Ud t u r. STficr, bester Herr Naunlau», das ist cS ja eben! In der Theorie fordern alle Freisinnigen das Reichstagswahlrecht, aber wenn mit dieser Forderung ernst gemacht und dem Reichs- kanzler die Pistole auf die Brust gesetzt werden soll, dann versagen sie Herrn Naumann ihre Gefolgschaft, Er will, daß sie ihre Stellung im Block energisch zugunsten des Reichstagswahlrechtes ausnutzen, die Freisinnigen aber wollen vor allem beim Block bleiben. Herr Nau- mann erwartet jetzt, daß die liberalen Bereine allüberall„das Wort ergreifen", also das Neichstagsioahlrecht fordern werden Er selbst aber denkt offenbar schon an den N ü ck z u g." Sechs Wochen also genügten, um, ehe der Wahlrechts- kämpf überhaupt begann, selbst die radikalsten und demo- kratischsten Elemente des Freisinus als Marode auf der Strecke bleiben zu lassen! Wie recht hatte das rheinische Organ der Hirsch Dunckerschen von den freisinnigen„alten Weibern"! stusgetagt. Die Haager Posse geht ihrem Ende entgegen. Noch bor kurzem schien es, als würde die Friedenskonferenz bis zum Winter tagen. Wie jedoch aus dem Haag gemeldet wird, hat die holländische Re gierung bei dem Vorsitzenden der Konferenz, dem russischen Staatsrat Nclidow, angefragt, oh ihr zur Eröffnung der Generalstaaten am 17. September der Rittersaal, in dem das kuriose Friedens Parlament tagt, zur Verfügung stehe, und oaraup gat Nelidow erwidert, die Konferenz werde voraussichtlich bis zum 21. September dauern, aber die Unterzeichnung des Schlußprotokolls dürfte sich bis zum 23. September verzögern. Bisher hat die Konferenz ihre Zeit hauptsächlich mit der Auf- stellung von allerlei minderwertigen Kricgsmodalitätsregeln ver- bracht; der sogenannte„positive" Teil ihres Programms, darunter vornehmlich die Abschließung des geplanten Weltvertrages über das obligatorische Schiedsgericht, steht noch aus und soll in den nächsten drei Wochen erledigt werden. Viel wird auch dabei nicht herauskommen, da jeder Staat sich freie Hand bewahren will und je nach seiner Stellung im politischen Konzert allerhand oe- sondere SpezialWünsche auf Lager hat. In der offiziösen Presse wird die Stellung der hauptsächlich in Betracht kommenden Mächte folgendermaßen skizziert: „Die Hauptaufmerksamkeit wendet sich zwei Vorschlägen zu. Der erste stellt das Prinzip des obligatorischen Schiedsgerichts für alle Staaten auf. Er enthält jedoch eine Klausel, die die In- ftitution des Schiedsgerichts fiktiv macht. Alle Staaten sollen sich durch Verträge verpflichten, dem Urteile des Schiedsgerichts sich zu fügen; der Vertrag gilt jedoch nicht für Fälle, in denen nach Ansicht eines der beteiligten Staaten— nicht etwa nach der des Schicdsgerichtshofes— seine Ehre oder seine vitalen Jnter- essen in Frage kommen. Es ist selbstverständlich, daß die Staaten in allen Fällen, wo sie den Weg des Krieges für er- wünschter halten würden, von der Klausel Ge- brauch machen könnten. Jedoch selbst bei Annahme des Prinzips de« Schiedsgerichts ist die friedliche Lösung der be- stehenden Konflikte keineswegs gesichert. Es muß dann erst das formelle Kompromiß geschlossen werden; die Parteien müssen sich betreffs des Schiedsrichters einigen usw. So taucht eine neue Reihe von Konflikten auf, deren Ausgleichung vielfach die größten Schwierigkeiten macht. Würde also die Konferenz diesen Vor- schlag votieren, so wäre damit nur der Schein erweckt, daß für die Sache des Wcltschiedsgerichts etwas geschehen sei. Ein zweiter Vorschlag, der van englischer Seite ausgeht, will das Schicdsgcrichtsproblem gewissermaßen in mechanischer Weise lösen. Er nimmt sich auf den ersten Blick seriöser