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mm aber nicht nur. wie dieamtliche Darstellung' weiter behorchtet, Stubenten und Studentinnen, sondern auch andere Personen verhaftet sind, so ergibt sich, datz die Zahl der Sistierten selbst grvsier sein mußte als 33. Die amtliche Darstellung wirft weiter gleichzeitig ein Schlaglicht auf die soudqjharen Begriffe, die das Berliner Polizeipräsidium von den Siechten der Ausländer, den Pflichten der Gastlichkeit und von deu polizeilichen Beftlgnissen hat. Die polizeiliche Aktion wird zunächst gerechtfertigt auS einem kriminellen Gesichtspunkt: gegen ein paar deutsche Anarchisten soll der dringende Verdacht der Geheimbündelei bestehen. Gut., Seit einiger Zeit glaubt die Polizei berechtigten Gruud zu der Annahme zu haben, daß ein Teil der russischen Studenten mit den Berliner Anarchisten enge Fühlung genommen habe. Das ist schon weniger gut. Der Glpubr an einen berechtigten Grund wird die Polizei vor der öffentlichen Meinung nicht selig machen. Entweder die Polizei hat einen berechtigten Grund zu einer Annahme, oder sie mag die Hände weglassen. Was hat nun aber dieser Glaube an einen berechtigten Grund zur Annahme einer Fühlung zwischen russischen Studenten und Berliner Anarchisten zu tun mit der An- gelegenheit Karfunkel st ein und Weiß? Die Polizei hat offen- bar auö jener engen Fühlung auch spezielle Verdachtsmomente gegen be- stimmte Personen gar nicht-entnommen: denn dieHauSsuchungenwurden nach dem amtlichen Berichte vollzogen, umweiteres Beweismaterial hierüber zu bekommen', d. h. über die Geheimbündelei der Kar- funkelst ein und Weist. Die Polizei hat hierbei indessen auf das gröblichste gegen die Bestimmungen unserer Strafprozeßordnung verstosten, die hier, da es sich ja um eine Kriminaluntersuchung handelt, ohne Widerrede zur Anwendung zu bringen sind. Nach 8 102 der Strafprozeßordnung kann bei demjenigen, der als Täter. Teilnehmer usw. einer strafbaren Handlung verdächtig ist, eine Durchsuchung der Wohnung usw.sowohl zum Zwecke seiner Ergreifung, als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismittel führen werde'. Diese Bestimmung kommt indes nach dem amtlichen Bericht nicht in Frage, da Verdacht gegen irgend welche Personen anscheinend nicht bestanden hat, vielmehr nur auf VeweiSmaterial gegen Karfunkel st ein und'Weist und ihre bisher unbekannten Mittäter gefahndet wurde. Nach§ 103 der Strafprozeßordnung sind bei anderen Personen Durchsuchungen behufs der Ergreifung des Beschuldigten, oder behufs der Berfolguug von Spuren einer strafbare» Handlung, oder behufs der Beschlagnahme bestimmter Gegenstände und nnr dann zulässig, wenn Tatsachen»orliegeu, aus denen zu schließen ist, daß die ge- suchten Personen, Spuren oder Sachen sich in den zu durchsuchenden Rirnme» befinden. Wer war hier der Beschuldigte? Um welche bestimmten Gegenstände handelte es sich? Welche Tatsachen im letzterwähnten Sinne lagen vor? Nach s 103 Str.-P.-O. steht der Polizei nur bei Gefahr im Verzug die Anordnung von Durchsuchungen zu. Da die Polizei aber nach dem amtlichen Berichtbereits seit einiger Zeit' alles das wußte, was sie jetzt weist, mid was ihr Vorgehen veranlaßt hat, so hat sie ungesetzlich gehandelt, wenn sie ohne richterliche Anordnung die Durchsuchungen vornahm. Nach ß 103 Absatz 2 Str.-P.