Kr. 183. 24. Jahrgang. kW des Donnerstag. 8. Angnfl IM. vs! MflinllMsnzigjshi'ige Zubilsum! äe; Krüiieler„liiaiio» clu peuple". Brüsiel, den S. August. Seit Sonntag steht das Brüsseler?.lsison 6u?eul)Ie im Flaggenschmucr. Das Gebäude ist mit Girlanden und Motiven elektrischer Glühlampen umzogen; eine aus Lichtern gebildete Pforte und verschiedene„Willkommen" grüßen den Nahenden. Zwei große Ziffern— 1882— 1907— zeigen, was die Brüsseler Arbeiter- schaft diese Woche feiert: das fünfundzwanzigjährige Jubiläum ihrer Kooperation. Trotz seiner Armut und seiner Not weiß kein Volk mit solcher Gründlichkeit und solch breiter Fröhlichkeit Feste zu feiern, wie das belgische! Freilich der Geist der alten Kirmesfröhlichkeit hat sich gewandelt und in anderer Richtung weiter gebildet— wenigstens in der sozialistischen Arbeiterschaft. Die sozialistische Idee, das soziali- stische Ideal einer besseren Weltordnung hat dem Volk eine andere sittliche Grundlage gegeben, und der ererbte Sinn für kräftige Fröhlichkeit, für das Farbige und Malerische, zeigt sich bei ihm jetzt hauptfächlich in den freudigen Ereignissen, die der sozialistische Kampf und die sozialistische Arbeit bringen. Tie aus kleinsten An- sängen mit einem Bestand von 84 Familien gegründete einstige armselige Kooperativgesellschaft ist heute, nach 25 Jahren des Ringens und Strebens, ein ansehnliches Werk, und mit seinenj 20 000 Mitgliedern, seinen 6 Schwesterhäusern, seinen 25 Filialen, seinen 4 Fleischereien, seinen modernen Bäckereien und großen Kohlenlagern, seinen mannigfachen Unterstützungs- und Pensions- cinrichtungen der Stolz der Brüsseler Arbeiterschaft geworden. In allen großen Kämpfen ist das Brüsseler IVloison du Peuple der Arbeiterschaft bisher ein Helfer gewesen. Seine Bibliothek, seine belehrenden und unterhaltenden Veranstaltungen haben Taufende der Aermsten ergötzt und erzogen. Uebcrflüssig zu sagen, was das Maison du Peuple als Konsumgenossenschaft leistet; seine Umstitz- ziffer von rund 5 Millionen Frank jährlich spricht dafür, daß die Arbeiter in der sozialistischen Kooperativgescllschaft in jedem Sinne ihren Vorteil finden. Sonnabend durchzog ein imposanter Fackelzug, von vier Musik- kapellen begleitet, die Stadt..Was das in Brüssel bedeutet, kann sich nur der vorstellen, der das Volksleben hier kennt. Aus solch einem Fackelzug wird im Nu ein Volksfest mit Gesang und Tanz. Den höchsten Reiz bot das Bild auf dem giebelumkränzten riesigen Marktplatz mit dem dunkelaufragcnden Turm des mäch- tigen Rathauses, als der in taufenden Lichtern strahlende Zug durch die fröhliche Äenge zog. Unbeschreiblich war der ausbrechende Jubel, als der Zug beim Liaison du Peuple ankam, und der Volks- Palast plötzlich aus der Dunkelheit in hellem Licht aufflammte., Das war das Vorspiel. Der Sonntagvormittag brachte den großen Umzug, an dem stattliche Abordnungen von Arbeitern aus allen Provinzen teilnahmen. Nach vielen verregneten Wochen ein strahlender Augustmorgen. Ueber die inneren Boulevards mutzte man sogar zu Fuß laufen, weil der Tramwagenverkehr ein- gestellt war. Zu beiden Seiten der Boulevards stehen dichte Barrieren von Menschen, viele mit roten Blumen geschmückt, die massenhaft feilgeboten werden. Nach langem Warten ertönt das Signal, die Fahnen bewegen sich, der Zug rückt an. Vor ihm be» rittene Polizisten, die erst den Platz säubern müssen. Den Zug eröffnet die„Harmonie" des„Genter Vooruit", die den Tann� Häusermarsch spielt, darauf kommt die Gruppe der Streikenden aus Welleren bei Gent . Die Stimmung schlägt bei ihrem Anblick um. Zu Hause