Sie Cnbedter Bordellltatfe vor dem lubcckifcheo(Parlament. Iin Verlauf eines Prozesses, der am Schluß des Monais Ok- ?oVcr 1907 gegen einen Lübecker Polizeibcamtcn namens Mahn Wegen Urkundenfälschung und Unterschlagung geführt wurde, kam an das Tageslicht, daß die Lübecker Polizei ohne Wissen der gesetzgebenden Körperschaften eine von den Vordellwirte» nnd Bordevmädchcn gespeiste L-Kasse führt, die den verschiedensten A necken dient. AuS derselben wurden nach den Meldungen der Bläter Gratifikationen bezahlt, die Defizite bei Schunniannsfestcn gedeckt, an einzelne Leute zinsfreie Hypotheken gegeben und Badereisen bewilligt: Eine Kontrolle der Kasse fand überhaupt nicht statt. In der Lübecker Bevölkerung entstand natürlich eine große Erregung, als nun: diese Tatsachen erfuhr. Es wurde für s e l b st verständlich gehalten, daß der Senat in der gesetzgebenden Körperschaft, der Bürgerschaft Aufklärung über die Angelegen heit geben würde. Man hatte sich aber getäuscht! Wohl wurde in einer BürgcrschastSsihung mitgeteilt, daß der Senat sich mit der Sacke besaßt habe, daß auch nicht alles in Ordnung gewesen sei; der Senat wolle den Karren schon wieder aus dem Dreck ziehen. Die Bürgerschaft solle nur hübsch ruhig sein. DaS wäre sie ihrer Mehrheit sicherlich auch am liebsten gewesen, wenn nicht acht Sozialdemokraten und auch einige wenige andere Leute, die nicht vor dem Senat zusammenknicken, in der Bürgerschaft sähen. So kam denn am Montag ein Antrag zur Verhandlung, der lautete „Welche Schritte hat der Senat in Sachen der gegen Recht und Gesetz bestehende»„S"-Sassr unternommen?" In der Begründung hob der Antragsteller hervor, daß d i ganze Existenz der Kasse ungesetzlich sei, da sie auf keinem Beschluß der gesetzgebenden Körperschaften beruhe. Weiter wurden alle Angaben über die unglaubliche Verwendung der Kaffengelder wiederholt. Und der Senat? Er mußte durch seinen Vertreter zugeben, daß die meisten Gerüchte wahr gewesen sind, daß Gratifikationen aus �)er Bordellkasse ge zahlt worden sind, daß das Defizit eines Schutzmanns festes aus der Kasse gedeckt wurde.?luf die anderen Be Häuptlingen ging der Senator nicht ein. Daß die Kasse gegen Gesetz und Recht bestehe, wurde nicht bestritten. Wenn man daraus schlußfolgern würde, der Senat wolle darum jetzt die Bordellkasse ausheben, so würde man sich gewaltig irren; nur be<rr» kontrolliert werden soll sie! Man hält Bordellwirte und Bordcllmädchen eben für moralisch verlotterte Menschen, nimmt ihre Gelder jedoch gern! Von sozialdemokratischer Seite wurde auch die Rcgkemen tierung der Prostitution, wie sie in Lübeck besteht, scharf kritisiert Durch dieselbe mache man es den Mädchen unmöglich, jemals wieder einen anständigen Lebenswandel zu führen. Auf die Frage ob es richtig sei, daß der frühere Polizeihauptmann Munck jährlich 800 M. Gratifikation aus der Bordellkaffe erhalte» und nicht ver- steuert habe, erfolgte keine Antwort! Weiter wurde von unserem Redner die Mißwirtschaft, die auf der Polizeikasse geherrscht hat an den Pranger gestellt; früher gpb eS nämlich auf der Polizeikasse keine richtigen Revisionen. TagSabschlüsse wurden nicht gemacht Wiederho� wurden„Schiebungen" vorgenommen, die dazu dienen mußten, 9v Abrechnungen zum Stimmen zu bringen und die gesetz gebenden Körperschaften zu täuschen. Der Senat konnte auf alles das n i ch t s c r w i d e r n! Bezeichnend