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Statt einer Reform des höchst änderungsbedürftigen Zivilprozesses an Haupt und Gliedern, baut der Entwurf den Weg P l u t o k r a- tischer Rechtsprechung aus. Die Höhe resp. der Wert des Streitgegenstandes, nicht das Recht selbst soll nach dem Entwurf das Maßgebende sein. Wer in der Lage ist, hohe Objekte einklagen zu können, dem sollen nach wie vor zwei oder drei Instanzen zu Gebote stehen. Wer aber nicht Pro- zesse um hohe Summen führen kann, für den soll der Rechts- weg beschnitten werden. Nach dem Entwurf soll die Zuständigkeit der Amtsgerichte er- wettert werden. Die Amtsgerichte sollen in der Regel nicht wie bisher für Objekte bis 300, sondern für Objekte bis 800 Marl zu- ständig sein. Die Zahl der Berufungen ist relativ und absolut außerordentlich gestiegen. Im Jahre 1881 kamen auf 1000 Amtgerichtsurtcile 122 Berufungen, im Jahre 1S03: 248 ein Beweis, daß das Rechtsempfinden im wachsenden Maße mit der Rechtsprechung gelehrter Amtsrichter, die ohne jegliche Kenntnis des werktäglichen Ledens urteilen, unzufrieden ist. Statt nun entweder dem Laienelement einen größeren Einfluß zu ge- währen, oder die Vorbildung der Amtsrichter umzugestalten, ver- langt der Entwurf Erweiterung der Zuständigkeit der Amtsgerichte. Dem durch Einlegung von Berufungen geäußerten Begehren, Recht zu erhalten, soll dadurch entgegengetreten werden, daß in Zukunft die Berufung in den Fällen unzulässig sein soll, in dem der Streitgegenstand KO Mark nicht übersteigt. Durch diese Maßregel werden die ärmeren S chichten in erster Linie betroffen. Ihnen zeigt der Staat damit aufs neue, sie seien dazu da. die Kosten für den kostspieligen Recht- sprechungSapparat aufzubringen. Die Motive geben zu. daß die Fähigkeit der Richter eine so geringe ist, daß bei der durch Anwachsen von Berufungen erforderlichen Mehrung von landgerichtlichen und ober- landesgerichtlichen Stellen«erhebliche Schwierigkeiten hervorgerufen würden, wenn man die Anforderungen an die dafür berufenen Richter nicht in einer der Rechtspflege nachteiligen Weise herabsetzen will". Trotz dieser Geringschätzung der praktischen, wissenschaftlichen und technischen Befähigung der heutigen Richter soll die Allmacht deS Einzel­richters und damit die Rechtlosigkeit weiter Klassen der Be- völlerung in der angeführten Weise vermehrt werden. Man bedenke, daß im Reich imJahre 1S0S(abgesehen von den mehr als zwei Millionen Mahnsachen) bei den Amtsgerichten 2 117 612 und bei den Land- geeichten nur 818 787 Prozesse anhängig waren. Aus dieser Zahl ergibt sich, welch ungeheure Menge durch den geplanten neuen Pluto - lratischen Zug unserer Gerichtsorganisation benachteiligt wird. Das Vorstehende ist der Hauptinhalt des Entwurfs. Eine Reihe von Paragraphen will serner die Schwerfälligkeit des amts gerichtlichen Verfahrens durch An- näherung an die für Gewerbe- und Kaufmanns- gerichte bestehenden Bestimmungen etwas beseitigen. Es sollen mehr Arten von Prozessen als bisher zu Feriensachen erklärt werden. Dem Amtsrichter soll durch Gesetz die unsinnige Stellung genommen werden, daß er fast nur auf Betreiben einer Partei in der Regel einzugreifen und sonst die Stellung eines un- beweglichen Pagoden einzunehmen hat: er soll fortan, wie der Kaufmanns- und Gewerberichter, in verstärtter Weise zugunsten der�Ernnttelung der Wahrheit eingreifen können. Die ungeheuerlichen