistenzusammenkunft in Konstanz im August 1905, wie auch anläßlich der Behandlung der Beschwerden gegen die Schäfereie» bei der Mannheimer Pernerstorfer-Versammlung und den Kund- gebungen am„roten Sonntag"— all das und manches andere dokumentierte die illiberale Polizeiseligkeit des verflossenen Ministers und seinen Mangel an Verständnis für die politischen und sozialen Bedürfnisse der aufftrebenden Arbeiterklasse." Der blamierte Reichskanzler. Ueber den Ausgang des Prozesses gegen den verantwortlichen Redakteur der„Frankfurter Zeitung " haben wir gestern bereits kurz berichtet. Wir lassen heute den Bericht über die Verhandlung vom Dienstag folgen. Für die Behauptung, � daß das Flugblatt bereits am Abend vorher gelesen worden sei, wolle der Angeklagte den Beweis der Wahrheit antreten. Als Zeuge hierfür wurde der Schlosser- meister Dalquen vernommen. Dieser will am Wend vorher im Gallussaal in der Mainzer Landstraße ein Paket gesehen haben, auf welchem ein ähnlich aussehendes Flugblatt geklebt war! Die Stichworte wie„Stimmenfang" oder Stimmenkauf", und auch die Aufforderung„Wählt Dr. Quarck" habe er sich genau gemerkt. Als dann das Flugblatt verteilt worden sei, habe er seine Wahr- nehmungen einem Herrn Blattner mitgeteilt. Dieser habe ihn auf die Redaktion der„Frankfurter Zeitung " geschickt, und dort habe er erklärt: Das Flugblatt habe ich. wenn ich nicht irre, bereits gestern abend gesehen. Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Löwenthal erklärte der Zeuge: Dem Redakteur Dr. Goldschmidt habe er gesagt: Er wisse nicht genau, ob er„Stimmenkauf" oder „Stimmenfang" gelesen hätte. Zeuge Tapezierer Wilhelm Häscher, der dem Partei- sekretariat die Mitteilung von dem versuchten Stimnienkauf über- brachte, ist einmal wegen einer Schießerei in der Neujahrsnacht mit einer kleinen Geldstrafe vorbestraft und nicht, wie die„Frank- furter Zeitung" behauptete,„ein häufig vorbestrafter Mensch." Er hat sich in der Bendergasse mit einem Kollegen über die Wahl unterhalten und erklärt: Er wähle Dr. Ouarck. Es sei dann ein feingekleideter Herr zu ihm gekommen und habe gesagt: „Wenn Ihr Oes« wählt, gebe ich Euch 10 Mark." „Was will der?" habe sein Kollege ihn gefragt. Der feine Herr sei aber auch schon verschwunden gewesen.„Ich war momentan so verblüfft," meinte unter großer Heiterkeit der zahlreich anwesenden Zuhörer der Zeuge,„daß ich die 10 M. gar nicht genommen habe!" Der Zeuge bestätigte auf Befragen Dittmanns, daß er aus dem Parteibureau ganz genau, unter Stellung von Kreuz, und Quer- fragen, ausgefragt worden ist. Der feine Mann habe ihm 10 M. geboten, wenn er Oeser wählen würde. Der Vorsitzende machte nochmals einen Verglcichsvorschlag: Die Wahl sei doch jetzt vorbei und die Gemüter hätten sich auch wieder beruhigt. Genosse D i t t m a n n betonte, es handele sich für ihn nicht um eine hohe Bestrafung des Redakteurs, sondern nur um die gerichtliche Feststellung, daß das Flugblatt nicht, wie behauptet worden sei, am Tage vorher gedruckt wurde. In der hiesigen Gegend sei die Bülowrede vom Reichslügcnverband in 490 000 Exemplaren verteilt worden. Der Reichskanzler habe ihn vor dem ganzen Volk beleidigt und trotz einer Richtigstellung die! Beleidigung nicht zurückgenommen. Es folgte noch die Vernehmung des Arbeitersckretärs Genossen Heiden als Zeuge: Mit dem Manuskript habe er später Dittmann in der Druckerei von Benno Schmidt getroffen. DaS Flugblatt kann erst nach 11 Uhr vormittags gedruckt worden sein. Nach der Vernehmung dieses Zeugen rät der Vorsitzende dem Angeklagten unter allen Umständen zu einem Vergleich. Klarheit herrsche doch jetzt darüber, daß das Flugblatt erst am Stichwahltage gedruckt worden sei. Der Vergleich scheiterte an der Hartnäckigkeit dcS Beklagten. Er loollte nur erklären, daß seine Behauptungen nicht er- miesen sind!