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. 298. 24. Jahrgang 4. Beilage des„ Vorwärts  " Berliner Volksblatt. Somabend, 21 Desember 1907.

Aus der Frauenbewegung.

Bom Dogma der lebenslänglichen Einehe. In Presse und Versammlungen gehen bürgerliche Frauen der gemäßigten Richtung hausieren, um der lebenslänglichen Einehe auf dem Wage des Kleinhandels noch einigen Kredit und die Ge­folgschaft jener zu sichern, die jetzt dem Brutus und nachher dem Antonius zujauchzen.

Sie machen gute Geschäfte. Das Leben ist zwar cifrig am Werke, die alte Firma„ Kapital und Monogamie" zum Bankrott zu treiben, aber die Zähigkeit, mit der nun einmal alles Bestehende sich zu behaupten trachtet. verlängert eine Geschäftsverbindung, deren Tage der wirklichen Sachlage nach eigentlich gezählt sind. Was ist die lebenslängliche Zwangseinehe? Nach den Fest ftellungen aller Soziologen, zu denen, wennschon berklausuliert und ouf Umwegen auch Marianne Weber   in ihrem„ Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwickelung" zurückkehrt, der Wunsch und Wille, seinen esik legitimen Erben zu hinterlassen. Dieser Wunsch und Wille ist geworden und hat seine dogmatische und saamentale Festlegung in einer Zeit erfahren, in der man von persönlicher, von äußeren Verhältnissen unabhängiger Zuneigung noch nicht in dem Maße wußte, wie dies heute der Fall ist. Man war, wie der technische Ausdrud lautet, noch nicht so differenziert. Zuerst ver­einigten sich die Tiermenschen, später ehelichten sich die Sippen, dann die Vermögen: heute begehren die Menschen einander. Darum ist es heute im tiefsten Sinne unfittlich, wenn man fortfährt, bei Abschluß einer Ehe nur danach zu forschen, ob Stand und Ver­mögen, nicht aber, ob die Menschen zu einander passen.

I'm wieviel sittlicher ist in diesem Sinne das Proletariat. In den meisten Fällen haben da beide Eheschließende überhaupt nichts, fo daß erfreulich oft es nur die Zuneigung ist, die die Menschen zu einander führt.

Aber die Begründung der Ghe auf Stand und Vermögen ist nicht nur unfittlich, sie ist auch dumm, und undurchführbar in einer Zeit, die den weitaus größten Teil aller Menschen nicht mehr auf ein Geldvermögen, das sie nicht haben, sondern ausschließlich auf den Ertrag ihrer Arbeitskraft anweist.

Mit dieser unwiderleglichen Feststellung ist der ehelichen Galeerensflaverei auch von der wirtschaftlichen Seite her das Lodesurteil gesprochen. Und doch erklärt Marianne Weber   die heutige Zwangsinstitution, der sie nur einige Milderungen im Punkt Chefcheidung wünscht, für das ethisch höchste Jdeal, das selbst da, wo es eine noch so leidenschaftslose Achtungsehe ist", jene freien Verbindungen, weitaus übertrifft, bie, obzwar auf der Basts tiefen und ehrlichen Empfindens geschlossen und durchgeführt, an dem einzigen ihnen zugänglichen Wertmaßstab, der Kraft des Gefühls gemessen, nur die Qualität eines Surrogates befizen". Sehen wir uns dies ethisch höchste Zdeal" ein bißchen näher an. Auf welcher Basis erfolgen innerhalb der Schichten der In­tellektuellen und Besitzenden die meisten Eheschlüsse. Ist es die starte Liebe", die an ihre eigene Gwigkeit glaubt und darum nach unberbrüchlicher Bindung begehrt?

Ach nein! Titel und Würden, Geld und Güter, materielle Einflüsse mannigfachster Art sind die Triebkräfte der modernen Ewigkeitsche.

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Aber wennschon! Erfüllt diese Ehe, wenigstens nachdem sie vergifteten Familienlebens aufwachsen zu lassen, heißt sie unheil­vollzogen ist, die in sie gesetzten Grwartungen?

Wiederum muß es heißen: Ach nein! Untreue der Männer, Unbefriedigtsein der Frauen, Gleichgültigkeit, Dede und Lange­weile, wenn nicht Haß und Hader, das ist in traurig vielen Fällen das Spiegelbild heutiger Ehe. Und man gehe in die Bordelle und frage, wer fie in Nahrung fest? Erkundige sich nach den ehe­männischen Anteil an der Prostitution in allen ihren Formen, vom Halten einer Maitresse bis zum Besuch des Bordells. So sieht in vielen Fällen die bürgerliche Che, dieses ethisch höchste deal" aus. Nach. ihren Voraussetzungen und nach ihrer inneren Struktur. Die aber das Kind beim rechten Namen nennen, die schmäht man. Macht sich einen Popanz zurecht, so ein rechtes Scheusal und Greuel bon Unzucht und Liederlichkeit, nennt ihn neue Ethik, haut drauf los und trifft- daneben. Neben die wirklich neue Ethik nämlich.

Die neue Ethik, die überall da am Werke ist, wo suchende Menschen hinaufstreben zu den lichten Höhen der Schönheit und Wahrheit. Wo Kämpfende fich zur Wehr sehen gegen die Dunkel männer aller Sorten, gegen das erstarrte Dogma und die ver­tnöcherte Intoleranz.