aus, weil hier die Unterwerfung unter das obligatorische Schiedsgericht ohne jede Einschränkung ausgesprochen wird. Dieser Weltschieds- gerichtsvertrag hat die Form einer Tabelle. In vertikaler Rich- tung sind die Gegenstände verzeichnet, betreffs deren die Per- pflichtung gilt; in horizontaler die Staaten, welche durch ihre Signatur für diesen oder jenen Punkt das obligatorische Schieds- gericht angenommen haben. Was sind nun die Materien, für welche dieser Entwurf das Schiedsgericht vorsieht? Es sind durchweg geringfügige Dinge, die auch vor der Aera der Friedensbewegung nie ni als zu einem Kriege Anlaß gegeben haben und die um so weniger heute die Waffen in die Hand drücken könnten. Auch dieser Borschlag würde also das obligatorische Weltschiedsgericht kaum zu einer seriösen Institution machen. Deutschland zieht es vor, in den Grenzen des Erreichbaren ernste und ebrliche Sicherungen des Friedens anzubahnen, statt Formen ohne Inhalt schaffen zu helfen. Zunächst ist das Prinzip des WeltvertragcS vorläufig unannehmbar, da bei der großen Anzahl der Staaten sowie der Verjusiedenheit und Kom- pliziertheit der in ihnen herrschenden Verhältnisse jede allge- meine Formel notwendigerweise vag und nebelhaft sein müßte. Deutschland lehnt keineswegs die Idee des obligatorischen Schiedsgerichts ab, aber es behält sich vor, diejenigen Staaten zu bestimmen, mit denen es einen Vertrag dieser Art abschließen will. Und ebenso wird es die Gegenstände wählen und bezeichnen, betreffs deren es sich einem Schieds- gericht unterwirft." Nur für ganz nebensächliche Fragen, für bloße Lappalien, die auch bisher nicht zu kriegerischen Verwickelungen führten, sondern auf dem Wege gegenseitiger diplomatischer Ver- Handlungen gelöst wurden, soll also das Schiedsgericht in Funktion treten; aber selbst dann nicht für alle Staaten, denn Deutschland behält sich nebenbei vor, unter diesen eine ihm passende Auswahl zu treffen und vorher diejenigen Staaten zu bestimmen, mit denen es sich auf einen Vertrag einlassen will. Was demnach bei der so- genannten Lösung der Schiedsvertragsfrage herauskommen wird. läßt sich schon jetzt deutlich ermessen. Die Haager Friedenskonferenz hat einigen Diplomaten auf Staatskosten Gelegenheit geboten, sich von den Anstrengungen der winterlichen Ballsalson zu erholen—- einen weiteren Zweck hat die Veranstaltung nicht. ffiMIlo. Ueber die Haltung des Gegensultans Mulay Haftd bringen die Pariser Blätter widersprechende Nachrichten. Eine Proklamation des neuen Machthabers spricht von seiner Absicht, die Feinde ins Meer zu werfen— gleichzeitig behauptet die„Libre Parole" zu wissen, daß Mulay Hafid der französischen Regierung das Anerbieten gemacht habe, die Ordnung in Morokko wieder herzustellen, wenn man ihn als Sultan anerkenne. Die beiden Meldungen ließen sich nur dann vereinigen, wenn man annehmen wollte, daß die Proklamation die für die Oeffentlichkeit berechnete Kulisse sei, hinter der Mulay Hafid mit den Franzosen vorgehen wolle. Die Lage des Sultans Abdul Aziz wird täglich prekärer. Drei seiner Mini st er sind ermordet wor- den, das Geld geht ihm aus und der Anhang seines Gegners mehrt sich hartnäckig. Der wichtige Stamm der Beni-Tassen, der nicht weit von Fez sitzt, hat sich für Mulay Hafid erklärt. Die Franzosen haben vor Casablanca ein neues Gefecht zu bestehen gehabt. Die Zahl ihrer Toten und Verwundeten ist abermals gestiegen.