— Auch dem Reichskanzler will er keine Mitteilung davon machen.—>— Es folgten die PlaidoherS: Rechtsanwalt Dr. L ö w e n t h a l: Mein Mandant würde wohl kaum geklagt haben, wenn ihm der erste Beamte des Reiches, Reichskanzler Fürst v. Bülow, im Reichstage nicht vorgeworfen hätte, daß er eine bewußte Unwahrheit in die Welt gesetzt und schon am Tage vorher geschrieben hätte, was am nächsten Tage passiert sei. Der Vorwurf ist unbegründet. Es ist durch Zeugen. Vernehmung erwiesen-, daß das Flugblatt erst am Wahltage, bor - mittags gegen 10 Uhr, geschrieben und' gedruckt wurde. Auf die Stimmenkaufsaffäre will ich nicht weiter eingehen, obwohl dt« Sache so liegt, daß der Zeuge Häscher— dem ja fälschlicherweise von der Verteidigung borgeworfen wird, er sei schon im Zuchthause gewesen, während er nur eine einzige Vorstrafe von 20 M. hat— »nter Eid ausgesagt hat, daß ihm 10 M. angeboten worden seien, wenn er Oeser wähle. Der Verteidiger des Beklagten, Rechtsanwalt Dr. Hertz, führte aus, der Angeklagte habe in gutem Glauben gehandelt und eS müsse ihm der§ 193 fWahrnehmung berechtigter Interessen) zugebilligt werden. Er bitte um Freisprechung. Nach der Beratung verkündete der Vorsitzende das von unS bereits gestern laut Telegramm wiedergegebene Urteil: Der Angeklagte ist der öffentlichen Beleidigung schuldig und wird zu 390 M. Geldstrafe verurteilt. Ferner muß er auf seine Kosten das Urteil im„R e i ch s a n z e i g e r" und in der „Frankfurter Zeitung " publizieren. In der Begründung heißt es, die im Flugblatt enthaltenen Tatsachen seien als richtig anerkannt worden, obschon dem Gericht die Möglichkeit nicht gegeben war, die Stimmenkaufsgeschichte ganz aufzuklären. Der Kläger Dittmann konnte den Angaben des Zeugen Häscher Glauben schenken. Es habe sich herausgestellt, daß die Angaben des Zeugen Dalquen auf der Redaktion der„Frank- surter Zeitung" unrichtig sind. ES ist erwiesen, daß das Flugblatt er st am Vormittag des Stichwahltages gedruckt worden sei. Der Angeklagte sei, als er den Artikel ge- schrieben habe, der Meinung gewesen, daß die Angaben Dalquens richtig seien. Es sei außerdem zu berücksichtigen, daß der Vorgang sich während des Wahlkampfes abgespielt habe. Auch sei es be- danerlich, daß die Sache im Reichstage zur Sprache gekommen sei. Die Form des Artikels sei beleidigend; darum war, wie geschehen, zu erkennen. «„» Wenn Bülow wirklich der„seine Mann" ist, als den er sich so gern gibt, dann wird er nun doch endlich an der Stelle, wo er unseren Genossen Dittmann so schwer beleidigte, ein Wörtlein der Entschuldigung finden. �_ Klassenjustiz. In der Montagssitzung des Reichstages hat der freisinnige Ab» geordnete Müller- Meiningen behauptet, Genosse Heine habe über den Nürnberger Krawallprozeß völlig einseitig nach dem „Vorwärts" berichtet. Der„Arbeitswillige" Thiel habe lediglich in Notwehr gehandelt, wie selbst mehrere am Streik beteiligte„Rädels- führer" anerkannt hätten. Zu diesem leichtfertigen Geschwätz des redseligen Herrn Müller wird uns aus Nürnberg geschrieben: „Nicht die Darstellung des Genossen Heine war einseitig. sondern die des Abgeordneten Müller- Meiningen ; denn der „Vorwärts", und mit ihm die übrigen sozialdemokratischen Blätter, haben über den Prozeß einen streng sachlichen und aus- führlichen Bericht gebracht. Der Bericht enthielt alle Zeugen- aussagen, auch diejenigen, die für die Angeklagten ungünstig lauteten. Ander? war es um die Berichterstattung der bürgerlichen Presse bestellt. Zu dem Prozeß hatte nur der freifinnige„Fränkische Kurier" einen Vertreter entsandt, der zugleich auch die übrigen bürgerlichen Lokalblätter mitversorgte. Auf den Bericht des „Fränkischen Kurier" hat sich nun Dr. Müller- Meiningen bei seinen Ausführungen im Reichs» tage gestützt. Dieser Bericht brachte jedoch nur die Behauptungen der Anklageschrift