Sirtwütiert worden zu fein, ist in den Mitteilungen des Freiherrnvon Aehrenthal an die Delegation zum ersten Male wieder vonviner Aktion die Rede, die über die konventionelle Bewahrung derFreundschaften und Bündnisft hinausreicht. Grund genug, um dendiesmaligen Delegationsverhandlungen Beachtung zu widmen.Das Neue an dieser Delegationsverhandlung ist durchaus dieösterreichische Wahlreform, und im Grunde hat an den Eisenbahn-Plänen des Freiherrn von Aehrenthal sie den namhaftesten Anteil.Bekanntlich hat der Minister des Aeußern den Delegationen inseinem Expose mitgeteilt, er bemühe sich beim Sultan um die„Er-mächtigung zur Vornahme von Studien" zu dem Vau einer Bahnzwischen Uvae und Mitrovitza, die den Anschluß des bosnischenEisenbahnnetzes an das türkische herbeiführen und so Oesterreich-Ungarn den Zugang zum Aegäischen Meer öffnen würde. DasRecht Oesterreich-Ungarns zu diesem Bahnbau ist unbestreitbar und«s wird auch nicht bestritten; wird doch in dem Artikel 25 des Ber-liner Vertrages Oesterreich-Ungarn das Recht eingeräumt, imSandschal von Novibazar„im ganzen Umfange dieses Teiles desehemaligen Vilajets Bosnien Garnisonen zu halten und militärischesowie Handelsstraßen zu besitzen". Auch daß darüber und dazunur eine Verständigung mit der Türkei notwendig ist. wird injenem internationalen Vertrage ausdrücklich bestätigt. Trotzdemist, wie man weiß, das in jeder Hinsicht bescheidene Projekt dasObjekt der heftigsten Angriffe geworden, zu denen sich mit Ruß-land und dessen französischen Alliierten auch England vereinigt hat,und die dieser Tage in fast identischen Kundgebungen des offiziellenenglischen Telegraphenbureaus und des offiziösen Blattes derrussischen Regierung hervorgetreten sind. Da an dem materiellenRechte Oesterreich-UngarnS nicht zu mäkeln ist. wird als Vorwanddie durch das Bahnprojekt angeblich hervorgerufene Gefährdung dermazedonischen Reformaktion benützt, obwohl der rein wirtschaftlicheGedanke dieses Bahnbaues mit politischen Expansionsgelüsten garnichts zu tun hat und vor Mißdeutung schon durch seine Unbe-trächtlichkeit— es handelt sich um ganze 120 Kilometer Schienen—geschützt sein könnte. Daß die heuchlerische Presse das Bahnprojektals«ine von Berlin auS angezettelte Intrige ausgibt, kann nichtüberraschen; und daß es dabei an England, das guten Grund hat,den unbequemen Nebenbuhler von Asien abzulenken, einen Bundes-genossen findet, ist ebensowenig erstaunlich, als daß die französt.sehen Regierungsblätter wegen des Bahnprojektes, das von derRealisierung noch recht weit entfernt ist, ungemein„besorgt" tun.Um so nachdrücklicher muß erklärt werden, daß das alles sinnloseUebertreibungen sind, von denen sich die sozialistische Betrachtungbefreien muß. Der Ausbau jener in zwei Sackgassen steckendenBahn ist für Oesterreich-Ungarn, das mit seiner ganzen indu-striellen Entwickelung auf den nahen Orient angewiesen ist, eineökonomische Notwendigkeit. Daß die Leiter unserer auswärtigenPolitik auf den Plan, der so nahe liegt, daß man ihn geradezuselbstverständlich nennen kann, erst jetzt verfallen sind, obwohl erfrüher, als Rußland noch in der Not feines Krieges steckte, ungleichleichter zu verwirklichen gewesen wäre, wogegen er jetzt die mannig-fachsten Gegnerschaften findet, das beruht wahrhaftig auf keinengeheiminsvollen Ursachen. Vielleicht wirkt auch mit. daß der kurz.sichtige und träge Goluchowski durch den regsameren früheren Bot-schafter in Petersburg abgelöst worden ist; aber der eigentlicheGrund ist in der Umwandlung der inneren VerhältnisseOesterreichs zu suchen. Tie durch die Wahlreform bewirkte O e k o.nomisierung der österreichischen Politik zwingtdie Machthaber, aus den gewohnten Gleisen herauszutreten und derwirtschaftlichen