Nicht um sittlichen Umsturz, nicht um Vernichtung des außer ordentlich entwidelungsfähigen monogamischen Gedankens ist es den Jüngern der sogenannten neuen Ethik zu tun, sondern um eine Erneuerung, eine Reformation an Haupt und Gliedern. Keine neue" Ethik soll sein, sondern eine Verjüngung, eine Betätigung jener höchsten Form von Ethik, die wir aussprechen als die Identität von Scheinen und Sein, als die Pflicht, auch in den geschlechtlichen Beziehungen als den wichtigsten Lebens­verhältnissen der Menschen zu einander im Einklang mit sich selbst zu bleiben. Die innerlich wahre Monogamie stellt das normalste, höchste und beste Liebesverhältnis der Menschen dar", sagt Forel in seiner Sexuellen Frage". Aber diese Monogamie soll ihren Ewigkeitsanspruch aus sich selbst schöpfen, begründen und ständig erneuern. Sie soll eine frei gewollte und frei festgehaltene Geschlechtsverbindung mit leicht löslicher geschlicher Bindung sein, so wie der bekannte" bon juge", der ideale französische   Richter Magnaud sie kennzeichnet, wenn er fagt:" Ich wünsche aufs lebhafteste, daß man eine freie Verbindung einrichte, die durch einfache Erklärung vor dem Standesbeamten herbeigeführt wird und genau dieselben Familienrechte zur Folge hat, wie die gewöhnliche, und die auch durch übereinstimmende oder einseitige Erklärung vor dem Standesbeamten ihr Ende fände..

Das lezte Wort darüber, ob der Mensch überhaupt monogamisch veranlagt ist, kann noch nicht gesprochen werden, weil bis jetzt das Schredensregiment des Zwanges jede freie Entschließung und da mit jede Erfahrung in dem einen oder anderen Sinne unmöglich gemacht hat. Soviel aber wissen wir heute schon, daß es sittlicher ist, wenn eine Ehe zu sein aufhört, sobald sie keine rechte She mehr ist. Aber die Kinder? Nun, gerade um ihretwillen follte eine Ehe aufhören zu sein, die teine mehr ist. Kinder sind viel fein­fühliger und feinhöriger, als die meisten ahnen. Sie inmitten eines

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bar schädigen. Die Familie kann der köstliche und unversiegliche Born sein, aus dem alles Beste, Tieffte und Feinste des Lebens quillt und gespeist wird. Sie wird für den zum Fluch, der in ihrer Mitte alle Bitterkeiten und Häßlichkeiten kennen lernte, die Menschen einander antun können und so viel leichter einander an­tun werden, wenn die Gewißheit des auf Lebenszeit Aneinander­geschmiedetseins sie zu Verzweifelnden gemacht hat.

Darum eine leichte Löslichkeit der Ehe zu allererst im Namen des Kindes und mit der selbstverständlichen Bedingung, daß die ökonomischen Lasten der Kindererziehung beiden Eltern in Ge­mäßheit ihrer Tragkraft aufgebürdet werden.

Die höheren Töchter der Stadt Fürth   in Gefahr. Einer Mitteilung eines hiesigen Blattes zufolge sollte dieser Tage in Fürth   bei Nürnberg   ein Wöchnerinnen- und Säuglingsheim errichtet werden. Der Grundstein ist bereits gelegt, doch soll die Arbeit plötzlich unterbrochen worden sein und zwar deshalb, weil

der Herrgott möge mit den Schuldigen am jüngsten Tage nicht zu streng ins Gericht gehen, weil sich vis a vis der Baustelle die städtische Höhere Löchterschule befindet. Darob erschrecken nun nachträglich die ehrsamen Fürther   Bürger gar gc­waltig und die Zöpfe begannen zu wackeln bei der Erkenntnis der furchtbaren Gefahr, die der zart behüteten Unschuld ihrer Töchter drohte. Flugs wurde ein" Proteststurm" entfacht, Tausende unterschrieben eine Eingabe, die der Regierung überreicht werden foll. Hoffentlich wird diese ein menschlich Rühren empfinden und das Unheil in seiner ganzen Größe richtig ermessen, auf daß der weiterbau untersagt und somit die" fittliche" Gefahr von den " höheren" Töchtern der Stadt Fürth   noch rechtzeitig abgewendet wird. 3war sagt man gewöhnlich, was fommen will, kommt doch"; aber immerhin fann man alle Schußmaßregeln vorher anwenden. Wir leben im Zeitalter der Bazillen und bei der unmittelbaren Nähe der beiden Institute wäre es gar nicht so unmöglich, daß in die Mädchenschule verirren könnten und dafelbst unter den fitt­fich einmal Säuglingsbazillen aus dem Wöchnerinnenheim hinüber samen höheren Töchtern unermeßliches, ja geradezu unabsehbares unheil anrichten würden. Wer kann sich da verwundern, wenn bie chrsamen Stadtväter von Fürth   rechtzeitig vorbeugen? Es lebe die Tugend, die Tugend, die in Reinkultur im Herzen der höheren Tochter" lebt!

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