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Nr. 10$. 24. Jahrgang. 2. Kilage des Jotrairts" Kerlim WMIt. Sannabend. 11. Mai 1907. Die beleidigte Beuthener Justiz. Die Leser werden sich eines Beuthener Strafkammerurteils erinnern, welches kürzlich im Reichstage zur Sprache kam und nicht nur von unserer, sondern auch von bürgerlicher Seite scharf kritisiert wurde. In dem betreffenden Falle hatte die Straf- kammer in Beuthen in O.-Schl. zwei Ksndcr verurteilt, welche den dummen Streich begangen hatten, Steine auf die Schienen der elektrischen Straßenbahn zu legen. Dadurch ist ein Motorwagen entgleist, und die jugendlichen Uebeltäter, ein Knabe von 12 und ein Mädchen von 13 Jahren, sind wegen Gefährdung eines Eisen- bahntransportes jeder zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden. Das Urteil ist seinerzeit auch in, der Presse, nicht nur in der sozialdemokratischen, abfällig kritisiert worden. Es erregte all- gemeines Aufsehen, daß zwei Schulkinder, die höchst wahrscheinlich nicht wußten, welche Folgen ihr dummer Streich haben konnte, auf ein ganzes Jahr ins Gefängnis gesteckt werden sollten. Unter den Blättern, welche dies Urteil kritisierten, befand sich auch die vom Genossen Heinrich Braun redigierteNeue Gesellschaft". In einem kurzen Artikel, überschriebenJuristischer Kindermord", wird dort das Beuthener Urteil als ein wohl dem Buchstaben des Gesetzes, nicht aber der Menschlichkeit entsprechendes kritisiert. Der Artikel hat in Beuthen gewirkt, aber in anderer Richtung. als es der Verfasser beabsichtigte. Der Landgerichtspräsident und der Erste Staatsanwalt in Beuthen stellten Strafantrag gegen Braun, weil er die Richter und Staatsanwälte, welche an dem Urteil mitwirkten, beleidigt haben soll. Braun stand des- wegen schon einmal vor Gericht. Nachdem er damals versichert hatte, daß es ihm fern gelegen habe, die Beuthener Richter und Staatsanwälte zu beleidigen, ist auf Anregung des hiesigen Straf- kammervorsitzenden angefragt worden, ob die Antragsteller nicht ihren Strafantrag zurückziehen wollen. Inzwischen hat auch dos Gericht in Frankfurt a. M. gegen den Verantwortlichen Redakteur der dortigenVolksstimme" verhandelt, welche den Artikel der Neuen Gesellschaft" ohne jede Aenderung abgedruckt hatte. Der Redakteur derBolksstimme" wurde freigesprochen. Das Frank- furter Gericht erkannte an, daß das Beuthener Urteil zur Kritik herausfordere und der Artikel die Grenzen einer berechtigten Kritik nicht überschritten habe. Dies Urteil ist dem Landgerichts- Präsidenten und dem Ersten Staatsanwalt in Beuthen zugestellt worden, sie haben aber trotzdem ihren Strafantrag gegen Braun aufrechterhalten. Gestern wurde nun die Anklage gegen Braun vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin III verhandelt. Das gesamte Aktenmaterial aus dem Beuthener Prozeß wurde verlesen. Daraus geht hervor, daß während der Hauptverhandlung gegen die beiden Kinder die Frage nicht erörtert worden ist, ob sie überhaupt die Einsicht hatten, daß sie mit ihrem dummen Streich eine strafbare Handlung begingen. Im Vorverfahren hat der Amtsrichter in Myslowitz eine Auskunft anscheinend bei der Polizei über die Verhältnisse der Kinder eingeholt. Der Amts- richter hat die Auskunft erhalten, der Knabe dürfte wohl die zur Erkenntnis der Strafbarkeit seiner Handlung erforderliche Ein- sicht gehabt haben. Bezüglich