Entfaltung in der durch den Kapitalismus bedingtenForm Raum und Gelegenheit zu schassen. Das ist der eigentlicheSinn dieses Bahnprojektes; mit jener utopistischen und fantastischen„Weltpolitik", die wir Sozialdemokraten überall mit Recht be-kämpfen, hat der Anschluß der österreichischen an die türkischenBahnen, in seinem Umfang an den einer Sekundärbahn reichend,nichts zu tun. Für Leute, denen die auswärtige Politik das Pro-dukt der Einfälle der Monarchen dünkt und die unter der Beschäfti-gung mit den auswärtigen Fragen das Ztachspüre» nach Kulissengeheimnissen verstehen, mag sich das Sandschakbahnprojekt als einemysteriöse Improvisation darstellen. Wer aber auch in diesenDingen die ökonomischen Kräfte als waltend und treibend erkennt,dem ist es nicht unerklärlich, daß das Aufkommen neuer Elementeim Innern Oesterreichs zu neuen Auffassungen der auswärtigenAngelegenheit drängt._Die bürgerlichen Parteien und dieauswärtige Politik Rißlands.Man schreibt uns aus Petersburg:• Es ist eine allgemeingültige Erfahrung, daß der Liberalismusin ernsten Augenblicken stets vor dem blinde» Hurrapatriotismuskapituliert und so die Gesckmfte der Reaktion besorgt. Dies beweistauch wieder einmal die Haltung, die die russischen Liberalen in derFrage der Valkanbahnen einnehmen. Man vergenlvärtige sich dieSituation: das alte Rußland hat eine Schlappe er-halten, die die„Nowoje Wremja" mit Recht als eineNiederlage der ganzen Balkanpolitik Nußlands bezeichnetJeder wirkliche Freund der freiheitlichen EntwickelungRußlands kann darin nur einen Gewinn sehen. Daß dieoklobrisiischen Reptilien den Entrüstungsrummel minnachen, ist jaselbstverständlich. Ihr Fuselpatriotismus äußert sich ja jetzt soschön in dem Drängen der oktobristiichen Fraktion, die Regierungmöge noch brutaler gegen Finnland vorgehen. DieserKmiten-JmpemlismuS der Gutschkow und Stolypin weiß, daßfür ihn die Dinge auf dem Balkan augenblicklich schlecht stehen,und er hat allen Grund, dies durch eine übertriebenechauvinistische Hetze zu verhüllen. Welchen Sinn hat esaber für die Liberalen, nach derselben oktrobristischenPfeife zu tanzen? Irgendwelche fortschrittlichen InteressenRußlands werden durch seine Hinausdrängung aus demBalkan nicht berührt. Denn Rußland hat genug in seinemeigenen Land zu tun: es hat allen Grund, seine Grenzen nichtnoch weiter auszudehnen; für den kulturellen Fortschritt Rußlandsist es vor allen Dingen nötig, auf jede Eroberungspolitik zu der-zichten; die Kosten des Militarismus übersteigen ja ohnehin dieKräfte des Landes.Aber, sagen die Liberalen, hinter Oesterreich-Ungarn stecktDeutschland und die Stärkung Deutschlands bedeutet Vergrößerungseines Einflusses auf die innere Politik Rußlands; deshalb muß derLiberalismus die Regierung in ihrer Haltung gegenüber Oesterreich-Ungarn unter st ützen. Auf den ersten Blick erkennt man dieVerkehrtheit dieser Schlußfolgerung. Bliebe der Status guo desMürzfteger Abkommens weiter bestehen, wie eS die liberale Pressewünscht, so hätte sich die Annäherung Rußlands an England nichtfo rasch vollzogen, und gerade diese Annäherung an England ist esja, die die russischen Liberalen befürworten. Wenn man also indem Glauben lebt, daß durch eine Annäherung Rußlands anEngland der preußische Einfluß auf die innere Politik Ruß-landS beseitigt werden würde, so haben die Liberalen allenGrund, sich über die Auflösung des Mürzfteger Abkommens zu freuen.In Wirklichkeit wird aber die Annäherung Rußlands an England inder auswärtigen Politik für die inneren Verhältnisse Rußlandskeinen Borteil haben. Denn eine solche Annäherung würdezunächst die Finanzen des alten Regimes stärken und wasdaS bedeutet, hoben wir ja durch da» Bündnis mit Frankreich ge-sehen. Der russische Liberalismus