Gerichtskosten werden durch den Entwurf nicht herabgesetzt, sondern hinaufgeschraubt. Jeder Prozeß, der mehr als drei Tennine dauert, soll erheblich ver- teuert, die Schreibgebühr verdoppelt werden: statt 10 Pf. sollen 20 Pf. für die Seite von der Partei gezahlt werden. Dem Rechtsanwalt soll für die Herstellung des Schreib- Werks und zum Ersatz der Postgebühren ein P a u s ch a l s a tz von 20 Proz. der zum Ansatz gelangenden Gebühr, jedoch mindestens LO Pf. und höchstens 30 M. zukommen. Die Bevormundung der Parteien, die darin be- steht, daß der Amtsrichter, abgesehen von den Rechtsanwälten, Be- vollmächtigten und Beiständen, denen die Fähigkeit zum geeigneten Vortrag nach seiner Ansicht mangelt, den weiteren Vortrag unter- sagen kann, soll ausgedehnt werden. Von dem so not- wendigen Schutz der Arbeitersekretäre und Ge- Werkschaftsbeamten gegen die Zurückweisung e>löBeistände vor Gericht istimEntwurfnichtdie Rede. Ebenso hält sich der Entwurf von der Aufhebung deS An­waltszwanges durchaus fem. Die Flickarbeit des Entwurfs entspricht demnach keineswegs dem Ziel einer gerechteren Rechtsprechung. Die bestehende Staatsordnung zeigt auch durch diesen Entivurf wieder, daß sie unfähig ist, auch nur im Zivilprozeß die Rechte des Einzelnen zu schützen, und daß sie insbesondere zum Schutz der Rechte des Aermeren weder fähig noch willens ist.___ tfiarokko. Die radikale Polizeifaust! Die französische Regierimg, das Ministerium Giemen- ceau-Briand hat das Maß seiner Schande zum lieber- laufen gebracht! Es hat den Polizeibüttcl Wider die Protest- aktion der Sozialisten Frankreichs und Spaniens aufgeboten. Der Draht meldet: Paris 5. Oktober.(Meldung der Agence HavaS.) Der Spanier Pablo Jglcsias, der hierher gekommen war, um einen Vortrag gegen die Expedition Frankreichs und Spaniens in Marokko zn halten, wurde auSgewicscn und wird heute abend nach Spanien zurückreisen. Außer ihm sind noch drei andere Spanier ausgewiesen worden. So ist denn das Ministerium des radikalen Clemenceau und desSozialisten" Briand auf das Niveau der aller- gewöhnlichsten Gewaltherrschaft heruntergekommen. Die fran­ zösische Negierung fühlt sich so wenig sicher und hält ihre Sache, den Marokkofeldzug fiir so wenig sicher, daß sie eine internationale Aktion gegen das Marokko - abenteuer nicht glaubt ertragen zu können. Natürlich wird die brutale Maßregel den Protest selbst nicht verhindern. DieHumanits" teilt mit, daß die große Protestvcrsammlung trotz der Ausweisung des spanischen Genossen stattfindet. aurös kündigte eine Interpellation über den Fall in der ammer an. Ein Privattelegramm vom Abend meldet uns noch zu der Affäre: Paris , 5. Oktober, 8,55 nachmittags. DieHumanits" berichtet über Pablo JglesiaS' Aus- Weisung: I g l e s i a s kam gestern mittag hier an. Vier Polizeibeamte empfingen ihn am Bahnhof und befahlen ihm, ihnen zur Polizeipräfektur zu folgen, wo ihm weitere Mit- teilung gemacht werden solle. Drei ihn begleitende Freunde wurden nicht zugelaffen. Jglesias wurde im Fiaker zur Prä- fektur geftihrt, wo die Beamten dem nachfahrenden Redakteur Morizet von derHumamts" erklärten, JglesiaS sei nicht verhastet, aber der Zutritt zu ihm sei versagt. Um vier Uhr teilte der Kommissar dem Genossen Morizet und dem inzwischen geholten De­putierten Dubais mit, daß Jglesias den Ausweisung s- b e f e h l erhalten habe und mit dem Abendzug abfahre. Auf dem Bahnhofe begrüßten