stehen seit 10 Wochen 1200 Arbeiter im Kampf. Ihre Löhne sind 8— 10 Frank geringer als die der Genter. Jeder langt nach einer der für 10 Centimen feilgebotenen Karten mit dem Bild- nis der Streikenden vor dem Schloß des Unternehmers. Dann kommen weitere Gruppen aus Gent , Alost . Brügge und Courtrai , aus Antwerpen , Lüttich und den übrigen Provinzen: alle mit Musik, Fahnen und Standarten. Zwischendurch„feune Gardes"- Gruppen und Vertretungen der verschiedenen sozialistischen Koope» rativgesellschaften. Doch das Richtige kommt erst noch: der historische Festzug, der mit Bildern, Inschriften, Allegorien und Fcstwagen die Geschichte des Maison du Peuple, seinen Anfang, seine Kämpfe, seinen Auf- schwung und seine Taten erzählt. Nun rücken die Bäcker des Maison du Peuple an. in Weißen Gewändern und Mützen, denen ein großer Wagen der Bäcker mit einer Allegorie folgt. Dann kommen"die gelbgestrichenen Brotwagen und Spezereiwagcn, dann ein Schiff mit Lebensmitteln, ein Kohlen, Waggon, auf dem eine Arbcitergestalt lehnt, wie sie Meunier ge- meißelt, dann der Wagen, der die medico-pharmazeutischen Ein- richtungcn symbolisiert, darauf der originelle Festwagen der Presse mit einer Tabelle aller sozialistischen Blätter der Welt. Weiter folgen schmucke Kindcrgruppen,„Enlants de Peuple", die Schar der weiblichen Angestellten mit ihren munteren vlämischcn Ge- sichtern. Alle Seitenstraßen und der Platz waren schwarz von Menschen. Ein wilder Wirbel von Musik, ein dumpfes Brausen der Menge. Am Sonntagnachmittag fand die Aufführung der für das Jubiläum komponierten Fcstkantatc mit 1000 Sängern statt, und der Abend brachte Ballspiele. Konzerte und Theateraufführungen. Für Montag sind Ausflüge zu Schiff geplant. Wie man sieht: die belgischen Genossen verstehen nach sauren Wochen frohe Feste zu feiern._ Ziegeleiarbeiter. Wie groß die Zahl der in den Ziegcleibetrieben beschäftigten Lohnsklaven ist, d,e noch zur Organisation herangezogen werden muß. ersehen wir aus dem soeben erschienenen Geschäftsbericht der Ziegelei-Berufsgenosienschaft pro 1906, der uns einigermaßen ein Bild der Lage dieser Arbeitcrkategorie gibt. Lersichert waren im Jahre 1905: 11 693 Betriebe mit 289 675 Arbeiter, .„., 1906: 11 692.. 288 831. Der Bestand ist also gegen das Vorjahr ziemlich gleich ge- blieben. Der Bericht erwähnt wohl die Gesamtzahl der verdienten Löhne, nicht aber den Durchschnittslohn pro Kopf der Arbeiter. Die Berufs- genossenschaft hatte allerdings alle Ursache, auf die„Details" dieser Frage nicht einzugehen, sondern lieber große Gesamtzahlen zu nennen, das sieht schöner und wirkungsvoller aus. Anders wirkt die Berechnung pro Kops, wie folgende Aufstellung zeigt: Sektion I. sElbina).. H.(Posen).., HL(Stettin ).. IV.(Berlin ).,. V.(Breslau )., Vl.(Dresden ).. VH.(Magdeburg ). VUL(Lübeck )... IX.(Hannover ),. X.(Dortmund ). XI.(Köln a. Rh.), XII.(Wiesbaden ) XHI.(Mannheim ). XIV.(München ).. Man beachte diese Hungerlöhne in den einzelnen Sektionen und wird sich dann über die Rückständigkeit der großen Mehrzahl der o.rmen Ziegeleiarbeiter nicht wundern. Im Berichtsjahr wurden 6972 Unfälle mit 162 Todesfällen gemeldet gegen 6547 im Vorjahre. Die Zahl der Unfälle ist gegen das Vorjahr um 425 ge- stiegen. Der Bericht bemerkt hierzu:„Die ständige Zunahme der Unfälle dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, daß die Zahl der beschäftigten Arbeiter von Jahr zu Jahr wächst." Das st i m m t doch nicht g a n z I Gegen das Vorjahr ist doch die Zahl der beschäftigten Personen zurückgegangen und trotzdem die Zunahme der Zahl der Unfälle. Die Berufsgenossenschaft erklärt sich aber die Zunahme der Unfälle„durch die genauere Beachtung der Unfall Meldung",—„die mehr und mehr in alle Kreise der arbeitenden Bevölkerung eindringende bessere Kenntnis der Arbeiterschutzgefetzel und im engen Anschluß daran die Tätigkeit der Arbeitersekre- tariate, Anskunflsstellen usw."