erweist also mit seiner StimmungZ-mache für eine Entente mit England dem Lande keinen Dienst. Aberdie Regierung schlägt daraus bereits Kapital. Sie hat Plötz-lich ihr englandfreundliches Herz entdeckt und daS Bildist nun reizvoll: Reaktion und Liberalismus liegeneinander an der Brust. Mit stolzer Geste kann dieStolypinsche Bande sagen: seht, wir haben das Land hinter uns, esbesteht in der auswärtigen Politik, wie die liberale„Rußj" es jaso schön bestätigt,„keine Disharmonie zwischen der Regierungund der russischen Gesellschaft". Noch nie hat der russische Libera-lismus der Regierung einen solchen Dienst erwiesen wie eben jetztdurch diese seine Haltung. Seinen Dank hat er übrigens schon er-halten. Wegen seiner„patriotischen Unzuverlässigkeit" ist er ausder LandesperteidigungLkommisjion in der Duma herausgeschmissenworden.iilarokko.Die Marokkodebatte in der französische« Kammer.Aus den Verhandlungen über die Interpellation Jaurösist noch folgendes nachzutragen:Der Minister des Auswärtigen Pichon protestierte dagegen,daß man bemüht sei. in Frankreich wegen der Ereignisse eine Panikhervorzurufen. General d'Amade trage nur Erfolge davon. sLärmaus der äußersten Linken.) Pichon wiederholte seine Worte trotzdieses Lärms, worauf die äußerste Linke ihm zurief: Und die Totenund Berwimdelen? Der Minister erklärte darauf, daß FrankreicheinfKließlich deS Gefechts am 18. Februar bisher 57 Tote und 217Bcrwmidete gehabt habe. Er forderte die äußerste Linke auf, denfranzösischen Trnpen und ihren Generälen, die sich bewundkrungs-würdig geschlagen hätten, mehr Vertrauen zu ichenkeir.(LebhafterBeifall links und im Zentrum.)'ut"I a u r ö S erwiderte, eS handle sich nur darum zu wisien, obeine Fortsetzung der Aktion in Marokko daS Recht Frankreichs seiund ob sie in seinem Interesse liege. Die Politik der Regierungsei eine Politik der Hintergehung und Täuschung.(Beifall auf deräußersten Linken.)C o n st a n s(Sozialist) kritisierte den Plan der Regierung undbrockte einen Antrag ein, der dem Bedauern darüber Ausdruck gibt.daß die Regierung nicht die dem General Drude erkeilten Weisungenaufrechterhalten habe.Pichon wiederholte darauf, daß die Instruktionen für d'Amadedie gleicken seien. Das Ziel Frankreich« sei nicht auf eine Er-oberung Marokkos gerichtet oder darauf, nach Fes oder Marrakeschzu marschieren. lBeifall in der Mitte und auf der Linien.)Der KriegSminister General P i c q u a r t suckle nachzuweisen,daß die französischen Truppen keine Niederlagen erlitten hätten.Die Rückmärsche, welche zu dem Zwecke der Verproviantiernngnotwendig gewesen seien, seien keien Niederlagen und auch nichthalbe Niederlagen.C o n st a n S beharrte darauf, daß der Minister nähere Auf-klärungen darüber geben möge, warum auf die zuwartende HaltungdeS Generals Drude die beunruhigende Offensive dÄmades gefolgtsei.(Beifall auf der äußersten Linken.)Nach einer die Regierungspolitik verteidigenden Rede desRepublikaners® Henne sprach dann noch der MinisterpräsidentClemeneeau. Er sagte unter anderem: Die Franzosen befändensich in den Häfen, um die Sicherheit der Europäer zu gewährleistenund um die Interventionen anderer unnötig zumachen, die vielleicht in Europa schwere Konfliktehervorzurufen verni ächten.(Bewegung und Beifall.)Frankreich will keine Politik der Verzichtleistung, aber cS will auchkeine Eroberungspolitik.(Beifall.)JaurvS erwiderte, die Regierung sei der von der Kammerangenommenen Tagesordnung, die ihr Vorficht anempfahl, nicht treugeblieben. Noch seien die Franzosen nicht in Marrakesch, aber wennman so fortfahre wie bisher, werden sie in zwei oder drei Tagendort sein. Möge die Siegierung sich davor hüten, die Kammer-Mehrheit in Abenteuer hineinzuziehen.