die Genossen Dubreuilh und duc Ouercy den vom Inspektor Begleiteten. Die heutige Versammlung findet trotzdem statt. Die Ausweisung ist damit motiviert, daß die Gegenwart Jglesias' die öffentliche Sicherheit gefährde(!!). Auch drei andere Spanier wurde« ausgewiesen, CanaleS. Redakteur dos Madrider republikanischen Blattes ,/E l P als", der Heraus- gebcrF ue n tes vomP r o g r e s s o" zu B ar c e 1 o n a und Emiliano Jglesias. Sie waren hier, um Privatsachen für F e r r e r. den Angeklagten im Madrider Attentatsprozeß, zu ordnen. Die Lage in Marokko . Paris , 5. Oktober. Der französische Konsul in Fez, G a i l l a r d, der hier auf Urlaub weilt, äußerte in einem Interview mit einem Vertreter desTempS" sich sehr optimistisch über die Lage in Marokko . Mulay Hafid habe wenig Aussicht aus Erfolg. Der Sultan Abdul A z i z habe erkannt, daß er 1904 eine falsche Politik gemacht habe: er sei von den besten Gesinnungen gegenüber Frankreich beseelt. Wenn dieses ihm über seine Geldnot hinweghelfe, werde er sich leicht behaupten. Nach dem Temps" besitzen die vom Sultan nach Paris gesandte» Juwelen einen reellen Wert von 9 bis 10 Millionen Frank. Paris , S. Oktober. Die«Agence Fournier" veröffentlicht folgende Londoner Meldung, die noch der Bestätigung bedarf: Einem amtlichen Communiquö aus Madrid zufolge sei es wegen des Konfliktes zwischen dem General Drude und dem spanischenTruppenkommandanten Okalla sehr wahrscheinlich, daß die spanischen Truppen aus Marokko zurückgezogen und das französische Militär allein in Marokko verbleiben würde. Durch diese Zurückziehung würden jedoch die spanischen Interessen in Marokko keine Be- einträchtigung erfahren._ Politische Clcbcrlicbt. Berlin , den 5. Oktober 1907. Preutzis cher Polizeigcist. Die Anzeichen mehren sich, daß in den Entwurf de» neuen Reichsvereins- und Versammlungsgesetzes allerlei reaktionäre Be- stimmungen hineinpraktiziert werden sollen, die von hinten herum die willkürlichen Eingriffe, deren Fortfall zuerst so bombastisch an- gekündigt wurde, wieder zulassen. Deutlich ergibt sich das daraus, daß neuerdings in der halboffiziösen Presse an die Ivürttem» bergische Regierung das Ansinnen gestellt wird, auf einige Be- stimmungen seines Vereins- und Versammlungsrechtes zu ver- zichten, da eS unmöglich sei, einfach dessen Bestimmungen in das neue Reichsgesetz hinüberzunehmen, weil in den anderen deutschen Bundesstaaten vielfach besondere Verhältnisse beständen, die«eine straffereHandhabuug derStaats- gewalt" erforderten. So heißt eS z. B. in einem Artikel der Leipziger Neuest. Nachr.". die Hauptschwierigkeit für ein einheitliches Vereins- und Versammlungsrecht liege darin, daß Württemberg ein Vereins- und Versammlungsrecht besitzt, das die Vereins- und Versammlungsfreiheit in einem Maße ge- währleistet, welches mindestens mit dem nationalen Interesse der Bundesstaaten mit einer nicht rein deutschen Bevölkerung un- vereinbar erscheine. «Man könnte freilich auf den Ausweg kommen, das württcm- belgische Vereins- und Versammlungsrecht anzunehmen und nur mit einigen Bestimmungen gegen Nichtdeutsche zu oruaineutieren. Dem steht aber die garantierte Unveränderlichkeit deS württem- bergischen Rechtes entgegen. Wenn erst die Memoiren des ver- storbenen Stuttgarter Kriegsministers V. Sukkow veröffentlicht werden, wird man daraus ersehen, welche Schwierigkeiten 1870 der Reichsgründung nicht nur in