Nr. 180. 24. Jahrgang.

4. Beilage des„ Vorwärts  " Berliner Volksblatt.

Upton Sinclair  . The Industrial Republic". New York   1907.*) H. G. Wells  . ,, The Future in America". London   1906.

Literarische Rundfchau.

In ihrem Verhältnis zueinander zeigen sie den Unterschied der Geschichtsauffassungen der Gelehrten Amerikas   und Englands. In Amerika   ist die Geschichte bereits eine Wissenschaft; in England ist sie zum Teil noch Kunst, das Gebilde starker Menschen, obwohl in den letzten zwei, drei Jahren auch in England die wissenschaftliche Auffassung der Geschichte rasche Fortschritte macht, so besonders in der" Cambridge   History". Aber Wells hat keine Zeit mehr, der neuen Strömung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

des Menschen und der Menschheit, liegt in der Form des Willens, in der Quantität und Qualität des Willens. Das Drama in der Zukunft einer Nation liegt im Konflikt des Willens mit den ge­gebenen Verhältnissen. Wäre der Mensch oder die Nation ein mit Durchschnittsmotiven ausgerüsteter Automat, dann ließe sich genau sagen, wie er oder sie handeln würde. Aber unser Interesse beginnt eben dort, wo das Ding nicht automatisch ist."

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Sonntag, 4. August 1907.

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„ Aber manche sagen, sie wollten keine Aenderung. Sie haben ihre alte Rutine und ihre alten Gewohnheiten, ihre alten, aus­getretenen Pfade liebgewonnen sie wollten da bleiben, wo sie sind. Diese Wünsche können aber nicht erfüllt werden. Wir müssen entweder vorwärts oder rückwärts gehen. Wenn der kritische Augenblid kommt, da gibt es fein Entfliehen. Wenn die Geburtsiehen beginnen, da muß entweder das Kind geboren werden oder die Mutter sterben; wenn die Revolutionsschmerzen sich einstellen, da müssen die alten Formen zerbrochen oder das Leben des Volkes vernichtet werden. In Frankreich   gab es einst eine geistige Erneuerung und eine Revolution; in Spanien   gab es weder eine Reformation noch eine Revolution. Frankreich  gab und gibt uns Literaturen, Philosophie, Wissenschaften, An­triebe auf Antriebe ohne Ende; Spanien   aber verfiel der Stagnation und dem Ruin. Die Aufgabe war zu schwierig für den Spanier; sie haben Jahrhunderte als Nachbarn eines als Rasse und Religion fremden und feindlichen Volkes gelebt; das Resultat war, daß sie sich einem militärischen und religiösen Despotismus unterordnen mußten. Und als die Gefahr vorüber war, als die Zeit kam, das Joch abzuwerfen, da wurden die Spanier von ihren Königen und Priestern gemartert und ber= brannt und ihre besten Kräfte wurden vernichtet. Der freiheit liche Impuls erlosch und mit ihm ging die Nation zu Grunde." Wir können also beim alten, so gut und zwedentsprechend es in