— allerdings sollen die Marokkaner mehr als d aS Hundertfache der französischen Verluste erlitten haben. Die Meldungen des Tages lauten: Paris , 4. September. Die Blätter veröffentlichen den Text der Proklamation Mulay H a f i d s, die in den Moscheen von Mazagan verlesen wurde. Sie besagt, daß die Muselmanen, welche die Besetzung von Udschda als einen Scherz betrachtet hätten, der wert sei, verspottet zu werden, ihre Brüder ohne Hülfe gelassen hätten. Deshalb hätten sich die Feinde, als sie die S ch w ä ch e und Ohnmacht des gegenwärtigen Sultans, der nur Vergnügungen sich hingegeben hätte, kennen lernten, des größten marokkanischen Hafens Casablanca bemächtigt, die Einwohner ver- trieben und zahlreiche Schiffe ausgesandt, um gegen die übrigen Häfen vorzugehen. Der Feind gehe mit der Absicht um, sich der Städte Fez und Marrakcsch zu bemächtigen. Mulay Hafid fügt hinzu, daß er dem einmütigen Wunsche der Mohammedaner, ihn zum Sultan auszurufen, damit er ihre Interessen verteidige und den Feind nach dem Meere zurückwerfe, nachgegeben und die Wahl angenommen habe. Seine Fahne sei mit Jubel begrüßt und seine Thronbesteigung öffentlich verkündet worden. Er habe Gott gc beten, ihm bei der Ausführung des ihm auferlegten Werkes Bei- stand zu leisten. Paris , 4. September.„Libre Parole" versichert, der vorgestrige Ministerrat habe sich versammelt, um einen Vorschlag Mulay H a f i d s zu prüfen, der dem General Drude das Anerbieten ge macht habe, die Ordnung wiederherzustellen, wenn die Mächte ihn als Sultan anerkennen. Wenn dies nicht geschehe, werde er den heiligen Krieg verkünden. Der Ministerrat hat den Beschluß gefaßt, die Mächte zu Rate zu ziehen und dem General Drude namhafte Verstärkungen zu schicken, damit er für den Eintritt eines jeden Ereignisses gerüstet sei. Köln , 3. September. Der Korrespondent der„Kölnischen Zeitung " telegraphiert ans Tanger über die L a g e im S ü d e n folgende, aus zuverlässiger Quelle stammenden Mitteilungen: Ein Kriegszug gegen Casablanca ist nicht beabsichtigt. Der neue Pascha von Marrakcsch, Hadsch Thani, ein Bruder des mächtigen Kaids von Glaua, wird ein Expeditionskorps mit Artillerie gegen Fez führen, später folgt Mulay Hafid . Die gegen Casablanca kämpfenden Stämme sollen zunächst veranlaßt werden, ihre Kräfte nicht zu zersplittern. Mulay Hafid zählt in F e z eftm flußreichc Anhänger und im Süden mehrt sich sein Anhang täglich. Der Kaid Aissa von Abda begab sich zur Huldigung nach Marrakcsch, desgleichen der Kaid von Mtuga, ein bisheriger Gegner Mulay Hasids. Die Stadt Mogallor wartet noch das Verhalten der übrigen Küstenstädte ab, dagegen wird der Kaid der AnfluS dem Beispiel Aissas folgen. Er erklärte, für die Sicherheit MogadorS so lange zu garantieren,'als dort keine Truppen gelandet werden. Die Auswanderung aus Tanger ist stärker denn je. London , 4. September.„Daily Telegraph " meldet aus Casa- blanca vom 2. September: Briefe aus Fez bringen die Meldung von der Ermordung der Brüder Tazzi, des Ministers des Aus- wältigen Abdelkrim bcn Sliman und des zweiten Vertreters des Sultans in Tanger Ganam. Der Mord wurde begangen durch Anhänger des Kaid von Mcchuar, Driß ben Aich, welcher Oberst- tämmerer oder Einführer der Gesandten am Hofe des Sultans ist. Die Brüder Tazzi übten eine fast unbeschränkte Herrschaft über den Sultan aus. Es wird ihnen die Schuld an dem Ruin des Reiches zugeschrieben. Sie waren nur auf die Vergrößerung ihres eigenen Vermögens bedacht, welches auf Millionen geschätzt wird. Es heißt, daß dasselbe ausreichen würde, um sämtliche Schulden Marokkos damit zu begleichen. Fez, 3. September. Der Sultan berief die Ulemas zu sich. Es wurde beschlossen, Mulay Hafid sei als Rogui, das ist als Auf rührer, zu erklären. Auch wurde die Möglichkeit, bei Frankreich eine Anleihe aufzunehmen, ins Auge gefaßt. Die Versammlung