Bayern , sondern auch in Württemberg entgegenstanden, und wie hart damals Bismarck mit den schwäbischen Unterhändlern zusammenstieß. Zu den Zu- geständniffen. die damals von Preußen gemacht wurden, gehört auch das mündliche Versprechen, daß kein ReichS-Vereins- und Versammlungsgesetz jemals die würtlembergische Ordnung dieser Materie außer Kraft setzen würde. Die Frage präzisiert sich also dahin, ob das Reich einfach das württem- bergische Gesetz übernimmt oder nicht; oder ob man in Stuttgart auf etwaige Aenderungen unter Verzicht auf das 1870 erhaltene Ver- sprechen eingeht. Die Vorarbeiten und Besprechungen mit den Staatsmännern der verschiedenen Einzelstaate» sind im Gange. Mitten Parteiführern wurde in Norderney verhandelt, aber ein Bundesratsbeschlutz ist noch nicht gesaßt." Offen wird hier zugestanden, daß in das neue Gesetz ver- schieden« reaktionäre Bestimmungen hineingebracht werden sollen, die in dem württenibergischen Gesetz fehlen, und zwar müssen es ziemlich bedenkliche Be st immun gen sein, denn sonst würde man sich nicht im Reichsamt des Innern in dieser Weise den Kopf zerbreche» und von vornherein annehmen, daß die lviirttembergische Regierung kaum zur Nachgiebigkeit geneigt sein werde._ Keinnationaler" Kolonialtaffee mehr! Nach dem Bericht deS Mosie-BlatteS hat sich Dernburg noch un- günstiger über den Kaffeebau in Ostafrika geäußert als nach dem Wölfischen Telegramm. Den Kaffeebau hal danach der Staats- sekretär für absolut unrentabel erklärt: er wundert sich nur, daß damit nicht völlig reiner Tisch gemacht wurde. Der Kaffee- export aus Ostasrika bezifferte sich 1904 noch auf 836 981 M., 190ö auf 464 086 M. Auch die anderen Kolonien eignen sich nicht zum Anbau von Kaffee. So meldet die leyte Amtliche Kolonialdenkschrift. daß auch in Neuguinea der Kaffeeanbau nicht fortgesetzt worden seil Schade: auf den illustrierten NeichSliigenverbandS« Flugblättern nahm sich die dampfende Niesenkaffeetasse. die niisere wertvolle koloniale Kaffccproduktion veranschaulichen sollte, so an- heimelnd aus!_ Die Zeugniszwaugsfolter in Tätigkeit. Nach Bayern uud Baden wendet nun auch die Justiz i m Reichsland die ZeuguiSzwaugSsolter gegen Redaktcure zur Er- zwingung ehrlosen Verrats an. Wie wir schon berichteten, wurde Genosie Schneider, Redakteur an unserem Straßburger Partei- blatt, der«Freien Presse", im Gerichtssaal vom Flecke weg verhaftet. Grund: Er wollte den Bersasser eines Artilels nicht neuiien l Schon die Vorgeschichte ist äußerst bezeichnend. In dem schönen Städtchen Bischweiler (bei Straßburg ) herrscht die niedliche Sitte, daß bei Versteigerung von Holz durch die Gemeinde die Holzhändler gemäß vorheriger Vereinbarung sich nicht überbieten, vielmehr einen billig steigern lassen und dann unter sich weiter verkaufen. Außen- stehende werden abgefunden. An diesen sinnigen, dem Ge- meindesäckel nicht eben nützlichen Manövern beteiligt« sich auch ein Mitglied des Gemeinderats, das auf den Namen Mayer hört. Gegen ihn ging das sozialdemokratische GenieuideratSmitglied Thomas energisch vor. Ueber diese Sitzung wurde in der Straß- burgerFreien Presse" berichtet. Folge: Holzhändler Mäher klagte gegen Genossen Thomas, und zwar erstens: weil er ihn durch seine Rede im Gemeinderat beleidigt habe; und zweitens: weil er den Bericht über die Sitzung, in der die inkriminierte Rede ge- halten wurde angeblich verfaßt habe. Die Ver- Handlung