des Mädchens sind derartige Er- Mittelungen nicht angestellt worden, und was der Amtsrichter über den Knaben erfuhr, das ist in der Hauptverhandlung, soweit die Akten darüber Auskunft geben, gar nicht zur Sprache ge- kommen. Erst nachdem das harte Urteil gefällt war und die Strafkammer das Verfahren bezüglich der bedingten Begnadigung dcS Strafaufschubs in die Wege leiten mußte, wurden Ermittelungen darüber angestellt, unter welchen Verhältnissen die verurteilten Kinder leben. Die Polizei, der Pfarrer und der Schulrcktor wurden befragt. Deren Auskunft ging dahin, daß die Kinder, deren Mutter längst tot ist, v o l l st ä n d i g verwahrlost sind, da der Vater, ein moralisch minderwertiger Mensch, sich nicht um ihre Erziehung kümmert. Der Knabe wird als verlogen und diebisch, das Mädchen als beschränkt bezeichnet, sie habe in acht Schuljahren nur notdürftig die Reife für die dritte Klasse erlangt. Diese Feststellungen haben dazu geführt, daß die erkannte Strafe gegen die Verurteilten aufgeschoben und sie der sogenannten Fürsorgeerziehung überwiesen wurden. Der Angeklagte Heinrich Braun, vom Vorsitzenden zur Aeußcrung über die Anklage aufgefordert, führte aus, vom Standpunkt der soziologischen Auffassung dei> Verbrechens, wonach das Milieu einen wesentlichen Einfluß auf den Verbrecher ausübt, habe er das Urteil kritisiert, welches der Auffassung ent- sprungen sei, daß die Strafe als Vergeltung der Tat ausgesprochen werde. Dem Einfluß ihres Milieus könnten sich auch die Richter nicht entziehen, und so kämen ungerechte und grausame Urteile zustande. Damit sei den Richtern keineswegs der Vorwurf bewußter Un- ivahrheit gemacht, eine Beleidigung der Beuthener Richter könne deshalb in dem Artikel nicht gefunden werden. Er, der Angeklagte, habe die Richter nicht beleidigen wollen,.wenn er aber alle die Einzelheiten gekannt hätte, die heut« aus den Akten bekannt ge- worden sind, dann hätte der Artikel eine viel schärfere Fassung er- halten. Eine Kritik des Urteils müsse jedem Richter erwünscht sein as Korrektiv gegen die Machtsülle, welche in ihre Hände ge- legt ist. Staatsanwalt Dr. Baumgarten ging in längerer Rede auf das Beuthener Urteil ein, welches er als über jeder Zweifel erhaben hinstellte. Er beantragte gegen den Angeklagten eine G e l.d st r a f von 60V M. Der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Heinemann vertrat rn längeren, juristisch interessanten Ausführungen den Standpunkt, daß der Artikel eine durchaus berechtigte Kritik des Stiafrechts und der Judikatur in bezug auf jugendliche Personen darstelle, er diene den Bestrebungen, die Strafrechtspflege in dieser Hinsicht zu verbessern. Das Beuthener Urteil habe ja auch allen Anlaß zur Kritik gegeben. Die Frage, ob die Kinder die nötige Einsicht hatten, sei nicht geprüft worden. Erst nacb dem Urteil seien Ermittelungen nach dieser Richtung angestellt. Das Beuthener Gericht sei nicht mit der Sorgfalt verfahren, die bei den Berliner Gerichten üblich ist. Wenn auch dem Angeklagten nach der herrschenden Judikatur als Redakteur der Schutz des ß 193 nicht zugebilligt werde, so stehe ihm dieser Schutz doch zur Seite, denn tadelnde Urteile über wissenschaftliche Leistungen eine solche sei das Gerichtsurteil seien straflos, falls nicht die Absicht der Beleidigung vorliege, und das sei hier, wenn man überhaupt beleidigende Aeußerungen