— Ferner„das Bestreben zahl- reicher Arbeiter, möglichst jede Verletzung, auch wenn sie mit dem Betriebe nichts zu tun hat, als einen Betriebsunfall hinzustellen". Diese Redensarten haben wir schon besser gehört! Sehr naiv meint der Bericht:„So gelangten im Berichtsjahre 210 Unfälle zur Anmeldung, die einen Leistenbruch zur Folge haben sollen." Leistenbrüche haben doch sehr wohl etwas„mit dem Betrieb zu tun" und werden dank unserer„verbesserten Rechtsprechung" trotzdem wicht mehr entschädigt. Der Wahrheit viel näher kommt der Satz:„Schließlich mag noch die in den Ziegeleibetrieben übliche Akkord- arbeit erwähnt werden, bei welcher die Arbeiter mit dem Hasten und Streben nach möglich st hohem Ver- dien st nicht immer die nötige Vorsicht verbinden." Akkord- arbeit ist also doch Mordarbeit 1 Und trotz„Hasten und Streben" nach„hohem Verdienst" diese Jammerlöhne? Ferner heißt es im Bericht:„Daß die zahlreichen ausländischen Arbeiter in den genossen- ichaftlichen Betrieben den Unfallverhütungsvorschristen fast keine Beachtung schenken, ist eine Tatsache, die in den Unfallziffern jedenfalls zum Ausdruck kommen muß! I! Auch die„einheimischen Arbeiter" stehen den Vorschriften „völlig gleichgülsig gegenüber".„Zahlreiche Unfälle hätten ver- mieden iverden können, wenn auch die Berufsgenossen(Unter- nehmer) den Unfallverhütungsvorschristen stets die notwendige Beachtung schenken würden". Wie zart I Aus dem beigefügten Bericht der Aufsichtsbeamten der Berufs- genossenschaft sehen wir. daß die Mahnung der Berufsgenossenschast viel deutlicher sein konnte. ES heißt da:„In Il£8 von 1177 besichtigten Betrieben mußten Schutzvorrich- tungen angeordnet werden." In 96 Pro z. aller revi- dierten Betriebe mutzte» also Mängel beseitigt werden! Jnleressanl ist deshalb der Gedankengang der Beamten über die Ursachen der Unfälle usw. Sie berichten: „Manche Arbeitgeber wie Arbeitnehmer verhalten sich der Unfallverhütung gegenüber noch ablehnend, da sie in den erforder- lichen Maßnahmen eine Erschwerung der Arbeit erblicken. Vielfach erklären Arbeitgeber,„daß Achtsamkeit das beste Mittel zur Ver- hütung von Unfällen sei". Jedoch auch die Arbeitnehmer haben sich noch nicht an die Unfallverhütungsvorkehrungen gewöhnt; sie lasten dieselben vielfach gänzlich außer acht. So wurde z. B. gesehen, daß Arbeiter mit den Händen in die Arbeilsmaschinen griffen; auf Vorhaltung kamen sie niw mit Widerstreben der an sie gestellten Aufforderung zur Benutzung der Schutzmittel nach. Namentlich beim Abbau in Sand- und Tongruben antworten dre Versicherten auf den Hinweis der Vorschriftswidrigkeit, daß sie den Abbau in der Weise bereits jahrelang betreiben und daß während dieser Zeit ein Unfall noch nicht vorgekommen sei. Ein Arbeiter gab sogar folgendes zur Ant- wort:„Weshalb sollen wir uns das Leben durch Befolgung der vielen Vorschriften besonders erschweren, stößt jemandem ein Unfall zu, so muß der„Unfall"(bevorzugter Ausdruck der Arbeiter) für uns sorgen. Bei etlvaigem Todesfalle steht die Familie unker Umständen besser da als zu Lebzeiten des Vaters, da dieser recht häufig den größten Teil des Verdienstes für sich verbraucht". Die Beseitigung der Schutzvorrichtungen durch die Arbeiter wurde auch in