vor dem Schöffengericht verlief kläglich. Nicht nur daß Genosse Thonias das B e st e h e n der angegebenen idyllischen Sitte bewies; er stützte sich überhaupt wegen seiner Aenßerung im Gemeinderat aus den K 193 des Strafgesetzbuches (Wahrung berechtigter Interessen); und schließlich machte sein An- walt geltend, daß der Strafantrag zu spät gestellt war. Es blieb also Herrn Holzhändler Mayer nichts übrig, als sich auf die an- geblichen journali st i scheu Schandtaten des Genossen Thomas zu stürzen. Aber auch hier fuhr er ab, Genosse Thomas bestritt die Verfasserschaft. Und nun ließ der brave Mann den verantwortlichen Redakteur derFreien Presse", Genossen Schneider als Kronzeugen zitieren. Was zu erwarten war, trat ein. Genosse Schneider verweigerte jede Aussage. Darauf stellte der gegnerische Anwalt Reiß aus Sttatzburg, ein entschiedener An- gehöriger der liberalen Partei in Sttatzburg, den Antrag, den loiderspenstigen Redakteur wegen Verweigerung des Zeugnisses zu bestrafen und zur Erzwingung des Zeugnisses sofort i» Haft zu nehmen. Und also sprach der Richter, ein junger Gerichtsassessor namens Hamm . Genosie Schneider wurde zu einer Geldstrafe verurteilt und ohne weiteres ins Gefängnis abgeführtl Gleichzeitig mit der Nachricht, daß Genosie Schneider in Zeugniszwangshaft genommen wurde, kommt die Meldung. daß gegen den Genossen Sauerbeck von der«Schwäbischen Tagwacht" zu Stuttgart ein Zeugniszwangsverfahren ein- geleitet worden ist. Unser Stuttgarter Parteiorgan schreibt unterm 4. Oktober: Der Ruhm, den sich Bayern und Baden vor einigen Monaten mit dem Zeugniszwangsverfahren gegen Redakteure erworben hat, läßt scheint's die würtlembergische Justizverwaltung nicht ruhen. Gestern war unser verantwortlicher Redakteur K. Sauerbeck als Zeuge vor den Untersuchungsrichter geladen, um Auslunft zu geben über den Verfasier einer nicht sehr bedeutsame» Notiz aus Botnang , die vor einigen Tagen in derSchwäbischen Tagwacht" veröffentlicht wurde. Da Sauerbeck ttotz allen Zuredens bei seiner strikten Weigerung, den Namen des Einsenders zu nennen, beharrte, wurden ihm schließlich eine Geld- strafe von 20 Mark und die Kosten des Versahrens auf- gebürdet. Es scheint, als ob allmählich auch die abscheulichsieu politischen Unsitten in Württemberg importiert werden sollen. Die württembergische Justiz hat sich schon mehr als einmal bemüht, die Namen der Verfasser unbequemerTagwacht"-Artikel kennen zu lernen. Wenn es ihr auf dem seither üblichen Wege der ein- fachen Befragung und eventuell noch der Haussuchung nicht ge- lang, so stellte sie ihre Bemühungen ein. Zwangsmittel zur Erpressung einer unehrenhaften Tat anzuwenden, das blieb dem Zeitalter vorbehalte», in dem der Justizminister Schmidlin die Gerechtigkeit verwaltet unter der Oberhoheit deö Herrn v. Weizsäcker. Christliche Kindererziehung. Die Ehefrau des.Waisenhausvaters" Bosse in Göttingen ist am 26. August vom dortigen Schöffengericht wegen fahrlässiger Körperverletzung, begangen an der elfjährigen Halb- Waise Else Sebo zu 40 M. Geldstrafe verurteilt worden. Die fromme Frau hatte das Kind, dasohne Erlaubnis" zu seiner Mutter(!) gegangen war und dies anfänglich geleugnet hatte. wie eine Wilde mit einem Rohrstock bearbeitet und die Hauerei auch dann noch fortgesetzt, als das Kind sich zur Erde warf, um sich strampelnd der Schläge zu erwehren. Elses Körper war am Oberschenkel, an den Lenden, dem