wurde aufgefordert, sich für den Sultan oder seinen Bruder zu entscheiden. Dem Sultan wurde einstimmig das Vertrauen aus- gesprochen. Tanger , 3. September. Der Stamm der Bcni Tassen, der zwischen Fez und Rabat seinen Wohnsitz hat, hat sich für Mulay Hafid erklärt. Die Stammesangehärigen wollen keinem Beamten gehorchen, der nicht von ihm ernannt ist. Sie drohen, Larrasch anzugreifen und zu plündern, wenn der Proklamation Mulay Hasids dort nicht zugestimmt werde. Casablanca , 3. September. Eine gestern nachmittag außerhalb der Vorpostenlette unternommene Rekognoszierung führte zu einem heftigen Kampf mit den in der Umgebung lagernden Stämmen. Diese hatten große Verluste. Auf französischer Seite betrugen die Verluste acht Tote und siebzehn Verwundete. Unter den Toten befinden sich zwei Offiziere. Paris , 4. September. Nach einer Meldung des„Temps " aus Tanger dauerte der gestrige Kampf von 7.33 Uhr früh bis Uhr nachmittags. Ein Feldwebel der afrikanischen Schützen wurde tödlich verwundet. Die Marokkaner griffen unter dem Gesang von Koransuren an, aber die eingeborenen Freiwilligen hielten ihrem Ansturm, ohne zu wanken und zu weichen, stand. Das französische Lager wäre beinahe erobert worden. Der Feind kam bis auf eine kurze Entfernung heran, ehe er zurückwich. Der Hcrizont war schwarz von feindlichen Reiterscharen. poUtifebe Oebcrlicbt Berlin , den 4. September 1907. Freisinnige Selbsterkenntnis. Vor einiger Zeit konnten wir Herrn G o t h e i n hier wegen eines leidlich vernünftigen Artikels über die Ursachen des letzten oberschlesifchen Bergarbeiter st reikö be lobigen. Herr Gothein hatte sehr eindringlich und beweiskräftig dargelegt, wie dieser Streik lediglich in der st e i g e n d e n T e u e» rung aller Lebensbedürfnisse begründet gewesen wäre. wie wieder an dieser zunehmenden Teuerung nur die deutsche agrarische Politik schuld sei. Wir hatten dann nur diese Erkenntnis des Herrn Gothein in den augenfälligen Gegensatz zu seiner und seiner freisinnigen Freunde Blockpolitik gesetzt, die solche agrarische volksfeindliche Politik bewußt und abstchtlicki unterstütze. Herr Gothein hatte diese zweifellose Beweisführung nicht an- tasten können und sich dann dadurch aus dieser für ihn so blamablen Affäre zu ziehen versucht, daß er uns vorwarf. die Sozial- demokratie habe die agrarische Realtion erst recht dadurch ge- tärlt, daß sie in den letzten Stichwahlen nicht genug Frei- 'innigen durchgeholten habe.' Damit kam Herr Gothein einen großen Schritt weiter in seine Sackgasse hinein, denn nun konnten wir ihm an mehreren Dutzend Wahlbeispielen völlig aklenmäßig nachweisen, daß gerade daS Gegenteil feststeht, daß die Freisinnigen wohl dntzende Male Sozialdemokraten gegen Erzreaktionäre haben durchfallen lassen, daß aber die Sozialdemokratie nur in zwei bis drei Fällen einen oppositionellen ZeittrumSniann einem blocklüsternen Frei- innigen vorgezogen habe. Auch diese Tatsache kann Herr Gothein nicht leugnen, und er kommt infolgedessen auf dem letzten Ende seines folgerichtigen Rück- zuges jetzt zu der Untersuchung, warum freisinnige Wähler in der Stichwahl nicht für einen Sozialdemo- traten stimmten. Diese Untersuchung und die darin ent- haltenen offenen Eingeständnisse sind immerhin wertvoll genug, um noch in einem Schlußwort darauf einzugehen. Herr Gothein gibt zwei Gründe für die» Verhalten der freisinnigen an, die gleich charakteristisch für den politischen Tiefstand deS Freisinns sind. Der erste Grund liegt nach Herrn Gothein in der V e r- bindung der Sozialdemokratie mit— dem Zentrum! Man höre: „Die ausschlaggebende Stellung hatte da? Zentrum