Die lkutiche Delegation des Tnternationalen IKongrelles über die Maifeier. Stuttgart , den 19. August. (Telepho n i sch e r B er'i cht). Die deutsche Delegation trat Sonnabend, den 17. August, zu etner Sitzung zusammen, die früh �/zlt) Uhr vom Genossen S in g e r eröffnet wurde. Die deutsche Delegation wählte für die Dauer des Kongresses zu Borsitzenden die Genossen P f a n n k u ch und Legten, zu Sekretären die Genossen Knoll und Parteisekretär Müller- Berlin. Auf der Tagesordnung der Sitzung stand die Stellung zur Maifeier. Die Diskussion über diesen Punkt war sehr eingehend, es be- teiligten sich daran 16 Redner aus Partei und Ge Werk- s ch a f t e n. In den Verhandlungen wurden einerseits die aus früheren Debatten in der Presse und aus Parteitagen und Gewerkschafts- kongressen bekannten Argumente für und wider die Arbeitsruhe am 1. Mai vorgebracht, andererseits wurde aber auch neues Material aus den Erfahrungen der letzten Jahre und aus weiteren Kreisen zugänglich gemacht. Im Auftrage der Gewerkschaften, die am Tage vorher bereits zur Behandlung der Maifeierfrage auf dem Stritt- garter Kongreß Stellung genommen hatten, referierte Genosse Robert Schmidt. Als Korreferent sprach im Namen der Partei Richard Fischer. Die Debatte, die durchaus sachlich gepflogen wurde, führte zu einer Verständigung. Mit beträchtlicher Mehrheit wurde in der Gesamtabstimmung in der NachmittagSsitzung folgende Resolution angenommen: Die deutsche Delegation zum Internationalen Kongreß in Stutt- gart empfiehlt, die Feier am 1. Mai in der Form zu begehen, wie es in der Resolution des Mannheimer Partei- t a g e S niedergelegt ist. Wo aber die Arbeitsruhe Maß- regelungen zur Folge hat, muß den wegen der Maifeier durch Maßregelungen geschädigten Arbeitern eine Unterstützung ge- währt werden, auf die die politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Anspruch erheben können. Zur Regelung ist die deutsche Delegation zum internationalen Kongreß nicht kompetent, sie erwartet sedoch vom nächsten Parteitag die Regelung auf folgender Grundlage:«Die Unterstützung ist von Partei und Gewerkschaften zu tragen. Die Art, wie Partei und GeWerk- schasten die dafür erforderlichen Mittel aufbringen, bleibt der Verständigung der Instanzen, Partei und Gewerkschaften, vor- behalte)r. Dabei ist festzulegen, von welchem Zeitpunkt und für welche Dauer die Unterstützung zu gewähren ist." Nach Annahme der Resolution konstatierte Genosse L e g i e n, daß nunmehr von deutscher Seite kei» Antrag wegen Verhandlung der Maifeier auf dem Internationalen Kongreß gestellt werden soll. — Nach Erledigung einiger geschäftlichen Angelegenheiten wurde die Sitzung nachmittags ö Uhr geschlossen. Die liommiiiionen. Stuttgart , 19. August. (Telephonischer Bericht.) Die Kommissionssitzungen, die auf 11 Uhr vormittags angesetzt tvaren, mußten, mit Ausnahme der Kommission für Kolonialfragen, auf 3 Uhr vertagt werden, weil die Mandatsprüfungen der einzelnen Nationen mehr Zeit als vorgesehen in Anspruch nahmen und weil ferner die Resolutionen noch nicht sämtlich im Druck vorlagen. Die Deutschen schickten in die einzelnen Kommissionen folgende Delegierte: 1. Für Militarismus und internationale Kon- flikte: Bebel, Sachse, Dr. Südekum, v. Wollmar . 2. Für die Bezieh ungenzwischendenpolitischen Parteien und den Gewerkschaften: Kautsky , Legten, Pfannkuch, Robert Schmidt. 3. Für die Kolönialfragel Bock, Lebebour, Dr. David und Wurm. 4. Für die Ein- und Auswanderung der Arbeiter: Paeplow, Paul Müller, Hansmann und Schippel. 