diesem Jahre häufig festgestellt. Daß die Arbeitnehmer den Schutzmaßnahmen so wenig Interesse entgegenbringen, fällt in unserer Industrie noch mehr ins Auge als bei anderen Erwerbszweigen. Dieser Umstand ist wohl darauf zurückzuführen, daß gerade in den Ziegeleibetrieben ein Arbeiterstanun selten vorhanden ist. Der häufige Wechsel der Arbeiter, deren Bildungsgrad ein Interesse für die Angelegen« heiten des Betriebes nicht aufkommen läßt, sowie die Gleich- gültigkeit der zahlreichen ausländischen Arbeiter erschweren die Wohlfahrtsbcstrebungen des Unternehmers erheblich." Der„Vater" braucht wahrlich kein Trunkenbold zu sein, wenn er den„größten Teil des Verdienstes für sich verbraucht". Viele Ziegeleiarbeiter arbeiten weitentfernt von Weib und Kind, a la Sachscngänger und haben für Wohnung, Kost und Kleidung usw. selbst zu sorgen. Kann da bei diesem Durchschnittslohn von 660 M. viel übrig bleiben? Ist es nicht ein Hohn auf die soziale Lage dieser Aermsten, daß die Hinterbliebenen aus der Unfallrente mehr be- ziehen als bei Lebzeiten des Baters? Das Rechenexempel ist ja nicht schwer. Bei einem Durchschnittslohn von 660 M. pro Jahr würde eine Witwe mit zwei Kindern 396 M. Hinterbliebenenrente pro Jahr erhalten. Der Vater konnte diesen Betrag bei Lebzeiten nicht erübrigen I Da„lohnt sich daS Sterben" für die arme Familie! Aus der Statistik fällt uns noch auf, daß nach der Zahl der Unfälle in den einzelnen Monaten des Jahres unsere modernen Dampfziegeleien daS ganze Jahr hindurch in Betrieb sind und deshalb die Durchschnittslöhne der Arbeiter noch mehr auffallen. Die gemeldeten Unfälle ereigneten sich nach Monaten: Fan. Febr. März April Mai Juni Juli August Sept. Okt. Nov. Dez. 463 367 537 536 777 718 699 819 555 545 483 443 nach Wochentagen: Sonntag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Sonnab. 104 1176 1065 1135 1054 1150 1179 „Von den Wochentagen ist der S o nn a b e n d am meisten be- belastet", bemerkt der Bericht hierzu.„Von den Tagesstunden fallen die Vormittagsstunden von 9—12 durch die hohe Zahl von 1756 Un- fällen auf; diesen Stunden zunächst steht die Zeit von 3—6 nach- mittags mit 1601 Unfällen." Alter der Verletzten: 14—20 21—40 40—60 über 60 Jahre nicht angegeben 1319 3232 2044 290 37 Fälle Interessant sind auch folgende Zahlen: Von den angemeldeten 6972 Unfällen haben ihre Erledigung gefunden: 1. durch Heilung innerhalb der ersten 13 Wochen.. 4246 Fälle 2. durch Entfchädigimgsfeststellung....... 1706, 8. durch Ablehnung der Ansprüche...... 856, 25,7 Proz. der gemeldeten Unfälle wurden also nur entschädigt. Objektiver als die Statistik vieler anderer Berufsgenossen- schaften scheint uns die der Ziogelei-Berufsgenossenschaft bezüglich der Ursachen der entschädigten Unfälle zu sein. Bon den entschädigten Unfällen sind zurückzuführen auf mangelhafte Betriebseinrichtungen...... 144 Fälle Fehlen von Schutzvorrichtungen....... 49, Handeln wider bestehende Vorschriften oder erhaltene Anweisungen............. 152, Leichtsinn(Balgerei, Trunkenheit)....... 11. Ungeschicklichkeit, Unachtsamkeit........ 801 Fälle Fehlen von Schutzvorrichtungen und Unachtsamkeit der Arbeiter zugleich.......... 23„ Schuld von Mitarbeitern oder dritten Personen.. 51, sonstige angegebene, insbesondere in der Gefährlich- keit des Betriebes beruhende Ursachen.... 1624, nicht zu ermittelnde Ursachen und Zufälligkeiten, 31„ höhere Gewalt............. 