-O. sind, wenn dies möglich, ein Gcmeindebemnter oder zwei Mitglieder der Gemeinde, in deren Bezirk die Durchsuchung erfolgt, bei der Durchsuchung zuzuziehen. wenn diese ohne Beisein des Richters oder Staatsanwalts stattfindet. Hiergegen Hai die Polizei aufs gröblichste verstoßen. Daß in allen hier fraglichen Fällen leicht gewesen wäre, zwei Gemcindemitglieder (die nach dem Gesetz nicht Polizeibeamte sein dürfen) hinzuzuziehen, bedarf nicht der Hervorhebung. Nach§ 106 Absatz 2 Strafprozeßordnung ist dem Inhaber der durchsuchten Räume in den obenerwähnten Fällen des§ 103 Ab­satz 1 der Zweck der Durchsuchung vor deren Beginn bekannt zu machen. Auch über diese Bestimmung zum Schutze der persönlichen Freiheit hat sich die Polizei, wie unsere Schilderung ergibt, souverän hinweggesetzt. Da hiernach begründete Veranlassung vorliegt, daß die Polizei sich auch im weiteren Fortgang ihre? ruhmreichen Feldzuges auf die Existenz unserer nun bereits seit 30 Jahren bestehenden Strafprozeßordnung nicht besinnen wird, so möchten wir sie bei dieser Gelegenheit ganz besonders auf den§ 110 der Str.-P.-O. verweisen, nach dem eine Durchsicht der Papiere des von der Durch- suchung Betroffenen uur dem Richter zusteht: desgleichen auf§ 100 Str.-P.-O., der vorschreibt/ daß die beschlagnahmten Gegenstände genau zu verzeichnen und zur Verhütung von Verwechselungen durch amtliche Siegel oder in sonst geeigneter Weise kenntlich zu machen sind. Wir wollen hoffen, daß die Polizei sich bisher an diese Be- ftimmungen gehalten hat. Was die Verhaftungen anbelangt, so sei auf den§ 127 Str.-P.-O. verwiesen, wonach vor Erlaß des richterlichen Haft- befehls eine vorläufige Festnahme durch die Polizei höchstens zu- lässig ist, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls(das heißt dringender'Tatverdacht, Fluchtverdacht oder Verdnnkelungsvcrdacht) vorliegen und Gefahr im Verzuge obivaltet. Nach§ 128 der Straf- Prozeßordnung ist jeder so Festgenommene unverzüglich dem Richter vorzuführen, der ihn spätestens am Tage nach der Vorführung zu vernehme» hat. Es wird sich bald herausstellen, inwieweit sich die Polizei an diese Bestimmungen gehalten hat. Soweit ermittelt, hat die vorgeschriebene unverzügliche Vorführung vor dem Nichter nicht stattgefunden. Anscheinend hat die Polizei das Bedenkliche ihres Vorgehens bereits erfaßt. Darauf deutet der Schlußsatz jener amtlichen Dar­stellung, der anders geartete kriminelle oder auch rein polizeiliche Gesichtspunkte in die Sache hineinzutragen sucht, aber doch deutlich erkennen läßt, daß er damit nur nachträglich ein für die Polizei günstigeres Mäntelchen für alle Eventualität zurecht- legen will. Offenbar liegt und lag gegen einzelne be- stimmte Personen ein Verdacht, falsche Pässe oder falsche Namen verwandt zu haben, nicht vor. Der amtliche Bericht drückt sich denn auch sehr vorsichtig aus, indem er sagt, die Sistierungen hättenzum Teil" aus derartigen Gründen vorgenommen werden müssen. Eine allgemeine Razzia auf die sämtlichen hier aufhältlichen russischen Studenten, um festzustellen, ob der«ine oder der andere vielleicht einen falschen Paß oder einen falschen Namen besitze, würde aufs schärfste nicht nur jeder gesetzlichen Bestimmung, sondern auch den Pflichten der Menschlichkeit und des Anstandes widersprechen. Die Usurpation dieser Befugnis von feiten der Polizei bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Proklamation der Bogelfreihcit der russischen Studierenden. Um sich in dieser Richtung Klarheit zu ver- schassen, was das formelle Recht der Polizei sein mag, besitzt und besaß die Polizei Mittel und Wege humaner und dem all- gemeinen Anstände entsprechender Art genug, und sie hat es wahrlich sich bisher nicht verdrießen lassen, von diesen Mitteln und Wegen einen überaus reichlichen Gebrauch zu machen- Zum Schluß betonen wir noch einmal nachdrücklich, daß die Sistierten, soweit sie uns bekannt geworden sind, mit Anarchismus auch nicht daS allergeringste zu tun haben und baß gegen sie auch nicht einmal der Schatten cincZ Nachweises auch nur einer so- genannten engeren Fühlung mit den Berliner Anarchisten wird cp- bracht werden lpuueu i ? Ein offiziöser Bericht desLokal-Anzcigcrs' lautet: ' Die auf der hiesigen Universität und der Charlottenburger Technischen Hochschule studierenden Russen und Russinnen haben bekanntlich seit Jahren die Aufmerksamkeit der politischen Polizei auf sich gelenkt, und es sind namentlich im Jahre 1904 viele ver- hastet und wegen ihrer revolutionären Umtriebe ausgewiesen worden. Im vorigen Winter teilte dies Schicksal u. a. auch der russische Student Hirsch, der hier an der Spitze der Bewegung stand und eine russische, angeblich liberale Zeitung herausgab. Als vor einigen Tagen die Anarchisten Karfunkelstein und Weidt verhaftet wurden, entdeckte die Polizei bei ihnen und anderen Gesinnungs - genossen eine umfangreiche Korrespondenz, aus der hervorging, daß ein großer Teil der russischen Studenten und Studentinnen sich als Berliner Gruppe des russischen Terroristenbundes' organisierten und mit den hiesigen Anarchisten in enge Verbindung getreten waren. Als Hauptquartiere und Sammelpunkte waren die russischen LesehallenSaltykow ' in der Artilleriestr. 7 undTschechow " in der Kaiser Friedrichstr. 42 zu Eharlottenburg angegeben. In beiden fanden gestern Haussuchungen statt, nachdem sich die Beamten bei den Wohnungsinhabcrn vorschriftsmäßig legitimiert hatten. In der Lesehalle in der Ariilleriestratze wurden zahlreiche Exemplare der AnarchistenblättcrFreie Arbeit',Der Revolutionär' und Der Anarchist", in der Charlottenburger Lesehalle viele terroristische und antimilitaristische Schriften in russischer und lettischer Sprache beschlagnahmt. Der Vorsitzende der russischen Lesehallen, der Student Umansky, die Vorsteherinnen der ..Saltykow ', Fräulein Henning, und derTschechow ', Fräulein Vienstock, wurden mit sämtlichen Anwesenden der beiden Hallen. im ganzen 33 Personen, nach den nächsten Polizeiwachen geführt, damit dort ihre Persönlichkeiten genau festgestellt werden konnten. Es war dieS deshalb notwendig, weil die Russen meistens mehrere Pässe, auf verschiedene Namen lautend, bei sich führten. Der eine Student legte sich in der Lesehalle einen falschen Namen bei und zeigte versehentlich einen Paß vor, der auf einen anderen lautete; auf der Polizeiwache entpuppte er sich als der Bruder des Lese- hallen-Vorstehers UmanSkh. Eine Frau suchte sich der Feststellung zu entziehen, indem sie angab, daß ihre Tochter in ihrer Wohnung krank daniederliege: es konnte ihr aber sogleich nachgewiesen werden, daß ihre Schwester die Pflege übernommen habe. Ein Student versuchte es gewaltsam, sich der Sistierung zu entziehen. Auf