Im Gegensaße zu Wells gibt uns Sinclair keine Eindrücke, sondern Tatsachen und Gedanken. Die Tatsachen sind nicht immer genau und die Gedanken sind zuweilen hastig zusammengetragen Sinclair widmet sein Buch, das die soziale Revolution, die und formuliert, aber sie sind immerhin mit Geschick zusammen­Herstellung etner sozialistischen Republik in Amerika   auf das gestellt. Sinclair sieht, daß das kapitalistische System in Amerika  Jahr 1913 voraussagt, seinem Freunde Wells. Und Wells schrieb seinem Ende entgegengeht. Es kann die Mehrheit nicht mehr be­fein Buch als einen Bericht über eine Reise in den Vereinigten friedigen. Es hat seine Mission erfüllt, ebenso wie der Absolu­Staaten, wo er vieles gesehen, viel empfunden, und mit Schrift­Es ist nicht schwer, das Oberflächliche dieser Behauptung auf- tismus in Frankreich   seine Mission zu Ende des 18. Jahrhunderts stellern, Universitätsprofessoren und hochgestellten Politikern ber­fehrt hat. Sowohl Sinclair   wie Wells gehören zu den gelesensten zudecken. Wells   hätte sich nur fragen sollen, woher der Inhalt des erfüllt hatte. Der Absolutismus   organisierte Frankreich   in eine Schriftstellern unserer Zeit. Beide sind Sozialisten. Ohne seine Willens kommt. Es ist wohl richtig, daß in den verschiedenen einheitliche Nation und befähigte es, seine nationalen Aufgaben Konflikten in der Menschheitsgeschichte sich oft der Wille einer zu erfüllen. Aehnliches tat das abfolutistische Kapital in Amerika  . Bekanntschaft mit dem modernen Sozialismus wäre Sinclair zwar Nation oder einer Klasse in einen Gegensatz zu den gegebenen Ver- Die Produktivkräfte sind entfaltet; die Technik ist den sozialen immerhin ein guter Novellist oder Journalist geblieben, aber er hältnissen gestellt hat. Aber woher nahm die Nation, die Klasse Bedürfnissen angepaßt; etwas Neues ist im Werden begriffen. hätte nie den Ruf erlangt, den er jetzt genießt. Es ist eine fozialistische Gedankenwelt, die feinen literarischen Formen Kraft oder die Persönlichkeit den neuen Willen? Es soll ferner nicht Die alte Ordnung ändert sich. gibt. Wells   ist anders geartet. Er steht als Schriftsteller entschieden geleugnet werden, daß die Willenskraft einer Nation oder einer höher als Sinclair  . Er ist fünstlerischer, ausdrucksreicher, sprach- lasse eine bedeutende Rolle in der menschlichen Entwicklung gewaltiger; er ist einer der größten Meister der englischen Sprache, spielt. Aber unser ganzes Forschen verliert den wissenschaftlichen aber seine Gedankenwelt ist nicht so einheitlich, nicht so gefestigt. Charakter, wenn wir die menschliche Willenskraft als die letzte Sie hat ihre Wurzeln in der Lehre vom organischen Leben und innstang betrachten. Das hieße den Gang der Geschichte auf die der Psychologie. Die sozialgeschichtlichen und wirtschaftlichen Fat- starte Bersönlichkeit zurüdzuführen. Wells sucht deshalb nach den toren werden von ihm mehr durch Intuition als durch flares Persönlichkeiten und der Zwedsegung der amerikanischen   Gesell­Denken begriffen. Sinclair argumentiert, setzt seine Welt- schaft, während Sinclair die Resultate der bisherigen amerika­anschauung auseinander, geht von bestimmten Voraussetzungen nischen Entwidlung aufbeden will. aus und zieht Schlüsse. Der Novellist wird zum Agitator. Wells grübelt, spekuliert, zweifelt und wird zum sozialistischen Impressio­niften. Sinclair sieht Kräfte, Sachen, Erscheinungen; Wells fucht An positiven Tatsachen ist Wells Buch nicht reich. Es hin­nach Persönlichkeiten, Verkörperungen von starkem Willen. Sinclair terläßt nichtsdestoweniger einen tiefen Eindruck von der unge­stellt sozialgeschichtliche Entwidelungsphasen mit bestimmten Renn- heueren Größe, der gewaltigen wirtschaftlichen Arbeit, des