5. Für Frauenwahlrecht: Klara Zetkin , Emma Ihrer , Frau Zieh, Singer. Die Kommission für die Borbereitung der Kolonialfrage konstituierte sich am Vormittag und wählte van Kol zum Vorsitzenden und Terwagne-Antwerpen zum Schriftführer. In Vertretung van Kols übernimmt aber zunächst Gollerstepper-New Dork den Vorsitz. In der Generaldebatte weist Genosse Dr. David-Mainz darauf hin, daß schon frühere Kongresse sich mit der Kolonialfrage beschäftigt und Resolutionen gefaßt hätten. Es genüge aber nicht, diese Resolutionen zu wiederholen, sondern es komme darauf an, praktische Direktiven zu geben und zu erklären, daß die Sozial- demokratie die Art, wie die bürgerliche Welt heute kolonisiere, ver- urteile, daß sie aber ihren ganzen Einfluß aufbieten müsse, um sowohl die koloniale Bevölkerung wie die kolonialen Naturschätze gegen kapitalistische Ausbeutung zu schützen. Das sei dasselbe, was die Sozialdemokratie in Kulturländern dem Kapitalismus gegen- über durch Schaffung der Arbeiterschutzgesetze tue. Bebel hat in dem Deutschen Reichstag in diesem Sinne sich ausgesprochen. Er sagte:„Es ist ein großer Unterschied, wie Kolonialpolitik ge- trieben wird. Kommen Vertreter kultivierter Länder zu fremden Völkern als Befreier, um üjnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu bringen, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als Kulturmission zu unter- stützen bereit sind." Ich empfehle, diese Gesichtspunkte bei der Ab- fassung einer eventuellen Resolution zu berücksichtigen. Genosse Lebebour: Ich muß mich leider gegen David und in gewissem Sinne auch gegen Bebel wenden. Genosse David hat"die Hauptsache außer acht gelassen. Solange wir eine kapitali - stische Gesellschaft haben, wird die Kolonialpolitik stets die scheuß- liehen Formen zeigen, die wir alle verurteilen. David scheint diese Scheußlichkeiten für vermeidbar und für Begleiterscheinungen der heutigen Kolonisation zu halten. Das ist ein grundsätzlicher Irr- tum. Er hat sich für seine Ansicht auf Bebel berufen und hier eine angebliche Erklärung Bebels verlesen. Es handelt sich hier aber um keine autoritative Erklärung Bebels, sondern um eine bei- läufige Bemerkung in einer seiner vielen Reichstagsreden zu Kolonialftfägen, und wie ich Bebels Stellung kenne, würde er gegen eine solche Interpretation seiner Worte durch David protestieren. Es geht nicht an, einen solchen Satz allein herauszugreifen. Der Satz an sich freilich zwingt mich, auch gegen Bebel zu polemisieren, denn er läßt die Deutung zu, als seien die jetzigen Scheußlichkeiten der Kolonialpolitik im heutigen Staate vermeidbar. Die jetzige Kolonialpolitik ist aber das unvermeidbare Resultat des Kapitalis- mus und nur durch die Widerstandskraft der Aus- gedeuteten selbst können diese Brutalitäten gemildert werden. In den Kolonien können sie dies nicht, da die Kolonialbevölkerung so gut wie gar keine Wider st andskraft besitzt. In einer Resolution müssen wir an die Spitze stellen, daß wir von der kapitalistischen Kolonialpolitik keine Berücksichtigung der kultu - rellen Mission erwarten. Da wir grundsätzliche Gegner jeder Aus- beutung und Unterdrückung im eigenen Lande sind, müssen wir die noch viel schlimmere Ausbeutung in den Kolonien grundsätzlich bekämpfen. Wenn wir diese grundsätzliche Erklärung an die Spitze gestellt haben, können wir dann hinzufügen, daß wir als Minorität für möglichsten Schutz der Eingeborenen durch Schaffung eines Kolonialrechts eintreten wollen. Darüber sind wir wohl alle einig. Die Hauptsache ist, daß niemand durch unsere Resolution auf die Idee kommen kann, wir hielten eine andere als eine mit Grau- samkeiten und Scheußlichkeiten verbundene Kolonialpolitik mit dem Kapitalismus vereinbar, Nachmittags wurde die Debatte fortgefetzt, van Kol, Wibaut und Lebebour beintragen folgende Resolution: „Der Kongreß bestätigt von neuem die Resolutionen von Paris (1969) und Amsterdam (1964) über die Kolonialfrage und verwirft nochmals die jetzige Kolonisationsmethode. Das Wesen des Kapitalismus hat keinen anderen Zweck, als fremde Länder zu erobern und fremde Völker zu unterwerfen, um sie schonungslos zum Nutzen einer verschwindenden Minder- heit auszubeuten. Der Kongreß verurteilt jede Politik des