den beiden Polizeiwachen wurden alle bis auf zehn Personen entlasse», von denen heute vormittag sechs als lästige Ausländer ausgewiesen, zwei wegen Teilnahme an einer Verbindung, deren Dasein, Verfassung uns Zweck vor der Staatsregierung geheim ge- halten werden soll, und deren Mitglieder sich zu unbedingtem Ge- horsam gegen Verbindungsobere verpflichten, und einer wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt dem Staatsanwalt vor- geführt. Dieser Bericht enthält fast so viele Unrichtigkeiten wie Sätze. Zunächst: Im Jahre 1904 fand die Ausweisung der 14 Russen statt wegen angeblicher Beleidigung de? Fürsten Bülow I Der im vorigen Winter ausgewiesene Student Hirsch war kein Student und hieß nicht Hirsch, sondern Hirschmann. Er stand so wenig an der Spitze der Bewegung, wie Preußen an der Spitze der Zivilisation marschiert. Er gab keine liberale Zeitung heraus, sondern schrieb für ein hiesiges unpolitische« Blatt über Kunst und Literatur. Die Behauptungen, daß sich ein großer Teil der russischen Studenten als Berliner Gruppe des russischen Terroristenblindes organisiert hätte usw., wird der Offiziosus in dem Augenblick fallen lassen müssen, wo von ihm statt windiger Redensarten Beweise ver- langt werden. Unerhört ist die Kühnheit, die die russischen Lesehallen als Hauptquartiere und Sammelpunkte dieser angeblichen Terroristen bezeichnet. Hierbei sei gleich darauf hingewiesen, daß nach einer gleichfallsamtlichen Darstellung', die dasBerliner Tageblatt' am gestrigen Abend bringt, zwei Anarchisten Mitglieder der Uschechow-Lesehalle fein sollen. Man weiß ja freilich, was die Polizei unter Anarchisten versteht. Es sei aber auS- drücklich betont, daß mit Kenntnis der Leitung der Tharlotten- burger Lesehalle keine Anarchisten Mitglieder waren. Selbstverständlich ist die Charlottenburger Lesehalle nicht in der Lage, die Gesinnung ihrer Mitglieder zu kontrollieren, für sie genügt«S, daß von den Mit- gliedern die statutenmäßigen Verpflichtungen erfüllt werden. Zu Ver- sammlungözwecken u. dergl. sind die Lesehallen nicht ausgenutzt worden. Die entgegengesetzte Behauptung ist blanke Polizeiphantaste. Damit erledigt sich auch die noch viel blutrünstigere Darstellung der gestrigen B. g. am Mittag', nach der es sich gar bei den Lesehallen mn ein terroristisch-anarchistischeS Unternehmen handeln soll. Nnwahr ist weiter, wenn im Bericht desLokal-AnzeigerS' behauptet wird, die Beamten hätten sich den Wohnungsinhabern vorschriftsmäßig legitimiert. Das ist in den Lesehallen nicht ge- schchen; man hat ja die Vorsteherin der Charlottenburger Lesehalle in ihrer Wohnung verhaftet und zu der Durchsuchung in der Lese- Halle überhaupt nicht hinzugezogen. Möglich, daß in einzelnen Fällen die Beamten sich ausgewiesen haben. Das ist aber nur die Ausnahme gewesen. WaS die Funhe in der Berliner Lesehalle anbetrifft, so mögen dort einige Exemplare der genannten An» archistcnblätter gefunden sein. Diese Blätter spielen indessen unter den zahlreichen auSliegenden Zeitungen nur eine geringe Rolle. Sic sind dem vernehmen nach auch ohne Zutun der Leitung der Lesehalle dort hineingekommen. Wenn daSBerliner Tage­blatt' weiter mitteilt, da? Organ der russischen Sozialrevolutio- näre,DaS revolutionäre Rußland", habe in der Artilleriestraße ausgelegen, so sei darauf hingewiesen, daß diese