aber nur dadurch, daß es i» den letzten Reichstagen damit drohen konnte, wenn man seine Wünsche nicht erfüllte, gemeinsam mit den Sozial- demokraten die Forderungen der Regierungen abzulehnen. Konnte man also den ZcntrumSturm nicht erschüttern, so mußte man die Sozialdcmokratcn schwächen, um dieses traurige Spiel zu beseitigen. Es wurde den Wählern eben klar, daß die Sozialdemokratie stets die Geschäfte des Zentrums besorgt hatte, wohl ohne Absicht, aber doch tatsächlich." Diese Logik ist wahrhaft erschütternd! Um das gerade in Wirt- sch aftlich cn Fragen so reaktionäre Zentrum indirekt zu zer- schmettern, mußte der Freisinn die einzige Partei, die in wirtschaftlichen Fragen mit ihm selbst ein gut Teil Weges mitgeht, zu vernichten bemüht sein I Kann man die politische Einst chtslosigkeit offener zum Prinzip des politischen Handelns erheben? Kann man offener zugeben, nicht nach Grundsätzen und realen Machtverhältnissen in der Politik zu handeln, sondern nach blöden und augenblicklichen Empfind nn gen und Gefühlen? In der Tat kann man dies letztere doch noch offener dokumentieren, indem man etwa geradeheraus sagt: Ihr habt bei den Wahlen, bei Eurer Agitatton, bei Eurem ganzen politischen Vorgehen unsere— Gefühle durch Euren Ton verletzt l Dies nämlich ist der zweite Grund, den Herr Gothein zur Erklärung und Begründung deS volksverräterischen freisinnigen Ver- Haltens anführt. Ja, die Verletzung deS guten Tones wiegt bei ihm sogar noch schwerer wie der erstgenannte Grund. Wörtlich schreibt er: „Weit schwerer wiegt aber ein anderes: Die verletzende, ja unanständige Art des politischen Kampfes, die kein gutes Haar an dem Gegner läßt, auch wenn er der arbeiterfrenndlichste, auch wenn er der energischste Kämpfer gegen die Reaktion ist." Selbst zugegeben, wie wir cS nicht zugeben, Herr Gothein habe mit dieser allgemeinen Behauptung recht, und selbst zugegeben, wie wir eS nicht zugeben, die Sozialdemokratie wäre die einzige Partei, die im politischen Kampfe den sogenannten„guten Ton" ver- letzte, und schließlich, selbst zugegeben, wie wir es nicht zugeben, der Freisinn sei der Erbpächter des guten Tones in der Politik und habe ihn selbst nie verletzt,— was alles bewiese dies für den Freisinn und für sein Verhalten bei den Dutzenden von Stich- wählen, in denen es urreaktionäre Agrarier den Sozialdemo- kraten vorgezogen hat? Es bewiese doch immer nur wieder und wieder das eine. daß der Freisinn als ernsthafte politische Partei abgewirtschaftet hat, daß er in die Rolle des alten Mütterchen gekommen ist. das jeden Luftzug, jeden Wind und Sturm des Kampfes meiden muß, das jedes laute Wort wie eine persönliSe Beleidigung auffaßt. Ein solches, dem Grabe nahes Wesen kann wohl durch Krücken(— der Regierung—) noch einmal auf die Beine gebracht werden, eS lann wohl durch Schminke (— des Blocks—) noch einmal wie Leben scheinen, aber wirk- liches, eigenes und felbstwirkendeS Leben hat es nichtmehr. Eine politische Partei, die nicht auf Grundsätzen ruht und nicht nach Grundsätzen handelt, die nach Gefühl und Laune lebt, kann wohl durch irgend welche zeitlichen Zufälle von den Wogen fremder Einflüsse emporgehoben werden, aber auS eigener Kraft vermag sie nichts. Wenn Herr Gothein diese historische Erfahrung durch löbliche Selbsterkenntnis seiner Partei hat belegen wollen, so hat seine letzte Stilübung dadurch wenigstens einige Bedeutung zn beanspruchen.