Raubes und der Eroberung, die nur eine schamlose Anwendung des Rechtes der Stärkeren ist. Der Kongreß erklärt schließlich, daß die sozialistischen Abgeordneten in allen Parlamenten die Pflicht haben, die Methode der Ausbeutung und Knechtung zu bekämpfen, die in allen bestehenden Kolonien herrschen. Zu diesem Zwecke haben sie für Reformen einzutreten, um das Los der Eingeborenen zu verbessern und jede Verletzung der Rechte der Eingeborenen und deren Ausbeutung und Versklavung zu ver- hindern. Sie haben mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, die Erziehung zur Unabhängigkeit zu begünstigen. Finanziell be- trachtet sollen die Ausgaben für die. Kolonien ebenso wie die, die der Imperialismus verschuldet und die, die im Interesse der ökonomischen EntWickelung der Kolonien gemacht werden, von jenen getragen werden, die allein von der Ausplünderung fremder Länder Nutzen ziehen und deren Reichtümer daher stammen." Terwagne-Belgien schlägt vor, folgenden Satz anzufügen: „Der Kongreß verwirft nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken können wird." Rouanet-Paris meint, es sei falsch, die Kolonisafton nur als kapitalistische Erscheinung zu betrachten. Sie sei auch eine historische Erscheinung. Er sei deshalb für den Antrag Terwagne. Es ist auch heute für die Kolonien manches zu erreichen. Die Kolonialfrage ist eine internationale und auch die Lösung des Eiugeborenenrechts muß international erfolgen. Er will einen Zusatz beantragen in dem Sinne, daß ein internationales Kolonialrecht geschaffen werde. Terwagne begründet seinen Vorschlag und betont dabei, daß sein Standpunkt nur der der Minderheit seiner Partei ist. Die Frage ist so: Sollen wir am Kongo alles so lassen, wie es ist, oder sollen wir die Zustände dort bessern? Mit dem starren Prinzip ist nichts zu machen. Ob Kolonisationen notwendig sind, wolle er nicht entscheiden. Man kann jedenfalls auch nicht sagen, daß sie entbehrlich sind. Der Kongreß würde unlogisch handeln, wenn er sagte, auf kolonialpolitischem Gebiete können wir nichts tun. Wir können da dasselbe tun, wie auf allen anderen Gebieten. Die Zukunftstür darf nicht geschlossen werden. Deshalb müsse der von ihm beantragte Zusatz, der sich ja ursprünglich in der Resolution van Kol befunden hat, angenommen werden. Von David wird folgende Einleitung für die Resolution vor- geschlagen:„In der Erwägung, daß der Sozialismus die Produttiv- kräfte des ganzen Erdkreises in den Dienst der Menschheit stellen und die Völker aller Farben und Zungen zur höchsten lwltur empor- führen will, sieht der Kongreß in der kolonialen Idee als solcher einen integrierenden Bestandteil des universalen Kulturziels der sozialistischen Bewegung. Die jetzige kapitalistischkoloniale Methode aber hat keinen anderen Zweck, als fremde Völker auszubeuten usw.. Perncrstorfer-Wien : Ich kann den Standpunkt Ledebours, der die starre Negation vertritt, nicht teilen. Er sagt, die Kolonial- Politik ist der Ausfluß des Kapitalismus und deshalb müssen wir sie bekämpfen und dagegen protestieren. Wir protestieren aber nicht gegen den Kapitalismus, sondern bekämpfen ihn mit Tausenden von Mitteln. Die Kolonien sind da und wir müssen uns in die Kolonial- Politik einnrischen und positive Mitarbeit leisten. Ich bin für den Antrag Terwagne und am liebsten für die Davidsche Einleitung. Laurence-England gibt zu, daß das kapitalistische Kolonial- shstem antikulturell und barbarisch ist. Er n, eint aber, daß die heuftge Diskussion nicht von großem praktischen Werte sein wird. Pepin-Mons erklärt, daß der belgische Kongreß sich gegen jede Kolonialpolitik ausgesprochen habe. Nach der Motivierung durch Terwagne könne er nicht mehr für dessen Anttag stimmen. Gollerstepper-New Dork: Die koloniale Frage hat für die amerikanische Arbeiterschaft keine Bedeutung. Mehr Grausamkeiten und Barbarismus, als es in der amerikanischen