war es, daß quö der Mitte der Bürger» s ch a/ t der Antrag gestellt wurde, nur eine bessere Kon- trolle der L-Kaffe vorzunehmen, im übrigen aber die un- tTs etzliche Kasse bestehen zu lassen! Die Mehrheit dcs ?)serklassenparlamentS hatte jedoch Wohl fo viel Scheu vor der Oeffentlichkeit. daß sie diesem Antrag nicht zustimmt? Mit der Besprechung der Angelegenheit ist die 5-Kassenaffäre vor' läufig abgetan. Borläufig aber nur, denn bei der Budget- beratung werden von sozialdemokratischer Seite Anträge gestellt werden, die die Beseitigung der ungesetzlichen Bordellkasse fordern! Ob die Bürgerschaft den Anträgen, die im Interesse dcb Staates Lübeck liegen, zustimmen wird, bleibt abzuwarten. Freisinn lind iilajeMtbeieidigiing. Das ungeheuerliche Urteil der KönigSbergor Justiz ist von der freisinnigen Presse, soweit sie als p a r t e i o f f i z i ö S gelten darf, völlig ignoriert worden! Nur fteisinnias Außen- seiter. die keinen Einfluß auf die Partei haben, haben die politische Schmach bcS Totschweigens einer solchen Affäre nicht ertragen können. So schreibt beispielsweise Dr. Rudolf Breitscheid in der„Neuen Hamb. Zeitung": »Fünfzehn Monate Gefängnis? Majestäts veleidigung? Man faßt sich an den Kopf und fragt sich. ist. die tgung..... 10 o in aller Welt denn die Majestät beleidigt Bon Wilhelm II. ist auch nicht einmal andeuwngZwelse Rede. Nur von seinen Urgroßeltern wird gehandelt und das schärfste Wort, das über die Königin gesprochen wird, ist jenrS Urteil, da« Alexander von Humboldt fällte, der ja annnoch seinen Sitz Unter den Linden zu Berlin in nicht allzuaroßer Eni. fernuna vom alten Fritz hat. Alles andere ist historische Kritik, die so falsch als möglich sein mag, die aber auch nicht die leiseste veleidigung des Herrschers zu enthalten scheint. Scheint denn Staatsanwalt und Richter haben diese Beleidigung herausgefunden. Der Staatsanwalt ist der Ansicht. daß der Artikel nur geschrieben sei, um den Kaiser, von dessen Erscheinen zur DenkmalSenthülluiia der Angeklagte Kenntnis gr habt habe, in der öffentlichen Meinung herabzusetzen und die Richter halten«S für beleidigend,«inen Akt, bei dem der Kaiser mitwirken werde, eine Tragikomödie zu nennen, wie eS in den beiden Blättern geschehen ist. Gibt es einen denkenden Menschen, den nicht bei einer derartig extensiven Auslegung des ß SS unseres Strafgesetzbuches geradezu e<n Entsetzen er» griffe? Welch ungeheuerlichen Perspektiven eröffnen sich hier I Ich setze doch nicht nur dann jemanden in der öffent- lichcn Meinung herab, wenn ich zu einem bestimmten Termin abfällige Bemerkungen über seine vorfahren mache, sondern der- selbe Tatbestand ist doch vorhanden, wann auch immer ich mir erlaube, dies« Kritik zu üben. Der Kaiser ist eine Person, die zu jeder Stunde in der Oeffentlichkeit steht, und wenn es ihn beleidigen heißt, über seine Ahnen ungünstige Aeußerungen zu machen, so gilt das doch für alle Fälle und nicht nur für den. wo er gerade ein Denkmal Wilhelm' II. unerfreuliche Dinge erzählt, ist der Majestät* bileidigung verdächtig, und zum versuch, de» WahrhertS- beweis anzutreten, wird er ebensowenig zugelassen. wie der KSnigSberger Angeklagte. Beweis der Wahr- heit schließt ja zudem auch Strafbarkeit nicht aus. Der Hinweis auf die.Tragikomödie" ist fast noch unglaublicher. Man konstruiert eine Majestätsbelcidigung daraus, daß ein F e st a k t. dem der Kaiser