in dem Artikel f-nden könne, nicht der Fall. So wie das Frankfurter Gericht aus Anlaß desselben Artikels ein freisprechendes Urteil fällte, werde auch hier auf Freisprechung erkannt werden müssen. Nach langer Beratung des Gerichts verkündete der Vorsitzende, LandgerichtSdrrektor Warnatsch das Urteil. AuS der sehr eingehenden Begründung geht hervor, daß das Gericht die Kritik gegenüber gerichtlichen Urteilen nicht nur für berechtigt. sondern auch für wünschenswert hält. Auch der Schutz deS§ 193 ist dem Angeklagten zugebilligt. Aber das Gericht meint, die Kritik richte sich nicht gegen allgemeine Zustände in der Strafrechts- pflege, sondern gegen Richter und Staatsanwalt in Beuihen. Gegen diese habe der Artikel einen verletzenden, kränkenden und beleidigen- den Ton angeschlagen. Damit sei der Angeklagte über die Grenzen, welche der ij 193 zulasse, hinausgegangen, die Form des Artikels lasse die Absicht der Beleidigung erkennen. Der Angeklagte� ist deshalb zu einer Geldstrafe von Ivv M. eventuell 10 Tikgen Haft verurteilt. A ,» Das Beuthener Urteil soll, wie jedes Urteil, eineWissenschaft- liche Leistung" sein. Tadelnde Urteile über wissenschaftliche Lei- stunycn werden in der Regel keine Schmeichelei für den Vater der Leistung enthalten, die abfällig kritisiert wird. Fehlt dem Ge. tadelten bcr objektive Maßstab für eine Würdigung des über seine Leistung ausgesprochenen Tadels, so empfindet er den über seine! Leistung ausgesprochenen Tadel als persönliche Herabsetzung, wenn die Kritik nicht so scharf war, daß sie dem Kritisierten ein- leuchtete. Läuft dann der abfällig Beurteilte zum Richter, weil er durch die Kritik beleidigt sei, so weist der Richter mit Fug und Recht die Klage ab, wenn er wie der Frankfurter den Inhalt üher die Form stellt oder es für die schwerste Beleidigung eines Menschen hält, daß er durch dieForm", den Ton einer Kritikbeleidigt" werden kann. Die juristische Jnterpretationsmaschine kann freilich auch anders arbeiten. Das Berliner Gericht hat angenommen, die Beuthener Richter könnten und seien durch die Form beleidigt. Vielleicht hebt das Reichsgericht das Urteil auf, weil unterlassen ist anzugeben, welche Form gegenüber der Beuthenerwissenschaftlichen Leistung" angebracht oder weil, wie uns dünkt, Inhalt und Form vom Berliner Gericht verwechselt ist. Die Kritik muß in einem Kulturstaat frei, rücksichtslos frei sein können. Die Notwendigkeit einer Kritik anerkennen und die Form der Kritik mit Strafe be- drohen, entspricht dem§ 193 des Strafgesetzbuchs, ist aber ebenso widerspruchsvoll wie ein Recht zu gewähren, die Ausübung des Rechts aber unter Strafe zu stellen. Wie schlecht muß eine Justiz sein, wenn sie eine rückhaltlose Kritik nicht mehr verträgt! GtllkralvtrsMmlllvg des Kergarbeiter-Nerbandes. Dortmund . 10. Mai. In der Schlußsitzung des Bergarbeiterkongresses am gestrigen Himmelfahrtstage wurde zunächst die Debatte über die Bergarbeiter- schutzgesehgebung und die Gvubenkontrolle fortgesetzt. Eine große Roll« spielen darin die Wohnungszustände in der Kolonie der Zeche Deutscher Kaiser", die der sozialdemokratische Reichstagsabgeord- nete HengÄbach jüngst im Reichstage als gesundheitsschädlich und gesundheitsgefährdend geschildert hatte. Dagegen hatte sich dann der Arbeiterausschuß der Thyssenschen ZecheDeutscher Kaiser" in einer längeren Erklärung gewendet, in der