Zeitung allent- halben in Berlin öffentlich vir den Augen der Polizei verkauft wird, und selbst in Rußland legal ist. Die angebliche terrvristische Literatur auS der Charlotten­ burger Lesehalle ist nichts weiter, als die bekannte historische Literatur, die auch in Rußland jetzt legal ist und auch in Deutsch - land überall gekauft werden kann. Terroristische lettische Schriften sind überhaupt nicht gefunden. UebrigenS steht es so, daß vielfach ganze Mengen von Büchern von einzelnen Russen der Lesehalle ge- schenkt werden. Daraus würde sich selbst ganz harmlos erklären, wenn selbst terroristische Schriften aktuellen Charakter? gewisser- maßen im Rausch mit in die Räume der Lesehalle gekommen sein sollten, wa» aber tatsächlich nicht der Fall ist. Nach der Darstellung der MittagSzeitung sollen weiter Aufrufe und Kampfliteratur agressivster Form gefunden sein und diese Be- hauptungen wiederholt eine Korrespondenz, die uns am gestrigen Abend zuging. Da« ist eine grobe Unwahrheit. Nichts dergleichen ist gefunden. Weiter heißt es in derB. Z. am Mittag', man habe annähernd 100 Sammellistenzur Bewaffnung" mit dem Stempel Russisch soziale Partei, Berliner Gruppe Föderation gefunden. Ferner etwa 200 Sammellisten zum Besten der Mannschaften des Njes Potemkin", außerdem eine Anweisung zum Chiffrieren. Nach demBerliner Tageblatt' gar soll ein Stempel mit der AufschriftVereinigung der sozialen Berliner Russensödcration" gefunden sein, sowie Anleitung zur Herstellung von Sprengstoffen und Bomben. Tatsache ist folgendes: Beschlagnahmt sind in der Charlottenburger Lesehalle zwei Jahrgänge deSRevolutionären Rußland', der erwähnten legalen Zeitschrift. Sodann ein Block- buch mit dem Stempel derrussischen sozialdemokratischen Partei' zum Einsammeln von Beiträgen. Die Beiträge sind nach Centimes bezeichnet. Das Buch kann also für Berlin überhaupt nicht be- stimmt gewesen sein. Es befand sich im Kasten des Bücherschrankes unter anderen ungeordneten Sachen und ist anscheinend von irgend einem Besucher der Lesehalle einmal liegen gelassen worden. So- dann wurden gefunden fünf bis zehn Sammellisten zum Besten dpr Op/er der MtewkinsWre.. Lelanntlich gai sich dies, Affäre im Jahre 1993 abgespielt. Die Charlottenburger Lesehalle ist erst am 28. März 1909 gegründet. Auch diese Listen sind offenbar ver- sehentlich liegen geblieben, sie sind auch ganz unverfänglich. Die Unterstützung der Opfer der Potemtinaisäre ist eine reine Wohl- tätigkeitssache. Sie ist auch von hiesigen liberalen Kreisen betrieben worden. Weiter sind eine Anzahl polnischer Broschüren der pol- nischen Sozialdemokratie und der P. P. S. beschlagnahmt, ferner Literatur sozialdemokratischen, sozialrcvolutionärcn Inhalts, die aber nnr einen Bruchteil der gesamten vorhandenen Literatur bildete und überall, sogar in Rußland , legal ist. Das tatsächlich aufgefundene Chiffrierbuch ist ein altes, nie benutztes Buch, das übrigens auch in Rußland legal verkauft wird, und ohne je benutzt zu werden, anscheinend in der oben geschilderten Weiseim Ramsch" in die Lesehalle gelangt ist. Bei einem Mitglicde der Lesehalle wurde eine Sammelliste zugunsten der sozialdemokratischen Wahl- kampagne in Rußland vorgefunden. Möglich, daß unter den Broschüren eine oder die andere anarchistische sich befunden hat, was natürlich nichts zu bedeuten hat, zumal