beiwohnen wird, vier Tage zuvor eine Tragikomödie genannt wird. Wohlgemerlt wird ihm diese Bezeichnung nicht etwa gegeben, weil der Monarch sich an ihm beteiligt, sondern ganz ohne Rücksicht auf seine etwaige Anwesenheit. Es ist einfach nicht a u S z u d e n t e n, was nach dem Vorgang der Königsberger Strafkammer alles unter den Begriff der Majestätsbelcidigung fallen kann." Und über ein Urteil, das nach dem Urteil des Frei- sinnigen Breitscheid mit„Entsetzen" erfüllen muß, das „ungeheuerliche Perspektiven" eröffnet, bei dem man sich„an den Kopf faßt", hat sich die offizielle FreisinnSprefse völlig ausgeschwiegenl Und das in einer Aera der Blockpolitik! Das in einem Moment, wo die Majestätsbelpidigungs-Reform aktuell ist! Das angesichts eines Urteils, das ein Schul- b e i s p i e l und der z w i n g e n d st c B e w e i s dafür ist, haß die Bülowsche MajestätsbeleidigungS-Nefonn nichts anderes bedeuten würde, als die völlige Berfemnng und rechtliche Ausnahmestellung der Sozialdemokratie i Und das in einem Falle. wo durch den Gesamt- f r e i s i n n wenigstens der Versuch gemacht werden konnte. allzuspät zu sühnen, was die dcuullziatorischeu Ergüsse des Königsberger Freisillnsblattes verschuldet hatten! Der Freisinn ist auf der tiefsten Stufe Politischer Selbst- cntmannung angelangt! Man kann das Wort„freisinnig" nicht mehr ohne eine Gefühl des Ekels aussprechen!— Das lilolonial'ihunnentum vor Gericht. Der Petersprozeß in Köln enthüllt geradezu pathologische Dinge. PetcrS müht sich um den Nachweis, daß der österreichische Konsul Dr. Baumann zur Zeit seiner belastenden Aussagen gegen ihn. den PeterS, geistig nicht mehr intakt gewesen sei. Die heutigen Prozeßverhandlungen dagegen erwecken den Anschein, als ob PelerS selbst zur Zeit der Jagodjaaffäre vom TobsuchtSwahnsinn befallen gewesen sei. Als er nämlich bei einem Zeugen, einem Eifenbahnbeamten. zu Gast weilte, erzählte er diesem Dinge, bei denen die Haut schaudert. Dinge, von denen man annehmen sollte, daß sie sich der zerrütteten Psyche eines Lustmörders in Fieberdclieren entrungen hätten. Dein Zeugen erzählte er— und PeterS gab daS ausdrücklich zu,— daß er eine schwarze Konkubine wegen„Ehebruchs" habe hängen lassen! Er prahlte ferner damit, daß er nie eine Strafe unter 50 Hieben vollziehen lasse! Wenn ein Boy einmal Zucker stibitze, so lasse er ihm 150 Hiebe aufzählen! Und noch Scheußlicheres erzählte der Zeuge: PeterS habe, un, schleunigst Futter für seinen Esel zu beschaffen, einem Dorfältesten ein Streichholz an die Lippe» gchalteu! Und Ein- geborene, die für ihre Waren mehr verlangt hätten als Vss des Wertes, habe er als„Draufgeld" 50 Hiebe verabfolgen lassen I Und Peters gab zu, daß er damals dergleichen erzählt habe,„weil cö seiner damaligen Sinnesrichtung entsprochen" habe! Mit dieser„SinneSrichtung" vertrug sich freilich auch ausgezeichnet sein Verhalten im Falle Jagodja. Dies„unschuldige Wurm", wie sich der Zeuge Wilhelm, ehemaliger Unteroffizier der Schutz truppe, ausdrückte, wurde mit Hieben zerfleifcht und schließlich aufgehängt, weil eS sich durch Flucht der Herr schaff deö PeterS zu entziehen suchte. Und-- so bekundete Wilhelm weiter— sie hatte alles Recht zur Flucht, denn sie stand in keinerlei Dienstverhältnis zu PeterS I Um aber dies grauenhafte Kultur« und Sittenbild völlig zu würdigen, bedenke man, daß dieser Zeuge den PeterS, dessen