er als Resultat einer ge- nauen Untersuchung mitteilt, daß die Zechcmvohnungcn durchaus gesund und gut eingerichtet seien. Di« Delegierten des Ober- hausener Bezirkes bezeichnen diese Erklärung des Arbeiterausschusses, der von christlichen Gewerkvereinlern besetzt sei, als durch und durch unwahr. Die Mitglieder des Ardeiterausschusscs seien so feige, daß einer von ihnen jüngst sich von seinem Meister habe durch- prügeln lassen, ohne daß er es wagte, etwas dagegen zu unter- nehmen. Sie seien gleichfalls an Ort und Stelle in Obermarxloh gewesen, und hätten die Wohnungen untersucht. Sie teilen eine lange Reihe von Wohnungen mit Straßen und Hausnummern mit, in denen sich der Schwamm befindet, das Wasser an den Wänden herunterläuft oder eine unglaubliche Anhäufung von Menschen in engstem Räume vorliegt. In den Straßen liege der Schlanim noch einen Meter tief. Reichstagsabgeordneter Hue teilt mit, daß der christlicheBergknappe" die Darstellung des Abgeordneten Hengs bach im wesentlichen bestätigt und hinzufüge, daß der Arbeiteraus schuß sich habe mißbrauchen lassen. W,a l dh e ck e r- Bochum ist von mehreren Insassen der Kolonie beauftragt, mitzuteilen, daß die Wohnungen vor Eintreffen der amtlichen Untersuchungskommission rasch in möglichst guten Stand gesetzt worden seien. Trotzdem habe die Regierung angeordnet, alle Straßen auszureißen, um die Häuser auszutrocknen und neue Abzugskauäle einzubauen, was eine Ausgabe von nahezu 4VV0 M. verursachen werde. Auch dieser Redner hält das für den einzigen Weg, um die in Obermarxloh besonders stark auftretende Genickstarre zu bekämpfen. Leider wage die Regierung nicht, demKönig " Thyssen energisch entgegenzu- treten. Weiter dreht sich die Debatte um das neue Knapp- schaftSgesetz. Von allen Delegierten wird lebhafter Protest dagegen erhoben, daß den Invaliden das aktive und passive Wahlrecht genommen und die Arbeiter- dadurch ihrer einzigen ökonomisch unabhängigen Vertreter beraubt worden seien. Man habe die Veteranen der Arbeit genau so behandelt wie Zuchthäusler. Redakteur Witzmann, der gestern aus Lothringen zurückgekehrt ist, macht Mitteilungen über die Strcikbelvegung im dortigen Mette- Gebiet, die auch durch das neue Knappschaftsstatut hervorgerufen sei. Die durch das Berggesetz von 1873 vorgeschriebene Knapp- schaftskasse, die jetzt neu eingerichtet werde, übe keine rückwirkende Kraft aus und habe wegen der niedrigen Pensionssätzc unter den Arbeitern große Erregung hervorgerufen. Der christliche Verband habe die Belegschaft mehrerer Gruben in einen törichten Streik hineingehcht, um dagegen zu protestieren. Natürlich seien diese Einzelausstände aussichtslos gewesen. Er habe alles getan, um die Bergarbeiter zum Wiedcranfahren hu veranlassen. Der Streik auf ZecheHadingen" sei von ihm mit Erfolg durchgeführt worden. Die Arbeit im Mette-Gebict sei viel schwerer als im Kohlenbergbau, so daß dort fast nur Italiener beschäftigt-werden können. Das er- schwere die Organisationsarbeit, er hoffe aber, daß Her Verband jetzt mich in Lothringen rasch fortschreiten wird. Von mehreren Rednern wird angeregt, der Verband möge sich künftig allgemein an den Arbeiterausschußwahlen beteiligen. Die Ausschüsse leisteten bisher zwar nichts, könnten aber etwas leisten, wenn energische Vertreter des Verbandes hineinkämen. Dagegen wendet sich im Schlußwort Referent Aufderstraße. Die