12„ Der Bericht in seinen nackten Tatsachenangaben ist eine wuchtige Demonstration für besseren Schutz dieser geplagten Arbeiter- kategorie._ Achter Internationaler Aohnungs- fcongreß.' London , den 5. August. Unter außerordentlich starker Beteiligung von Delegierten auS der ganzen Welt wurde heute in der Caxton-Hall der 8. Jnter- nationale WohnungSkongresi eröffnet. Der Kongreß ist vom per- mancnten internationalen Wohnungskomitce einberufen, dessen Vor- sitzender der Direktor der Belgischen Nationalbank Lcpreux-Brüssel ist, und dem als Vertreter Deutschlands Prof. Dr. Albrecht-Berlin, Oberbaurat Dr. Etübben-Berlin und Prof. Fuchs-Freiburg i. B. angehören. Der Kongreß steht unter dem Ehrenpräsidium Sir Campbcll-Bannermans, Ehrenvizepräsidenten sind der Erzbischof vo» Cantcrbnr», Balsour M. P. u. a. Auf der Tagesordnung des Kon- gresses stehen die wichtigen Fragen der Wohnungsinspcktion, des Baues und der Verwaltung von Häusern und der Organisation deS öffentlichen Kredits zur Erleichterung der WohnungSbefchaffnug. ferner die Bobenfrage, das Verkehrswesen und schließlich die länd- liche Wohnungsfrage. Die Kongreßverhandlungen wurden mit einer Programm«- tischen Ansprache des Präsidenten des National Housing Coun» eils Baronet John Dickson- Pounder M. P. eingeleitet. Er wies auf das Zusammenströmen großer Bevölkerungsmassen in den Großstädten als einer Folge der industriellen EntWickelung hin. Die Entwickclnng hat in allen Ländern die Wohnungsfrage zu einem brennenden Problem gemacht. Der Austausch der Ge- danken der verschiedenen Nationen über ein solches Problem auf einem internationalen Kongreß ist deshalb zu begrüßen. Aber er hat noch eine tiefere Bedeutung. Die Nationen reichen sich auf solchen Kongressen die Hände, die Bande der Freundschaft werden befestigt und die Möglichkeit internationaler Zwistigkeiten schwindet immer mehr. Namens der englischen Regierung begrüßte John BurnS M. P den Kongreß mit einer inhaltsreichen Ansprache. Auch er verwies einleitend auf die Schwierigkeit der Lösung der Wohnungsfrage. Sie sei nicht nur eine Frage, die die alten Städte betreffe, sondern in viel höherem Maße die heranwachsenden großen Gemeinwesen. wie New Uork und das verhältnismäßig junge Berlin . Er ver- glich in humorvoller Weise eine Londoner Straße aus Dickens mit den Straßen von heute und fuhr dann fort: Die Wohnungsfrage ist ein viel größeres und tieferes Problem als das, gute Wohnungen zu schaffen. Die Wohnungsfrage enthüllt das ganze Problem der Armut und daS grosic Problem der ungelernten Arbeiter. ES ist nicht der Mittelstand, es sind nicht die gelernten Arbeiter, die uns Schwierigkeiten machen, sondern es sind die ungelernten Arbeiter. Ungesunde Wohnungen wird es geben, so lange es schlcchtentlohnte ungelernte Arbeiter gibt. Die Erhöhung des Standard of life des uygelernten Arbeiters, die Beseitigung ihrer menschenunwürdigen Lebenshaltung wird uns auf dem Gebiet der Woynungsfürforge weiterbringen. Es ist nicht einzusehen, weshalb viele ungelernte Arbeiter schlechter leben müssen als die Gefangenen in den Ge- fängnissen, als die Irren in den Irrenhäusern.(Beifall.) In London sind in dieser Beziehung schon große Fortschritte erzielt worden: man hat Logishäuser für die ungelernten Arbeiter er- richtet. Es muß nun dahingestrebt werden, auch den ungelernten Arbeitern die Möglichkeit zu geben, mit einer Familie in einem eigenen Hause zu leben.