und des staatsanwaltschaftlichen PlaidoyerS, sowie die Aussagen einiger Arbeitswilliger, die die Angeklagten be- lalasteten, während die günstigen Aussagen und das, waS die Arbeitswilligen zugunsten der Angeklagten zugeben mußten, unter« schlagen wurden. DaS Ergebnis deS Prozesses auf Grund beschworene« Zeugenaussagen war nun daS:„Rädeisführer", von denen Müller. Meiningen spricht, hat eS bei dem Fall überhaupt nicht gegeben. Das Gericht verneinte die Frage auf Landfriedens» bruch und bejahte nur die auf Körperverletzung. Die ganze Geschichte entpuppte sich als eine Prügelei zwischen Streikbrechern und Streikenden, die in ihrer ersten EntWickelung durch das Auftreten der von dem Direktor Maurer aufgehetzten Streikbrecher provoziert war. Es wurde festgestellt, daß schon wochenlang vor dem Zusammenstoß die Arbeitswilligen ohne Anlaß die Streikposten verhöhnt, als Faulenzer. Lumpen usw. bezeichnet und bedroht hatten, und daß ferner der Direktor am Tage de« un» glückseligen Zusammenstoßes sie im Fabrikhofe mit den Worten an- gefeuert hatte:„Geht doch hinaus und haut sie zu- sammen, die Lumpen. Euch geschieht ja doch nichts" usw., sowie, daß am Bormittag dieses Tages in der Fabrik Waffen für die Streikbrecher bereitgestellt wurden. Was nun die Frage anbelangt, ob bei der Erschießung de» Streikführers Fleischmann der Streikbrecher Thiel in Notwehr ge. handelt habe, so ist von einigen arbeitswilligen Zeugen dies aller» dings behauptet worden; die meisten aber zogen es vor, sich über diese Frage überhaupt nicht zu äußern. Andere Zeugen stellten be. stimmt das Vorliegen von Notwehr in Abrede. Für das letztere spricht auch die Tatsache, daß die Schüsse auv einer Entfernung von 10 bis 1b Metern abgegeben wurden, und daß der erste, tödliche Schuß Fleischmann in die Seite traf; ferner, daß nur sechs oder sieben Streikende anwesend waren, während die Streikbrecher, weit über 100 Mann, geschloffen die Fabrik verließen. Herr Müller-Meiningcn hat es so hingestellt, als ob der Mörder Thiel deshalb wieder aus der Haft entlassen worden sei, weil sich aus den Zeugenaussagen ergeben habe, daß er in Notwehr ge- handelt habe. Thiel wurde sofort nach der Mordtat verhaftet, aber schon am nächsten Morgen wieder freigelassen. Ob Notwehr vor- liege, kann bis zu dieser Zeit noch gar nicht festgestellt worden sein. Er mußte eine Adresse angeben, unter der er jederzeit erreichbar sei; benutzte aber die Gelegenheit, um sich„unauffindbar" zu machen, und das Gericht hatihn auch bis heute noch nicht gefunden. Die„Einseitigkeit" der Darstellung ist also ganz auf der Seite des Herrn Müller-Memingen." pohtifchc Clcberlicbt. Berlin , den 24. April 1907. «»de der Etatsberatung. Das preußische Abgeordnetenhaus beschloß heute gegen die Stimmen der Freisinnigen: das Urteil das gegen unsere Parteiblätter rn Düsseldorf und Erfurt »vcgen Beleidigung des preußischen Abgeordnetenhauses gefällt worden ist. g» mäß der ihm gegebenen gerichtlichen Ermächtigung zu publizieren: Die Publikation des Urteils wird den deutschen Arbeitern, die in diesem„Hause der Würde und Ehre" keine Vertretung haben— wegen des Ausdruckes„Haus der Schmach und Sckiande" erfolgte die Verurteilung—, noch einmal ins Gedächtnis rufen, daß von den schweren Vor- würfen, die die unter Anklage gestellten Artikel erhoben, kein einziger widerlegt worden ist, daß die Anklagebehörde sich von der behaupteten„Mitteilung nicht erweislich wahrer Tatsachen" zurückgezogen hat in die uneinnehmbare Festung der formalen Beleidigung, und daß es nur mit Hülle dieses Kunststückchens gelungen ist, ein paar Monate Ge- fängnis gegen zwei unserer Parteigenossen herauszuschinden, die nichts anderes getan hatten, als das Urteil des Volkes über das Dreiklassenparlament zu reproduzieren.
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