Er- zählungen er vollen Glauben beimaß, nicht etwa zur Türe hinauswarf, sondern nach wie vor mit voller Höflichkeit und Ehr erbietung als Repräsentanten der deutschen Regierung behandelte An waS müsse» unsere Kolonialreisenden gewöhnt sein! | Die frelsünlige Presse hat diesem prozessualen Denkmal deutscher Kolonialschande bisher kaum irgend welche Aufmerksam- keit gewidmet! Seit der konservativ-liberalen Paarung scheint sich der Freisinn zum Mitschuldige» jeglicher Knlturschmach machen zu wollen l politische Cteberftcbt« verlin. den 8. Januar 1908. Alter und neuer Mittelstand. Aus dem Reichstage. Nach den Weihnachtsferien widmete sich der Reichstag zunächst wieder dem Mittel tandSantrage der ZcntrumSpartci. ES handelte sich noch um daS Schlußwort der Antragsteller. DaS ward dem Abgeordneten Irl übertragen, der-- als Kirchenfenftermaler in einer kleinen oberbayerischen Stadt— innerhalb seiner Fraktion als eine besondere Autorität für MittelstandSfrago» gilt. Diesem würdigen Manne hatten vor einiger Zeit böse Leute in seiner Heimat nachgesagt, er gehöre zu jenen Ab geordneten, die sich durch die Tugend beharrlichen Schweigens auszeichnen. Offenbar benutzte er die günstige Gelegenheit, um durch die Tat die Nebel solcher Gerüchte sieghaft zu zcr- treuen. Er hatte sich in der Muße der Weihnachtsferien eine endlose Rede ausgearbeitet, die er vom Blatte herunter murnielte. Nur gewiegte Kenner des obcrbayerischcn Dialekts waren imstande, den Irischen Gedankengängen zu folgen. Daraus, daß er hin und wieder das Wort„Sozialdemokratie" im Tone sittlicher Entrüstung herauSblubborte. ließ sich ent nehmen, daß sei» Seelenfrieden durch irgend welche sozial demokratische Untat gestört worden ist. Hoffentlich kehrt die Ruhe in sein Gemüt zurück, sobald er sich wieder der behaglichen Beschäftigung hingeben kann, die lieben oberbayerischen Engelein fein säuberlich aus daS GlaS der Kirchen- cnster oder auf Bierkrüge zu pinseln. Bei der Abstimmung wurden sämtliche Absätze dev An- Drages angenommen. Unsere Fraktion stimmte indes gegen die Forderung, daß nur die mit dem Meistertitel begnadeten Handwerker daS Recht haben sollen, Lehrlinge auszubilden. Als zweiter Gegenstand der Tagesordnung kam der An- trag der konservativen Partei zur Verhandlung, der die Re- gierung auffordert, bis zur nächsten Session einen Gesetz- entwurf vorzulegen, der siir die P r t v a t a n g e st e l l t e n insgesamt die Alters-, Invaliden-, Witwen- und Waisen- Versicherung einführt. Grundsätzlich stimmen alle Parteien dieser Forderung zu, die allseitig auch von den An- gestellten selbst gewünscht wird. Meinungsverschiedenheiten treten nur in bezua auf gewisse Eiuzelbestimmungen zutage. Gegenüber der Mehrheit der Redner der bürgerlichen Parteien vertrat Genosse Robert Schmidt den Standpunkt, daß die Versicherung der Privatanaestelltcn der Arbeiter- ersicherung angegliedert werden muß, während von anderer Seite für die Privatangestellten eine Sonderstellung beansprucht wird. Die Motive für eine solche Ausnahmestellung der Privatangestellten traten be- sonders in den Ausführungen des nationalliberalen Herrn Stresemann zurage, der sonst noch in Schokolade und Kriegsschiffen macht. In seinen Augen sind die Privat- angestellten Leute des„neuen Mittelstandes", die zwischen Unternehmern und Arbeitern eine vermittelnde Stellung ein- nehmen und deren Ansprüche