diese Broschüren in der yben beschriebenen Weise unter die Masse der vorhandenen Literatur geraten sein können. Alles übrige ist Phantasie. Auch bei der Durchsuchung der Privatwohnungen hat sich die Polizei sehr genügsam zeigen müssen. So wurden bei Frau Dr. Bienstock u. a. die bekannten Schiller » und Heinefestzeitungen, die der.Vorwärts' herausgegeben bat. konfisziert. Geradezu eine Frechheit ist der Versuch, den Fall Bienstock zu verdrehen. Frau Dr. Bienstock hat überhaupt keine Schwester in Berlin . Ihr schwerkrankes Kind hat tatsächlich bis zum Abend gegen 7 Uhr ohne jede Wartung in der Wohnung liegen müssen. Erst dann konnte sich eine mitverhaftet gewesene Dame, die am Donnerstag abend entlassen wurde, des armen Kindes annehmen. Wiederholte Vorstellungen der Frau Dr. Bienstock wegen der Krank- heit ihres Kindes waren in der geschilderten Weise unberücksichtigt gelassen worden. Die Polizei sieht offenbar hier ihr schweres Un- recht bereits ein, denn man hat der Frau Dr. Bienstock zugesichert� daß sie sich bis auf weiteres in Deutschland aufhalten könne. Es ist uns nicht möglich, heute alle Einzelheiten zu bringen. die uns über die skandalöse Angelegenheit noch bekannt geworden sind. Nur daS sei bemerkt: Die Sistierten durften sich nicht selbst beköstigen, sie wurden der Leibesvisitation unterzogen, ja sogar auf Insekten untersucht(dies geschah unter anderem der Frau Dr. Bienstock). Eine große Zahl bereits wieder freigelassener Personen wurde vor der Freilassung nach Verbrechcrart in den bekannten drei Stellungen photographiert. Das ist z. B. auch rnft dem Studenten Kroll geschehen. Noch einige allgemeine Bemerkungen. Die Polizei versucht. auS durchsichtigen Gründen alle« auf die russischen Studenten zu schieben. Eine ganze Zahl der Betroffenen sind aber keiua Studenten, z. B. Frau Dr. Bienstock. Von den Sistierten ist auch nicht ein einziger verhört worden; auch nicht an einen einzigen sind Fragen gestellt worden; keinem ist so Gelegenheit gegeben worden, sich zu rechtfertigen und in seinem Interesse zur Aufklärung beizutragen. Die Ausweisungen, die für alle Betroffenen sehr ernst sind, für manche geradezu eine Vernichtung der Existenz bedeuten, sind verfügt, ohne daß die geringste Möglichkeit einer Verteidigung gewährt worden wäre. Die Ausweisungen wurden mündlich eröffnet. Das Verlangen nach Mitteilung einer schriftlichen Ausweisungsverfügung wurde, ob- wohl es gesetzlich zweifellos gerechtfertigt, schroff zurückgewiesen. Und das Fazit? Die Haupt- und Staatsaktion der Polizei ist, trotz aller Verschleierungsversuche, zerplatzt wie eine Seifen- blase. ES bleibt nicht» übrig, als eine grenzenlose Blamage für die Polizei und ein erneutes Exempel rücksichtslosester Polizei- Willkür gegenüber harmlosen und schutzlosen Ausländern. Wir rufen die öffentliche Meinung, soweit sie noch eine Empfindung für Kulturpflichten besitzt, soweit sie noch der Em- pörung gegen den PolizeiabsolutiSmus fähig ist, auf, sich unserem flammenden Protest gegen diesen neuesten Polizeiskandal großen Stils anzuschließen. Vom fünften Parteitag der sozialdemokratifche» Partei Rußlands . Die Leser des.Vorwärts' wissen schon, daß es dem Parteitag der russischen Genossen endlich gelungen ist, nach langem vergeblichen Suchen und Herumirren im gastlichen England Zuflucht zu finden. Am Abend des 