— Ultramontaner Presifrieden. Zwischen den klerikalen Zeitungen nördlich und südlich der Mainlinie, die sich bei der Behandlung der Schell-Commer-Affärc und der Antiindex-Bcwcgung in die Haare geraten waren, ist es in einer Verhandlung, die in Würzburg während der Tagung des Katholikentages stattgefunden hat, zu einer sogenannten Vcrständi- gung gekommen In zwei streng vertraulichen Sitzungen des Augustinusvereins wurden von den Redakteuren, Verlegern und Mitarbeitern der katholischen Presse die Zwischenfälle gründlich erörtert und schließlich in der Weise eine Einigung erzielt, daß die reformistisch angehauchten Preßvcrtrcter sich den Ansichten derjenigen, welche die unbedingte Autorität des heiligen Stuhles vertraten, löblich unterwarfen. So erzählt z. B. Dr. A. Kausen, der Herausgeber der„Allgemeinen Rundschau": „Diese gründliche Aussprache, an der sich die verschiedenen Richtungen rückhaltlos beteiligten, hat jedenfalls das Eine be- wiesen, daß manches Aergernis, das nur den gemeinsamen Gegnern der katholischen Sache zugute kam, verhütet worden wäre, wenn gleich anfangs ein ähnlicher Weg der Auseinander- setznng gefunden worden wäre. Zweisfellos hat auch die Ver- öffentlichung der Schellschen Briefe an Dr. Hauviller und nament- lich an Professor Rippold und den Grafen Hoensbrocch sehr viel dazu beigetragen, daß vorhin fa st unüberbrückbar scheinende Standpunkte sich schon von selbst wesentlich näher kamen. Ohne der Persönlichkeit Schells und seinen auf verschiedenen Gebieten liegenden Verdiensten und Vorzügen zu nahe zu treten, darf man es heute ruhig aussprechen, daß der Denkmalaufruf, der nachträglich so außerordentlich viel Staub aufgewirbelt hat, wohl überhaupt nicht zustande gekommen wäre. jedenfalls nur einen kleinen Bruchteil seiner Unterschriften ge- fanden hätte, wenn den Unterzeichnern vo r h e r die tief bedaucr- lichen Briefe Schells an Prof. Nippold und an den Apostaten Hoensbroech bekannt gewesen wären. Dem Herausgeber der „Allgemeinen Rundschau" wurde während der Würzburger Tage von mehreren Herren versichert, daß sie gleich ihm an der Kund- gebung— denn eine solche war eS doch immerhin— n i ch t t e i l- genommen hätten, wenn sie von diesen Korrespondenzen, die auch im mildesten Lichte einer an Naivität grenzenden Un- Vorsichtigkeit außerordentlich bedenklich bleiben und noch manchen Schaden anrichten können, eine Ahnung gehabt und auch andere Umstände gekannt hätten." Eine Ergänzung zu dieser Darstellung liefern die Angaben der„AugSb . Postztg." über die Basis, auf der die Einigung zustande gekommen ist. Sie enthält folgende Punkte: „1. Der Papstbrief an Cammer steht glänzender gerecht- fertigt da als je. Des Papstes Herzensgüte, Milde und Lang- mut ist bewundernswert. 2. Hätten die Unterzeichner deS Denk- malaufrufS gewußt, waS sie jetzt wissen, hätten sie denselben anders redigiert oder unterlassen. 3. Schell hat sich nicht bloß aus Naivität zu bedauerlichen Briefwechseln hinreißen lassen, sondern auch zu anderen Akten, die vorläufig noch diskret bleiben sollen. 4. Ohne oder mit Willen und Unterstützung Schells bildeten sich in letzter Zeit unter seinen geistlichen Anhängern in der Diözese Strömungen, die in ihrer EntWickelung zum Abfall hätten führen müssen. 5. Wenn geistliche Schelliancr ihre Angriffe gegen den Papst und den Bischof von Würzburg in liberalen Blättern fortsetzen, werde in den Enthüllungen nicht mehr bloß von noch lompromittierendcren Briefen, sondern mit noch anderem Material fortgefahren werden, womit man bisher zurückhielt, um das Andenken Schells zu schonen. 3. Auch jene deutschen katho- lischen Blätter, die bisher das pointierte Borgehen der bayerischen nicht verstanden, begreifen eS nun." Die streng-ultramontane Richtung hat also völlig die Oberhand behalten.
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