(Beifall auf der äußerstenLinken.) Darauf wurde die bereits gemeldete Tagesordnung mit370 gegen 102 Slimine» angenommen.Aus dem Rededuell Jaurös-Pichon hebt ein späteresTelegramm noch die folgende bemerkenswerte Stelle heraus:Pichon sagte: Wir dürfen nicht das Beispiel eines Volkesdarbieten, welches sich selbst im Stiche läßt. Warum sollte»wir nicht imstande sein. eine militärische Kraflanstrengnngdurchzuführen, welche andere Völler, wie England, Deutschland undHolland unter schwierigen Verhälwisien durchgeführt haben?JauröS erwiderte, der Minister habe die KolonialkämpfeEnglands und Hollands erwähnt, aber dieser Vergleich seiwahrlich nicht zulässig. England wußte, welches Ziel eSmit dem TranSvaalknege verfolgte. Aber Sie geben das Blut derSoldaten und das Geld Frankreichs aus. und zu welchem Zwecke?Sie wissen doch, daß ein internationales AbkommenIhnen verbietet. Marokko zu erobern.(LebhafterBeifall links.)«Larrache.Madrid, 22. Februar. Infolge beunruhigender Nachrichten, dieder spanische Konsul deS marokkanischen Hafens Larrache über diebedrohte Sicherheit der dorrigen Europäer an die hiesige Negierunggelangen ließ, ging sofort das Panzerschiff„Estremadura" von Cadixnach Larrache ob..Heraldo" lobt diese schnelle Entsendung einesKriegsschiffes, warnt aber vor einem unnötigen oder übereilten Ein-greifen. Das Anfangsstadium des französischen Vorgehens in Cosa-blanca müsse als abschreckende/Lehre wirlen.polltilcbc OcberficbtBerlin, den 25. Februar 1908Bildungsbegeisterung.DaS Dreiklassenparlament wird von seinen Anhängern be.kanntlich damit verteidigt, daß sein Wahlrecht die Bildung gegen.über der bloßen Zahl berücksichtige. Danach sollte man annehmen,daß mindestens die Debatten über die Universitäten undhöheren Lehran st alten, von der Volksschule ganz zuschweigen, im preußischen Landtage auf einem einigermaßen hohenNiveau ständen. Davon ist aber nicht die Rede. Im kleinlichstenKleinkram schleppt sich die Debatte müde dahin. Heute beim Etatder höheren Lehranstalten wurde zunächst von der Mehrheit, einAntrag der freisinnigen Parteien aus Beseitigung der Vorschulenund Unterweisung der späteren Zöglinge der Gymnasien und Real-schulen in den unteren Klassen der Volksschule abgelehnt. Diewohlhabenden Kinder sollen eben auch als Sechsjährige nicht eineSchulbank mit dem Proletariersohn drücken, ein Wunsch der be.sitzenden Klassen, der allerdings in dem miserablen Zustand derpreußischen Volksschule einige Berechtigung findet. Die Frei»sinnigen, die sich im Landtage als Anhänger der Ein-heits schule aufspielen und große Töne von ausgleichenderGerechtigkeit und Ueberbrückung der sozialen Gegegensätze redeten,lehnen übrigens in der Berliner Stadtveroro-n e t e n v e r sa m m l u n g ihrerseits auch die Auf»Hebung der Vorschulen ab!In der eigentlichen Etatdebatte wirkte der alte Zank über dieVorzüge der Gymnasien, Realgymnasien. Oberrealschulen und Re-formschulen einigermaßen nach. Die älteren Herren erzähltenReminiszenzen aus ihrer Schulzeit, und begeisterten sich jeder fürdie Art der Schule, die er einmal in kurzen Höschen besucht hatte.Ernst nahmen den Streit nur die beiden freisinnigen HeldenEickhoff und Cassel, die sich beinahe die Freundschaft kündig-ten, weil Eickhoff für die lateinlose Schule, Cassel für Latein undGriechisch schwärmt. Moderner denkt Eickhoff, der Reichstags-abgeordnete von KeimS Gnaden, deshalb auch nicht, wandte er sichdoch mit heuchlerischer Frömmigkeit gegen die sexuelle Aufklärungder Jugend in der Schule.Am Donnerstag wird das Abgeordnetenhaus die Beratung de?Etats deS Ministerium des Innern beginnen, morgen macht eSfrei, während das Herrenhaus die Polenenteignungsvorlagedebattiert.Als ein Versuch mit untauglichen Mittel»am untauglichen Objektstellt sich der am