fabel­zeichen und in scharfen Umrissen vor; Wells sieht ein Jagen, Hasten, haften Reichtums, des unaufhaltsamen Fortschritts der Vereinigten Wachsen und frägt in fünstlerischer Verwirrung: Wohin geht die Staaten. Die Vereinigten Staaten sind ein Land, das nur aus Reise? Was will das bedeuten? Was will werden? der Bourgeoisie besteht. Das ist ihr wirklicher Charakter. Die Tugenden und Schwächen dieses Landes sind die Tugenden und Echwächen einer sich ungehemmt entwickelnden Burgeoisie. Wells arbeitet diese Auffassung in längeren Ausführungen aus. Dieser Gedanke hat aber mit seiner Grundauffassung vom Willen als wesentliche Triebfeber nichts zu tun. Dieser Gedanke ist aber auch nicht Wells Eigentum. Er wurde ihm bon Sinclair   suggeriert. Wells sagt das zwar nicht, aber aus einer Bemerkung Sinclairs in deffen Buch Industrial- Republic" geht das hervor. Ebenso­wenig hat Wells die großen Persönlichkeiten in den Vereinigten Staaten   getroffen, durch welche er das wundervolle Aufblühen dieses Landes hätte erklären können. In der Tat, seine Willens theorie steht in gar keinem Zusammenhange mit seinem Buche. Er sieht die Konzentration von ökonomischer und politischer Macht in den Händen weniger, aber er versuchte nicht im geringsten, diese Wenigen als die Urheber dieses Prozesses hinzustellen. Er fieht die ungeheure Anarchie, die Korruption, die Regel- und Biellosigkeit des Wirkens der Einzelnen; er sieht auch, wie aus diesem anarchischen Wirken doch etwas Organisches und ein un­aufhaltsames Fortschreiten herauskommt, aber er ist von den Details so überwältigt, daß ihm der Blid aufs Ganze erschwert wird. Inmitten dieses anarchischen Wirkens erscheinen ihm die amerikanischen   Universitäten, Bibliotheken, die wundervolle Technik, Nach Sinclair gleicht die gegenwärtige Phase Ameritas ber- die grandiose Newyorker Architektur und die freien Traditionen jenigen von ungefähr 1855, die schließlich den Bürgerkrieg brachte, des Landes als Lichtpunkte. Die Wissenschaft und die Freiheit, jenigen von ungefähr 1855, die schließlich den Bürgerkrieg brachte, der Geist des Forschens und der Initiative werden Amerika   aus bie Regersklaverei abschaffte und die Großindustrie, den leßten Ab­schnitt des privatwirtschaftlichen Zeitalters, einleitete. Sinclair der Anarchie und der Korruption zur sozialistischen, zielbollen hat zwar noch manches, noch vieles zu lernen, um den historischen Organisation führen und zum Pionier des Sozialismus machen. Materialismus richtig anwenden zu können; er macht den Eindruck In der Johns Hopkins  - Universität in Baltimore   und in Haward­eines unsicheren Marristen, der erst gestern mit der neuen Lehre Universität in Cambridge   bet Boston toird ernst geforscht; - bekannt wurde und noch keine Zeit hatte, in irgendwelche Details als Textbuch der politischen Oekonomie wird dort Mary' Sapital" Wellesley- College( Frauen- Universität) wird viel gelernt benutzt. Trotz aller Korruption und Lohnsklaverei sind die Amerikaner das freteste Bolt der Erde, und an tühner Initiative stehen sie einzigartig da. Diese Tugenden werden in Amerika  einen Bäsarismus nicht aufkommen lassen. Nur ein einziges Mal kehrt Wells zu seiner Willenstheorie zurück. Er hatte eine längere Unterredung mit Mr. Roosevelt, der ihm mächtig imponierte. Roosevelt   erschien ihm als die Verkörperung alles Großen, Starken, aber auch aller Schwächen Amerikas  : In seiner undisziplinierten Hast, seinen Beschränktheiten, seinen Vorurteilen, seiner unfair­ness"( Parteilichteit, Ungerechtigkeit), feinen vielfachen Jrrungen, aber auch in seiner Kraft, seinem ungeschwächten Mute, seiner Integrität, seiner offenen Intelligenz steht Roosevelt   als Abbild seines Volkes und seiner Art."