Gesäß, an der Schulter, am Arm. ja sogar unter dem linken Auge mit dicken blut- unterlaufenen Striemen bedeckt. Das Schöffengericht bezeichnete die Züchtigung als brutal. Gegen das Urteil hatte Frau Bosse Berufung eingelegt. die am 3. Oktober vor der Göttingcr Strafkammer verhandelt wurde. Der medizinische Sachverständige bekundete, daß er acht bis zehn blutunterlaufene Stellen festgestellt habe, die mit einem recht derben Stock beigebracht sein müßten(erlaubt sind im Waisen- hause nur Züchtigungen mit einem schwachen Rohrstock). Ob das Züchtigungsrecht überschritten, sei schwer z u entscheiden(!). Das Mädchen habe eine hochgradig empfind- liche Haut. Immerhin sei die Mißhandlungaußergewöhnlich". Die Schläge seien mit ganz besonderer Wucht ausgeführt. Else selber bekundete, dieWaisenhauSmutter" habe ihr das Röckche» hochgehoben und sie auf den unbekleideten Körper geschlagen. Auch Lehrer Aschosf hat den Eindruck gewonncil, die Schläge seien auf dem bloßen Körper erfolgt. Das Kind sei lügenhaft gewesen, es habe sich jedoch gebessert, seitdem es aus der An st alt entfernt sei. Die Angeklagte bestreitet die Züchtigung auf den nackten Leib. Daß sie nach der ihr zuteil gewordenen Schulung aber den nackten Körper in dieser Weise gezüchtigt haben könnte, geht aus der Aussage des Pastors O e l k e r s hervor. Dieser zur E n t l a st u n g der Angeklagten geladene Zeuge leitet das bekannte Stephansstift in Hannover , in dem Frau Bosse wie ihr Mann ihre Ausbildung in derK i n d e r e r z i e h u ng" crljalten haben. Die Verteidigung loill durch diesen Zeugen den Beweis führen, daß man im Stcphansstift genau so züchtige, wie Frau Bosse die Else. Der Pastor sagte au», die Züchtigung werde in der Regel von dem Hausvater ausgeübt, und zwar müßten sich die Kinder über einen Stuhl legen. Falls ein Kind sich wehre, würde es eine Kapitulation vor ihm bedeuten, wenn die Züchtigung nicht fortgesetzt werde. Es gebe hierbei zwar Szenen, die einem selbst peinlich seien, aber im Interesse der Erziehung(!) und der Disziplin müsse die Züchtigung in solchen Fällen mit eiserner Konsequenz durchgeführt werden. Ferner er- klärt der Diener des Herrn: bei besondersschweren Vergehen" habe auch er auf daS nackte Gesäß geschlagen und ebenso hätten es seine Vorgänger gemacht. Das Gericht--- sprach die Waisenhausmutter frei! Die Else habe die Strafe für ihr Leugnenmit vollem Recht er- halten". Das Züchtigungsrecht sei nicht überschritten. Wie sollte auch die Justiz des Staates, dessen Beamter einer Kolonie gleich eine ganze Schulklasse mitsamt dem Lehrer ent- kleiden undzüchtigen" läßt, ein anderes Urteil fällen? Sinekuren für unsere Junker. DieFreisinnige Zeitung" empfiehlt, die Sondergcsand- schaften Preußens in den deutschen Bundesstaaten auszuheben. Die Herren bezögen Gehälter bis zu 45 000 Mark und führten dabei in Ermangelung sonst zu erledigender Geschäfte einbe­scheidenes Stilleben." Allerdings seien diese Posten sehr ge- sucht und begehrt bei dem Junkerttttn. DieFreisinnige Zeitung" wird bei den konservativen Blockbrüdern für den Vorschlag der Beseitigung dieser Sine- kuren wenig Gegenliebe finden. Oder höchstens erst dann. wenn durch die koloniale Börse«Politik Dernbnrgs eine entsprechende Anzahl hochbezahlter A», f s i ch t s- rats stellen für das Junkertum geschaffen worden sind! Dem Volke wird der Spaß dann allerdings noch viel teurer zu stehen kommen!