Grotzindusttie gibt, gibt es in der unkultiviertesten Kolonie nicht. Die amerikanischen Sozialisten sind deshalb der Ansicht, daß der Kapitalismus mit Stumpf und Stil ausgerottet werden muß. Eine provisorische Abstimmung ergibt, daß die Mehrheit der Sektionen im Prinzip für eine neue Fassung im Sinne der Anträge Terwagne oder David ist. Es sollen nur noch Gegner eines solchen Einleitungssatzes zu Wort kommen. Wurm: Im Laufe der Diskussion ist die Hauptfrage verschoben worden. Die Hauptfrage ist: Wie sollen wir uns einer Kolonial- Politik gegenüber verhalten, di? im Interesse des Kapitalismus gegen die Interessen der Arbeiter gemacht wird. Denn die Kolonialpolitik hängt nicht von unserer Gäade ab, sondern wird gegen uns geniacht. Die Kolonialpolitik belastet uns nicht nur mit großen Ausgaben, sondern erregt auch Kriegsgefahren und dieser Gesichtspunkt muß unbedingt in die Resolution hinein. Pernerstorfer sagt: Wir sollten nicht nur negative Politik treiben. Die Abwehr von Greueln ist aber eine eminent positive Politik. Solange wir keine Verantwortung für die Kolonialpolitik übernehmen können, müssen wir sie st r i k t ablehnen und dagegen protestienen. Ein solcher Protest ist keine leere Phrase," sondern er wirkt erzieherisch, propagandistisch und sozialistisch. Wir können keine Opporlunitätspolittk treiben, um eventuell Gnade bei den Herrschenden zu finden und als gleich- berechtigte Partei angesehen zu werden; es gibt nichts Gemeinsames zwischen uns und den jetzt Herrschenden. Wir können nur prinzipielle Politik treiben. Karski-Polen: Kolonialpolitik und kapitalistische Wirtschafts- ordnung sind grundverschiedene Begriffe. Letztere können wir wandeln, erstere nicht. Gegen die Kolonialpolitik können wir nur protestieren. Schließlich wird unter Ablehnung der von David vor- geschlagenen die Resolution van Kol in der ursprünglichen Fassung angenommen:„Der Kongreß stellt fest, daß der Nutzen der Kolonialpolink allgemein, besonders aber für die Arbeiter- klasse stark übertrieben wird. Er verwirft aber nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime ziviilisierend wird wirken können." Außerdem wird ein Zusatzantrag Wurm, der die Erhöhung der Kriegs- gefahr und die Belastung der Ausgaben für Heei� und Flotte betont, und ein Zusatzantrag Rouanet angenommen, der Vereinbarn n g en über ein Kolonialrecht fordert. Ledebour kündigt für die Minderheit die Stellung eines Korreferenten für das Plenum an. Zum Referenten wurde van Kol gewählt und die Sitzung der Kommission dann geschlossen. Der MilitarisinnZ und die internationalen Konflikte. Die Sitzung der e r st e n Kommission, der diese Frage zugewiesen wurde, war außerordentlich stark besucht. Alle größeren Nationen haben ihr Delegationsrecht durch Entsendung von vier Mitgliedern in die Kommission voll ausgenützt. Auch die anderen Völker sind stark vertteten. Delegierte für Deutsch land sind Bebel, Voll mar, Sachse und S ü d e k u m. Frankreich Jaurös, G u es d e, Vaillant und H e r v s, für Belgien Vandervelde , Furnän, ont, Troglef und De Man, für Oe st erreich Eldersch, Winarski. Schramme! und Adler, für Holland Schaper und Henriette Roland- Hol st, für Polen Karski und Rosa Luxemburg , für die S ch w e i z L a n d, Moor und S i g g.— Außerdem wohnten zahlreiche bekannte Partei- genossen als Gäste den Verhandlungen bei. Wir nennen auZ Deutschland Liebknecht und N o S k e. Zum Vorsitzenden wird, nachdem Bebel die Verhandlungen eröffnet hat, auf Vorschlag Vanderveldes Genosse Südekum gewählt, zum Stellvertreter Fernömont. Ms Uebersetzer fungieren Südekum, Vandervelde und Dr. L i e b m a n n. Vandervelde beantragt zur Geschäftsordnung, sofort in die Spezialdebatte der vier vorliegenden Resolutionen, Herds, G-ti esde, Vaillant und Bebel einzutreten. Hervö, der den Aufstand und den Militärstreik gegen den Krieg fordere und Guesde, der jede besondere Aktion gegen den Militarismus verwerfe und ihn als bloße Teilerscheinung des Kapitalismus betrachte, seien Extreme. Würde es abgelehnt, die beiden Anträge zuerst zu beraten, so wäre eine Einigung auf der mittleren Linie Vaillant-Bebel leicht. Bebel bekämpft den Vorschlag, da er eine große Generaldebatte zur Folge haben würde. Die Kommission beschließt einstimmig, zunächst in die all- gemeine Generaldebatte einzutreten. Die Debatte eröffnet Bebel: Ich glaube, wir hätten gerade jene Frage auf den internationalen Kongressen wirklich genügend disputiert.