Ausschüsse könnten nach dem Berggesetz von 1905 nur Drahtpuppen sein und würden es bleiben. Im übrigen macht Redner ganz interessante Angaben über die Beziehungen zwischen Organisation und Höhe der Unfall- ziffer. Ueberall, wo der Verband in den letzten Jahren um 100 Prozent gewachsen sei, sei die Unfallziffer konstant geblieben; wo der Verband in den letzten 10 Jahren nicht vorwärtsgekontmen sei, sei die Unfallziffer um 100 Proz. gewachsen. Die bereits mitgeteilte Resolution wurde hierauf einstimmig angenommen. Es folgt der Bericht der Statutenberatungskommission. Es wurden einige Abänderungen am Statut vorgenommen, hauptsäch- lich ein geringerer Betrag, 20 Pf. pro Woche, für jugendliche Ar­beiter eingeführt, um sie in möglichst großer Zahl der Organisation zuzuführen: weiter wurde die Einführung einer Umzugsunter- jtützung zur Ergänzung der Gemaßregeltenunterstützung be- schlössen. Hierauf referierte Ludwig Schröder über die int er- nationale Arbeiterbewegung. Zu diesem Referat wurde folgende Resolution einstimmig angenommen: Die Generalversammlung erkennt an, daß unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen die Interessen der Bergarbeiter nur dann wirksam vertreten werden können, wenn sie sich international verständigen. Sie erkennt aber weiter die Notwendigkeit an, daß die internationalen Beziehungen zu den Berufsgenossen der anderen Bergbau treibenden Länder auch fernerhin gepflegt werden, und empfiehlt, den in diesem Jahre in Salzburg stattfindenden inter - nationalen Bergarbeiterkongreß zu beschicken. Der Vorstand unseres Verbandes wird ermächtigt, zur Pflege dieser inter - nationalen Beziehungen die Mittel des Verbandes in Anspruch zu nehmen." Der alte Vorstand Sachse-Bochum, 1. Vorsitzender; Schröder. Bochum , 2. Vorsitzender; Horn-Bochum. 1. Kassierer; Schreiter- Bochum , 2. Kassierer; Husemann-Bochum, 1. Schriftführer und Waldhecker-Bochum . 2. Schriftführer wurde mit an(Einstimmig- keit grenzender Stimmenzahl wiedergewählt, ebenso die bisherigen Beisitzer und Mitglieder des Kontrollausschusses. Zum Ort der nächsten Generalversammlung wird Eiscnach bestimmt. Veran- lassung hierzu gibt der Wunsch des alten Verbandskassierers Meyer, der bekanntlich in dem großen Essener Meineidsprozetz zu 3 Mi Jahren Zuchthaus verurteilt, nach Verbützung der Strafe schwer nervenleidend wurde und jetzt zur Erholung in Eisenach lebt. Meyer hat dem Kongreß den Wunsch übermittelt, daß er noch einmal die alten Kameraden sehen möchte. Mit einem aufmunternden- Schlußwort erklärt hierauf Reichs- tagsabgcordneter Sachse die Beratungen der Generalversammlung für beendet. j Berichts-Zeitung Polizeistunde. Von großer Bedeutung für Gast- und Schankwirte ist ein Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichts, das die Rechte der Polizei auf Perkürzung der Polizeistunde abgrenzt. Bisher konnten die Gastwirte gegen die polizeiliche Festsetzung einer Polizeistunde so gut wie nichts machen. Eine Ausnahme machte der s. Z. von Rechtsanwalt Dr. Herzseld durchgeführte Prozeß, in dem das Vor» liegen einer Willkür anerkannt wurde. Aber auch da nahm daL Oberverwaltungsgericht an, daß die Polizei nach pflichtmäßigem Ermessen die Polizeistunde festsetzen darf und daß hiergegen die Klage im Vcrwaltungsstreitverfahren nur dann zulässig ist, wenn der PolizeiWillkür" oderSchikane" nachzuweisen ist. In