auf„standesgemäße Lebens- Haltung" berücksichtigt werden müssen. Im Zusammenhange mit der Bekämpfung dieser standesgemäßen strefemännischen Auffassung vertrat Genosse Schmidt die Forderung, daß die Privatangcstclltenversicherung auf Ncichszuschüsse Anspruch habe, genau wie sie bei der Arbeiterversichcrung eingeführt sind. Während dieser Erörterungen die Debatte ist noch nicht zu Ende geführt— lieferte der Vizepräsident P a a s ch c einen amüsanten staatsmännischen Befähigungsnachweis. Er erhob sich plötzlich, klingelte und verkündete feierlich, daß Fremde nicht das Recht hätten, sich im Sitzungssaale auf- zuhalten.... Aller Augen suchten in dem dünnbcsetzten Saal nach dem Eindringling. Paasches streng durchbohrende Augen wiesen den Weg. Sie schössen Blitze auf einen Herrn mit unbekanntem Gesicht, der harmlos plaudernd zwischen einigen polnischen Abgeordneten saß. Aber der Delinquent rührte und regte sich nicht. Er plauderte ruhig weiter. ES war ei» ncugcwählter polnischer Abgeordneter, dessen Gesicht dem gestrengen Herrn Vizepräsidenten aimoch unbekannt geblieben. So war es also wieder einmal nichts mit der plötzlichen Eingebung des Herrn Paaschc. Schade! Wie schön hätte es sich gemacht, wenn dieser strafende Erzengel mit der durchgehenden Zunge und dem feurigen Schwert einen sündhaften Eindringling aus dem parlamentarischen Paradiese hätte vertreiben können! Na, vielleicht gelingtS dem heiligen Paasch« das nächste Mal.— Tie Einbringung des Ttaatshaushaltsetats. Am Mittwoch hat das preußische Abgeordnetenhaus feine Sitzungen wieder aufgenommen. Mit der üblichen Einlcitungsrcde brachte der Finanzminister den Etat ein, der diesmal mit fast 3� Milliarden Mark in Ein- nahmen und Ausgaben balanziert. ES war das erste Mal, daß Herr von R h e i n b a b e n in die Lage versetzt war, einen Etat zu vertreten, der den wirtschaftlichen Niedergang widerspiegelt. Ter Etat für 1006 stand noch im Gipfelpunkt der wirtschaftlichen EntWickelung, 1907 machten sich zwar bereits An- zeichen der sinkenden Konjunktur bemerkbar, aber der Minister glaubte nicht daran oder wollte nicht daran glauben. Jetzt hat er das Nachsehen, die erwarteten Ueberschüsse sind ausgeblieben, und es müssen neue DeckungSmittel gesucht werden. Ter Etat für 1908 ist äußerst vorsichtig ausgestellt, dxr Minister bezeichnet als oberstes Gesetz: Maßhalten im Leben des Staates wie int Leben des einzelnen. Ganz unsere Meinung, nur dürften unsere Ansichten darüber, auf welchen Gebieten der Staat maßhalten soll, von denen der Regierung und der Mehrheit, des Dreiklassenparlaments erheblich abweichen. Bisher hat der preußische Staat gerade da gespart, wo die Spar- samkeit am wenigsten angebracht war, nämlich bei Ausgaben für Kulturzwecke, während er für kulturwidrige Zwecke das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinausgeworfen hatl Daß es vorläufig nicht anders werden wird, dafür bürgt die Zusammensetzung dcs Parlaments des Wahlunrechtö. Auf Einzelheiten des Etats an dieser Stell: einzugehen, müssen wir uns versagen, wir werden den Etat noch im Zusammenhang behandeln. Es sei nur gegenüber der An- preisung des Ministers, daß wieder erhebliche Summen für Lehrerbildungszwecke eingestellt sind, daran erinnert, daß Preußen damit nur die Unterlassungssünden früherer Jahre gut macht. Eine Erhöhung der Einkommen- und Vermögenssteuer stellte Herr von