(Sehr wahr!) Alles, was Hervs über den AntiPatriotismus in seinem Buche:„I�sur patris" ausführt, hat uns auf früheren internationalen Kongressen schon Nieuwen- huis gesagt. Hervs sagt, das Vaterland sei nur das Vaterland der herrschenden Klassen, es ginge also das Proletariat nichts an. Aber auch die Parlamente sind"doch eine Einrichtung der herrschenden Klassen. Unsere ganze Tätigkeit läuft ja darauf hinaus, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Einrichtungen der Bonrgeoisie zu verbessern. Die bloße Negation stimmt also nicht. Es ist überhaupt noch eine große Frage, wem das Vaterland gehört. DaS Kulturleben kann sich ja doch nur auf der Grundlage der Muttersprache und auf dem Boden der Nationen entwickeln. Seht doch nach Oesterreich , seht auf den Kampf der Polen um ihre nationale Wiederherstellung. Auch in Ruß- land wird die Nationalitätenfrage noch einmal erwachen.(Rosa Luxemburg lviderspricht.) Jedes Volk, das unter der Fremd- Herrschaft leidet, selbst wenn sie ihm sonst Wohltaten bringt, er- hebt sich in seiner ganzen Masse zuin Freiheitskampf und stellt alle anderen Ziele zurück. Wie hat sich Elsaß-Lothringen gegen die Losreißung von Frankreich gesträubt, mit dem es trotz der deutschen Sprache seit der großen Revolution eng kulturell verwachsen war. Hervss Gedanke, daß es gleich sei für das Proletariat, ob Frankreich zu Deutschland oder Deutschland zu Frankreich gehört, ist absurd.(Lebhafte Zuruse: Es ist gar kein Gedanke! Heiterkeit.) In der Tat, wollten Sie diese Lehre prakttsch verwerten, Hervs, Ihre eigenen Volks- genossen würden Sie unter die Füße treten.(Sehr wahr!) Lieb- knecht und ich haben ja 1876 erfahren, wfr» es bedeutet, wenn man sich auch nur der Abstimmung über die 51riegs- anleihe enthält. Und doch wußten wir noch nicht, daß Bismarck den Krieg provozierte und durch Fälschung der Emser Depesche herbeigeführt hatte. Ueberhaupt wird die Unterscheidung zwischen Angftffskrieg und Verteidigungskrieg den unterrichteten Politikern stets gleich sein. Aber prüfen wir die Frage des Antimilitarismus auch praktisch. Als vernünftiger Mensch muß ich offen sagen, daß selbst, wenn wir wollten, wir nicht leisten könnten, was Hervs von uns verlangt, zu fürchten ist, Ihr in Frankreich werdet böse Erfahrungen machen, wenn im Kriegsfalle Hervs das Mittel des Massenstreiks, der Fahnenflucht und der Insurrektion anwendet.(Zustimmung.) In Deutschland bat man selbst Liebknecht, der weit abgerückt ist von Hervs, die Ver- abredung zum Hochverrat angedichtet. Wollen wir wirk- lich die strenge Neutralität aufgeben, die wir uns jetzt aufzuerlegen gezwungen sind, so hätten wir gleich alle Paragraphen des Strafgesetzbuches auf dem Halse. Die antimilitaristische Ägitation' in Frankreich aber würde, wenn sie Erfolg hätte, den Weltfrieden gefährden, denn die deutschen inilitärischen Kreise verfolgen die Sache mit größtem Interesse und sein desorganisiertes Heer würde den starken Gegner mag- netisch anziehen.(Hört hört.) Noch freilich will in Deutschland nie- mand ernsthaft den Krieg. Aber selbst Bülow hat zugegeben, daß jetzt ein Krieg der herrschenden Klasse ihr letzter Krieg sein könne. Wir sind ja in der Idee vollkonimen einig. Wir haben den Militarismus im deutschen Reichstage stets aufs entschiedenste bekänipft und haben' jeden Pfennig verweigert, so daß uns Jaurss als Muster von Patriotismus b o r- gehalten wurde.