dem jetzt vorliegenden Falle hat das Oberverwaltungsgericht ernen etwas anderen Standpunkt eingenommen. Dem Schankwirt P. in der Lothringerstratze war für sein Lokal die Polizeistunde bis 4 Uhr morgens gewährt worden, der Polizeipräsident hat sie dann auf 2 Uhr morgens mit Rücksicht auf den Verkehr in dem Lokal und auf die unzuverlässige Geschäftsführung herabgesetzt. Die hier- gegen erhobene Beschwerde wurde vom Oberpräsidenten abgewiesen und in dem Verwaltungsstreitverfahren erkannte der Polizei- Präsident die gute Geschäftsführung an, betonte aber, daß in einigen Fällen Ausschreitungen in und vor dem Lokal vor- gekommen seien. Das Oberverwaltungsger, cht hat den Ausführungen der Klage des P. unter folgenden Darlegungen stattgegeben: Die Kürzung der dem Kläger polizeilicherse,ts ge- währten Polizeistunde darf nur erfolgen, wenn es der Kläger ent- weder an der gehörigen Aufsicht fehlen läßt und hierauf die ein» getretene Störung der öffentlichen Ordnung. Ruhe und Sicherheit zurückzuführen ist, oder wenn mit einer solchen Störung trotz ge- höriger Aufsicht des Klägers als einer sich gewöhnlich wieder- bolenden Tatsache im Hinblick auf die Art des die Wirtschast des Klägers besuchenden Publikums zu rechnen ist. Ausschreitungen. die unabhängig von dem Verkebr in der Wirtschaft des Klägers sich auf der Straße vollziehen, bleiben außer Betracht, auch wenn sie auf eine Ansammlung von Menschen vor dem Wirtschaftslokal des Klägers zurückzuführen sind und den Ilmständen nach anzunehmen ist. daß den Anlaß zur Ansammlung die Osfenhaltung der Wirt- schaft des Klägers gegeben hat. Damit ist anerkannt, daß die einmal gewährte Verlängerung der Polizeistunde ein ver- brieftes Recht auf Bclassung dieser Stunde verleiht und diese nur aus den oben erwähnten ganz besonderen Gründen verkürzt werden darf._ Graf Pückler vor dem Reichsgericht. Das Reichsgericht verwarf gestern die Revision deS Ritterguts« besitzerö Grafen Pückler Klein-Tschirne. der am 15. März d. I. vom Landgericht I Berlin wegen Aufreizung verschiedener Be- völkcrmigsklassen zu Gewalttätigleiten gegeneinander zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden ivar. Aushöhlung des Eigentumsrecht durch Straßenbahnen. Der Schreincrm eist er und b e I f a b r i k a n t H. zu Hörde klagte gegen die Allgemeine Lokal- und Straßenbahngesellschaft zu Berlin und gegen die Stadtgemeinde Hörde. Kläger betreibt auf einem ihm gehörigen Grundstück an der Viktoriastraße in Hörde eine Möbel- fabrik. Die Beklagte hat bereits seit längerer Zeit in der Viktoria- straße in Hörde einen eingleisigen Straßenbahnbetrieb eröffnet. Im März und April 1904 hat die Stratzenbahngescllschaft jedoch auf Erfordern der Stadt Hörde in der Nähe des dem Kläger ge- hörigen HauseS eine Weiche und ein zweites Gleis legen lassen, um die Verkehrsstörungen zu beseitigen, die durch den Betrieb der Bahn herbeigeführt wurden. Infolgedessen hält der von der einen Seite anfahrende Wagen vor dem Hause des Klägers, bis der auS der entgegengesetzten Richtung fahrende Wagen auf dem anderen Gleise vorbeigefahren ist. Der Kläger behauptet, durch das Halten der Magen und die Anlegung eines zweiten Gleises vor seinem Hause in dem Betrieb und der Ausübung seines Gewerbes gestört zu sein, da seine Möbelwagen nicht mehr vor dem Hause halten können, um auf- und abzuladen usw. Er verlangte deshalb im