13. Mai fand die Eröffnungsfeier statt, eingeleitet durch die Begrüßungsrede des provisorischen Präsidenten, Genossen Plechanow . Anwesend waren 279 vollberechtigte Delegierte, die an- nähernd 130000 Parteimitglieder vertreten, und 48 Gäste mit beratender Stimm«. ES entfallen auf die Fraktion derBolschewik' mit Lenin und AlexinSly an der Spitze 81 Mitglieder, auf die Menschewiki und das Zentrum mit Plechanow , Dahn , Axelrod 80 Mitglieder, auf den Jüdischen Arbeiierbund 34 Mitglieder, die ebenso wie die 23 Delegierten der Lettischen Sozialdemokratie teils auf dem Standpunkt der.Menschewtki' stehen, teils die vermttielndc Stellung de« Zentrum» einnehmen: die 39 polnischen Sozialdemokraten schließen sich durchweg denBolsche- Witt' an. Luch die nationalen Organisationen haben ihre besten Kräfte entsandt, so z. B. Abramowilsch und Medem vom.Bund', Tyszko von den Polen . Auf diese Weise gestaltet sich das Kräfte- Verhältnis auf den: Partestag ähnlich, wie bei der letzten Partei» konferenz: keine der beiden Frakttonen hat das Uebergewicht, und wieder sind es die nationalen Organisationen, von deren Stellung die oder jene Lösung jeder einzelnen Frage abhängen wird. Die Wahl de? Präsidiums, die Aufstellung der Geschäfts- und Tagesordnung nahni volle drei Tage in Anspruch, dank dem leidigen Fraktionskampf, der bei dem geringsten Anlaß zum Durchbruch kam und sehr scharfe Formen annahm. Die PräsidiumSfrage wurde schließlich dahin geregelt, daß von jeder Fraktion und nationalen Organisation ein Mitglied ins Präsidium berufen wurde. Desto heißere Debatten entsponnen sich um die endgültige Tagesordnung, als deren ersten Punkt die.Bolschewiki' daS in der provt- sorischen Tagesordnung nicht vorgesehene Thema:Die Rolle deS Proletariats in der gegenwärtigen politischen Situation' gestellt haben wollten. Jedoch lehnte der Parteitag den Antrag mit 142 Stimmen der Menschewiki, des Bundes und der Letten gegen diejenigen der Bolschewiki und Polen ab, mit der Begründung, daß bei der schroffen Gegensätzlichkeit der Ansichten djp Debatten über eine solch abstrakte, allgemein gehaltene Frage fruchtlos sein und den Parteitag in einen bloßen Diskussionsklub verwandeln würden. Ebenso wenig günstig für die Bolschewiki fiel die Eni- scheidung im zweiten, nicht minder leidenschaftlichen Kampf um die Tagesordnung. Als einer ihrer ersten Punkte war nämlich die Frage des sogenannten.PartisanenkampfeS' (Expropriationen, KainpieSorganisationen usw.) vorgesehen. In ihrem Bekenntnis zu dieser Kampfmethode stehen aber die Bolschewrki in der Partei ganz allein, so daß eine scharf mißbilligende Resolution deS Parteitages so gut wie sicher ist. Um dem zu entgehen, ver- suchten die Bolschewiki diesen Punkt der Tagesordnung dadurch un- schädlich zu machen, daß sie beantragten, ihn als letzten zu setzen und die letzten Punkte gelangen erfahrungsgemäß auS Zeitmangel nie zur Verhandlung. Dieser Plan wurde aber vereitelt, der Antrag mit demselben Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt, so daß über den Partisanenkampi zweifellos verhandelt werden wird, WaS angesichts der Aktualität dieser Frag« von großer Wichtigkeit ist. Der vierte Verhandlungstag war dem Bericht oder richtiger den Berichten deS genttalen Komitees der Partei gewidmet. Der offizielle Bericht ist vom Standpunkt der Menschewilt verfaßt,