(Jaurss: Gerade wie Sie mir in Frank- reich!) Jawohl, weil man in meinen Erklärungen statt Berteidigungs- krieg einfach„Krieg" schlechthin setzte! Auch während der Marokko - Affäre haben wir alles aufgeboten, um die Spannung zwischen den beiden Kulturnationen nach Möglichkeit zu lindern. Soweit militärische Rüstungen nötig sind, wollen auch wir sie haben, aber nur in der Form der fr ei est en Demokratie. Wir in Deutsch - land bekämpfen den Militarismus in jeder Form, an jeden, Tage und auf jeder Weise, aber wir lverden uns darüber hinaus nicht zu Schritten drängen lassen, die dem ganzen Parteileben, der ganzen Parteiexistenz im höchsten Maße ge- fährlich werden können.(Lebhafter Beifall.) Gustave Hervs- Paris : Ich weiß wirklich nicht, ob der Generalstab in Berlin meine Agitation mit so großem Interesse und solcher Freude verfolgt hat, aber das eine weiß ich gewiß: Nicht nur meine engeren Freunde, nein, die ganze sozialistische Welt sieht mit Erstaunen und Trauer die gegenwärtige Haltung der deutschen Sozialdemokratie zum Militarismus. Wie sind wir denn zu unserer so brutalen, so rücksichtslosen, so wilden antimilitaristischen Agitation in Frankreich gekommen? Es war in den heißesten Tagen der russischen Revolution, in jenen Tagen, wo täglich die preußischen Bajonette auf die russischen Revolutionäre loszugehen drohten, und wir fragten uns: was wird dagegen die deutsche Sozialdemokratie tun und mußten befürchten, daß sie gegen ein so frevelhaftes Beginnen nichts tun würde, als„das moralische Gewicht ihrer drei Millionen Stimmen in die Wageschale zu werfen".(Heiterkeit.) Und dann kam die schreckliche Spannung der Marokko -Affäre, da die KriegSfurie über Deutschland und Frankreich schwebte. Und wieder fragten wir uns und wieder mußten wir uns sagen, daß Deutschland als Antwort nur das moralische Gewicht seiner drei Millionen Stimmen hatte. Bebel hat mich gütigst darüber belehrt, daß die Vaterländer im gegenwärtigen Europa eine historische Tatsache seien. Aber ich habe von Bebel noch viel interessantere Dinge gelernt, in Amsterdam sagte er uns: Ob deutsche Monarchie oder französische Repnblik ist für den Sozialisten ganz gleich. Und dasselbe sage ich Euch heute. Jedes Baterland ist nur eine milchende Kuh für die Kapitalisten, es ist eine Stiefmutter für alle Proletarier, um dessentwillen sie sich wirklich nicht die Köpfe einzuschlagen brauchten. Die Wölfe hinter den verschiedenen Gittern haben sich längst geeinigt. Erklärung. Die Polizei des Zarismus, die jede freiheitliche Bewegung im Innern Rußlands mit Gewalttätigkeiten verfolgt, setzt wieder einmal alle Hebel in Bewegung, um den russischen Revolutionären auch die kärgliche Möglichkeit der Emigration zu rauben. Das Asylrecht, das den russischen Emigranten in einer Reihe von Staaten noch gewährt wird und das somit für alle revolutionären Krejse überaus wichtig ist, soll ihnen geraubt werden. Es soll den Regierungen der Schweiz , Frankreichs und der anderen Länder, in denen bis zu einem gewissen Grade freiheitliche Gesetze bestehen, ein Vorwand geboten werden, die Emigranten in Massen in die Arme der russischen Polizei zu treiben. Die Zeichen häufen sich, daß die Provokateure an der Arbeit sind, um in den Asyl gebenden Ländern Gewalttaten, insbesondere sogenannte Expropriationen (d. h. Räuberei), anzuzetteln, die doch sicher nur als Mittel der Diskreditierung anzusehen sind. Daher sehen sich die Unterzeichneten veranlaßt zu erklären: Eine jede Tat dieser Art, insbesondere jede sogenannte Expropriation, ist ein Verrat an der Revolution, eine Niederträchtigkeit gegen die Emigranten, da sie den Re- gierungen und den Polizeibehörden ganz selbstverständlich eine Handhabe geben würde, das Asylrecht aufzuheben. Ein jeder, der
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