Klagewege die Einleitung dcS Enteignungsvcrfahrens wegen der Benutzung seiner Parzelle oder die Entfernung des westlichen Gleises. Das Landgericht Dortmund hat die beklagte Straßenbahn- gcsellschaft zur Entfernung des westlichen Gleises verurteilt. Der seitens der Beklagten und der Nebenintervcnientin eingelegten Be- rufung hatte sich der Kläger angeschlossen mit dem Antrage, ihm als Entschädigung für die Beeinträchtigung seines Geschäfts durch das westliche Gleis mindestens 5000 Mark, eventuell eine Jahres- rcnte von 500 Mark zu zahlen. Diesen Anspruch wollte er nicht als Eigentümer des Grundstücks, sondern als Stratzenanliegcr er- hoben wissen. Das O b e r l a n d e s g e r i ch t Hamm hat den Entschädigungsanspruch des Klägers dem Grunde nach als gerechtfertigt anerkannt. Seine weitergehenden Anträge auf Beseitigung des Gleises usw. aber abgewiesen. Gegen das oberlandesgerichtliche Urteil hatte die Beklagte mit Erfolg Revision eingelegt. Der 7. Zivilsenat deS Reichsgerichts erkannte unter Aufhebung des oberlandeS- gerichtlichen Urteils aufvölligeAbweisungdcsKlägerS. Aus den Entscheidungsgründen des Reichsgerichts ist hierzu folgen. des mitzuteilen-:Das Reichsgericht hat als leitenden Grundsatz für das Anliegerrecht an einer städtischen öffentlichen Straße im Geltungsgebiete des Preußischen Allgemeinen Landrcchts aufgestellt, daß das servitutarische Recht des Hausbesitzers an der an seinem Grundstücke vorüberführenden Straße begrenzt und bedingt ist durch die Zweck» bestimmung der Straße selbst, dergestalt, daß der Hausbesitzer sich alle Veränderungen gefallen lassen muß, welche dazu dienen, die Straße in dem Zustande zu erhalten oder auch in den Zustand zu setzen, in dem sie ihrer Bestimmung am voll- kommendsten genügen kann, sofern nur die Straße auch ferner für ihn als Kommunikationsmittel erhalten bleibt.(Entscheid in Zivilsachen . Band 37. Seite 252. Urteil vom 6. Mai 1896. V 352/95). Die Straße hat in erster Linie dem öffentlichen Ver- kehr als notwendiges Kommunikationsmittel zu dienen, die Befug» nisse der Anlieger der Straße bleiben stets dieser Hauptbestimmung der Straße untergeordnet. Der Anlieger muß sich daher Be- lästigungen gefallen lassen, die sich aus dem Zweck der Straße, dem öffentlichen Verkehr zu dienen, ergeben, mögen auch diese Er- schwerungen sich mit der EntWickelung des öffentlichen Verkehrs und die infolgedessen notwendig werdende Umgestaltung oder Er- Weiterung der bereits vorhandenen Verkehrsmittel sich vergrößern oder vermehren.(R. G. in Gruch. Bd. 45. S. 614.) Insbesondere kann der Anlieger eine Entschädigung nicht verlangen-, wenn in einer Straße, in der bisher nur ein Straßenbahngleis bestand, an dessen beiden Seiten anderen Fuhrwerken genügend Raum blieb. zu fahren oder vor den Häusern zu halten, ein zweites Gleis zwischen dem ersten und der Straßenseite, an der das betreffende Haus des Anliegers liegt, derartig gelegt und in Betrieb genommen wird, daß Wagen vor dem Hause des Anliegers nur auf dem Gleis halten, dort aber stets den in Zwischenräumen von wenigen Minuten sich folgenden Straßenbahnwagen Platz machen müssan. (R. G. in Gruch. Bd. 36. S. 682.) Vergleiche auch Dernburg Sachenrecht Z 70. Von dieser wohlbegründeten Rechtsprechung ab. zugchen, liegt genügende Veranlassung nicht vor, mögen auch in der Literatur abweichende Meinungen hervorgetreten sein..,