Der Unterschied zwischen den beiden Aufassungen wird sich zeigen in den folgenden Auszügen aus Sinclair und Wells. Sinclair schreibt:

...

" Dieses Buch ist ein Versuch, das soziale Problem unserer Zeit im Lichte der Entwidelungslehre zu erklären; die ameri­fanischen Einrichtungen zu betrachten, wie sie im gegenwärtigen Augenblide existieren, welche Kräfte an ihnen wirken und welche Alenderungen sich an ihnen vollziehen... Dieses Buch will die Kräfte zeigen, die sich jetzt in Amerika   rasch entwickeln und die, wenn sie die Reife erlangt haben, die sozialistische Republik  bringen werden. Dieser Prozeß ist ebenso natürlich und un­vermeidlich wie derjenige, durch welchen das Küchlein aus dem Gi hervorbricht. Ich glaube, der wirtschaftliche Prozeß bewegt sich mit schrecklicher Schnelligkeit dieser Krise entgegen."

einzubringen.

Hören wir demgegenüber Wells: „ Die materiellen Faktoren sind für die Zukunft einer Nation untergeordnete Faktoren; sie bieten zwar Vorteile, wie zum Beis spiel der leichte Zugang Englands zum Meere und zu Kohlen­feldern, oder sie bringen Nachteile, wie zum Beispiel die durch Eis gesperrten Küsten Rußlands  , aber das sind Umstände und nicht notwendigerweise die Beherrscher des Schidjals. Der wesentliche Faktor im Schicksal einer Nation, ebenso wie in dem

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ber Bergangenheit war, nicht stehen bleiben. Wir müssen vorwärts, „ Aber sagen unsere wenn wir eine Zukunft haben wollen. Gegner, die Sozialisten wollen den Wettbewerb und das Gesetz des Ueberlebens der Tüchtigen abschaffen und somit den Fortschritt unmöglich machen!" Darauf sagt Sinclair:" Die Sozialisten wollen weder den Wettbewerb noch das lleberleben der Tüchtigen unmöglich machen. Sie wollen nur die Form des Wettbewerbes und den Maßstab der Tüchtigkeit ändern.

Der Verfasser gibt sodann eine Stritit der amerikanischen   Zus stände: der politischen Korruption, der grausamen Rücksichtslosigkeit in den Fabriken und Minen, der weitverbreiteten Armut, des uns crhörten Zurus, der innigen, unheiligen Allianz zwischen Gesetz­gebung und Industrie, des Wachsens des Imperialismus; er häuft Bitat auf Bitat, Bahl auf Bahl, Gedanke auf Gedanke, bis die Anklage gegen die bestehende Ordnung erdrückend wird.

Es ist beachtenswert, daß beide hier genannten Verfasser eine Antipathie gegen das herrschende Deutschland   haben. Wells ist ge= mäßigt; Sinclair dagegen schreibt mit Sympathie für die deutsche Sozialdemokratie und betrachtet das deutsche sozialistische Prole= tariat als die Bioniere der neuen Weltanschauung.

Sinclairs These, daß die Vereinigten Staaten   im Jahre 1913 die Aufrichtung der sozialistischen Republik sehen werden, wird vor allem sozialwirtschaftlich begründet. Dann zieht er eine Parallele zwischen den zwei Jahrzehnten, die dem Bürgerkrieg borangingen und den Jahren 1893-1914. Auch die Politiker, die in diesen Paralleljahren sich bemerkbar machten, zeigen gewisse Aehnlichkeiten, zu deren Verständnis aber eine sehr genaue Kenntnis der amerika­ nischen   Geschichte des 19. Jahrhunderts gehört. Interessant ist die Parallele Lincoln- Hearst. Der Verfasser glaubt, daß ber lette bürgerliche Präsident Ameritas Hearst sein werde, ebenso wie Lincoln   der letzte fleinbürgerliche Präsident war. Dieser Parallelis mus war in der New Yorker bürgerlichen Wochenschrift Independent" veröffentlicht, deren Redakteur noch die Bücher: Uncle Tom's Cabin" und" The Jungle  " gegenüberstellte als weite ren Beweis der Aehnlichkeit der beiden Beitabschnitte. Sinclair  schließt sein Buch mit Ausblicken auf den Bukunftsstaat. M. Beer.

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