(Beifall.) Die Flucht vom Lande in die Städte läßt sich nicht aufhalten. Vielleicht hat eine bessere Er- ziehung der Völker zur Folge, daß sie einsehen, daß es besser ist, draußen auf dem Lande mit 35 Schilling ein sicheres Einkommen zu haben, als mit 45 Schilling wöchentlich in den Städten das Heer der ungelernten Arbeiter zu vermehren. Auch dafür ist die Entwickelung des Verkehrswesens von größter Bedeutung. Ein weiteres Problem, das mit der Wohnungsfrage aufs engste ver- knüpft ist, ist die Frauen- und Kinderarbeit. Redner stellte zum Schluß für das nächste Jahr die Einbringung eines Wohnungs- gesetzentwurfes in Aussicht(großer Beifall), warnte aber davor, alles dem Staate und den Gemeinden zu überlassen: Ermutigen Sie auch das Individuum, auf daß es im Verein mit Staat und Gemeinde zusammen das schwierige Problem der Wohnungsfrage löst.(Lauter Beifall.) Nachdem der Präsident des Kongresses, Sir Aldermann W. Thompson, die Aufgaben des Kongresses vorgezeichnet hatte, wurde in die eigentliche Tagesordnung eingetreten. Der erste Punkt betraf die„Wohnungsinspektion und die Verbesserung der Wohnungen der ärmeren Bevölkerungsklassen".— Faber-Holland schilderte die Tätigkeit der Wohnungsinspektorcn in Holland , deren Tätigkeit von den Hausbesitzern der schärfste Widetftand entgegen- gesetzt werde. Besonders die kleinen Städte wehrten sich gegen die Sanitäts- und Baubehörden, teils um selbst Kosten zu sparen, teils um eine Belastung der Hausbesitzer zu vermeiden. Nun lasse sich aber eine Belastung der Hauseigentümer bis zu einem gewissen Grade nicht vermeiden. Viel schwerer fielen weitgehende bau- Polizeiliche Vorschriften auf die Schultern der Aermsten der Armen« die meist kein Geld haben, um ihre schlechten Wohnungen, Hütten oder Schuppen zu verbessern.— Harold Shaweroß-England verbreitete sich über die Wohnungsinspektion in England. Man sei nun auch in England dazu übergegangen, Frauen zur Wohnungs- inspektion mit heranzuziehen. Leider sei die Wohnungsinspektion auf dem Lande noch zurückgeblieben, was sick) aus der nicht ge- nügend garantierten Unabhängigkeit der Inspektoren erkläre. Man solle deshalb dem Beispiel Hollands folgen und die Inspektoren als Staatsbeamte anstellen. Prof. Albrecht-Berlin: Ueber Deutschland kann ich nichts Er> frculiches berichten. Eine technische und Sachverständigen- Wohnungs-Jnspektion kennen wir in Deutschland nicht, die In- spektion ist Sache der örtlichen polizeilichen Verwaltungen, sie liegt in den Händen des Schutzmannes. Wir sind also noch nußerordent- lich rückständig und blicken mit Neid auf Länder wie England, wo man bedeutend weiter ist als bei uns. Den nächsten Punkt„Die Bodenfrage" behandelte Dr. MeweS- Düsseldorf. Die Bodenfrage fei in Deutschland eines der wich- tigsten und schwierigsten Probleme. Alle Schichten der Bevölkerung gleichmäßig berührend, sei die Bodenfrage eine Nebenerscheinung der lebhaften EntWickelung Teutschlands zum Industriestaat. Enz - zelne Städte hätten sich geradezu stürmisch entwickelt, so Berlin von 1871 mit 826 000 Einwohnern auf 2 Millionen im Jahre 1905. In derselben Zeit stiegen Hamburg von 300 000 auf 800 000, Charlottenburg von 19 500 auf 237 000, Nürnberg von 83 000 auf 294 000 und Mannheim von 40 000 auf 162 600. Damit hänge eine enorme Preissteigerung des Grund und Bodens zusammen. 1866 besah ein Terrain von 70 Hektar am Kurfürstendamm in Berlin den reinen Ackerwert von 106 000 M. 1880 kostete dasselbe Stück Land 5 Millionen Mark. Der Gesamtbodenwcrt von Charlotten- bürg betrug 1865 6 Millionen Mark, 1897 300 Millionen Mark. In München wurde das Gelände des städtischen Schlachthofs 1872 für 4,91 M. pro Quadratmeter gekauft. 1896 war der Wert 50 M. pro Quadratmeter. In Freiburg i. Br. kaufte man Baugelände bis 1370 durchschnittlich für 5,40 M. pro Quadratmeter. Jetzt muß
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