Rheinbaben in Aus- ficht, aber wann und in welcher Form, darüber äußerte er sich nicht. Die Besitzenden werden schon dafür sorgen, daß sie nicht zu stark belastet werden, die Herren werden sich nicht ins eigene Fleisch schneiden. Wenngleich der Minister ab und zu Betrachtungen über die Wirtschaftslage in seine Rede einflocht, so sagte er doch über die das Proletariat gm meisten interessierende wirtschaftliche Frage. die der Arbeitslosigkeit, herzlich wenig, und das Wenige trifft auch nicht einmal zu. Er meinte, die Beschäftigung sei, von Aus- nahmen abgesehen, auf der alten Höhe geblieben, die Gewerbe seien bemüht, nach Möglichkeit Arbcitercntlassungen in größerem Stil zu vnnciden. TaS zeigt, wie fern die preußische Regierung de», wirklichen Leben der Arbeiterklasse steht. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit schon jetzt ganz gewaltig, und sie nimmt von Tag zu Tag einen größeren Um- fang an! Bemerkenswert ist der Rat, den der Minister den Gemeinden gab; er sprach von der zunehmenden Verschuldung der G e in e i n d e n und meinte, die Gemeinden hätten sich daran ge- wöhnt, Ausgaben für Dinge, die zwar nützlich, aber nicht notwendig sind, aus Anleihemitteln zu bestreite». Wir haben bisher nicht gefunden, daß die Gemeinden zu viel für nützlich« Zwecke aus- gaben. Hier darf nicht gespart werden, namentlich nicht, soweit soziale Zwecke in Frage kommen. Auf Anleihen aber sind die Ee- mcinden so lange angewiesen, wie ihre Zusammensetzung infolge des DretklassenwahlsystemS so ist, daß die Besitzenden geschont werden. Man ändere da« kommunale Dahlrecht und gebe gleich- zeitig den Gemeinden die Möglichkeit, in höherem Grade zur direkten Steuer zu greifen, und die Anleihewirtschaft hat mit einem Schlage ein Ende. Die Besprechung des Etats wird erst am Montag beginnen. Am Donnerstag fällt die Sitzung aus, und am Freitag um 12 Uhr steht der freisinnig« DahlrechtSantrog zur Trhatte. Auch eine Verkchrsreform. Nachdem, um der traurigen Neichsfinonzlage aufzuhelfen, das billige OrtSporto beseitigt und die Eiseiibahnfahrkarteiisteuer«in- geführt worden ist. versucht jetzt die Regierung durch eine neue Verkehrsreform" Mittel zur Deckung der ewigen Defizite zu gewinnen, und zwar ist sie auf eine»Telephon- r e f o r m" verfallen. Statt der Pauschalsumme, die bisher die an daS Telephonnetz Angeschlossenen zn entrichten hatten, fall künftig eine Berechnung nach der Zahl der geführten Gespräche stall- indem Im Reichs-Postamt fand heute bcreilS unter dem Vorsitz dcs Staatssekretärs eine eingehende Besprechung der beabsichligte» Fern- 'prechgebührenreform statt zwischen Vertretern der Reichs- Telegraphcnverwaltung und der kgl. bayerischen Telegraphenverlval- lung eiuerseUS nnd Vertretern von Handel. Industrie, Landwirtschas: und Handwerk aus dem ReichS-Telegraphengebiet und Bayer» andererseits. Die eingeladenen Vertreter erkannten, wie daS Wölfische Bureau berichtet, an, daß der bestehende, in Ansehung der Gesprächszahl unbegrenzte Pauschgebühren-Tarif wegen der damit verbundenen ungleichen finanziellen Belastung der Triluehmcr und der au» der übermäßigen Inanspruchnahme der Anschlußleitungen sich ergebenden Betriebsschwierigkeiten nicht auf- rechtzuerhalten sei. Die Mehrheit entschied sich dafür, der ganz- lichen Beseitigung des Pauschgebühren-Tarifs und seiner Er-
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