Sonntag in Essen abgehaltene„Fortschritt-liche Arbeitertag" dar. Tie Arbeiter hatten gewiß rechtmit ihrer Kritik des Liberalismus, seiner politischen Waschlappig-keit, seiner sozialpolitischen Rückständigkeit und seiner Scheu vorallem, was nach Arbeiter aussieht. � Manches kräftige und gewißauch ehrlich empfundene Wort ist bei dieser Gelegenheit übel dieLippen von Arbeitern gekommen, die sich selber noch liberal nennenund der liberalen Fahne folgen, wenn sie auch sehen müssen, daßdiese Fahne sie in den Sumpf führt, daß Tausende und Aber-tausende zurückbleiben und entweder müde am Wege verharrenoder frischen Mutes sich einer anderen Fahne anschließen, unterder sie begeistert einem neuen Ziele zustreben. Man konnte Mit-leid empfinden mit denjenigen, die als Arbeiter dem Liberalismusbis heute treu geblieben sind, die soviel guten Willen einzu>etzcnvermögen für eine Sache, die auf ewig verloren ist.Freilich hatten auf dem fortschrittlichen Arbeitertag nicht nurdie liberalen Arbeiter, sondern auch die bürgerlichen Vertreter de?Freisinns recht.„Wo sind in unseren Versammlungen die Arbeiter.die sich liberal nennen und auch noch liberal wählen? Und wennsie in geringer Anzahl kommen, sieht man sie sich scheu hinterSäulen und in den Ecken herumdrücken, aber sie gewinnen csnicht über sich, offen für unsere Sache einzutreten und Opfer zudringen"— meinte der in Essen anwesende Sekretär der Frei-sinnigen Volkspartei. Sie schämen sich voreinander: die liberalenArbeiter vor dem Freisinn und der Freisinn vor den liberalenArbeitern. Sie trauen einander nicht mehr, weil sie wissen, daßsie nichts mehr voneinander zu erwarten haben. Und dieser Zustand wird dadurch nicht geändert, daß sich am Sonntag 30 bb40 liberale Arbeiter aus der Millionenmasse des rheinisch- wesi-falischen Proletariats zusammenfanden zu dem Versuch, auS demzerbröckelnden Gestein des Freisinns noch einige Funken zuschlagen.Der fortschrittliche Arbeitertag wird kaum Spuren hinter-lassen. Die liberale Arbeiterschaft ist zu schwach, zu begeisterungS-und hosfnungSarm, um den Liberalismus zu Taten aufzupeitschen,und der Liberalismus ist zu morsch und zu verrottet, um der er-warteten Taten, auch wenn die Einwirkung eine dreifach stärkerewäre, fähig zu sein. Es war ein Versuch mit untauglichen Mittelnam untauglichen Objekt, was sich am Sonntag zu Essen ab-spielte.—_Die„Germania"ergeht sich in spalienlangen Betrachtungen über den Wahl-rechtskampf der Sozialdemokratie. Mit ihrer Politik dergroßen Worte und Phrasen, mit ihrem auf die drei MillioneniÄähler pochenden Kraftmeiertum habe die Sozialdemokratiein ihrer Anhängerschaft die unbegründetsten Hoffnungen erweckt. als ob cs bloß einer Wahlbcwegung bedürfe, um derpreußischen Regierung eine Wahlreform„abzutrotzen". Nunhabe sie sehen müssen, daß sie sich in eine Sackgasse verrannthabe, und da ziehe sie. um sich in der schivülen Situation Lustzu machen, das Ventil: Zentrumshetze.Das Hauptorgan des Zentrums erzählt seinen Lesernwissentlich die Unwahrheit. Es weiß, daß eS derSozialdemokratie nie eingefallen ist, ihren Anhänger,:einzureden, daß das Bollwerk der preußisch-deutschen Reaktion.das Dreiklassenmahlrecht. so leicht durch einen DemonstrationL-stürm hinwegzufegen sei. Die Sozialdemokratie hat imGegenteil daS Zentrum und den Freisinn geradedeshalb in der schärfsten Form angegriffen, weil sie nichtdurch ihre Teilnahme am Wahlrechlskampf denselbenunwider st ehlich»lachten!Aber gerade weil Zentrum und Freisinn so vollständigversagten, blieb der Sozialdemokratie nichts anderec.übrig, als allein den Kampf um so energischer aufzunehmen. Und zwar nicht nur gegen die offenen Wah!rechtsfeinde, sondern auch gegen die verkappten, alsoauch daS Zentrum IWie peinlich dieser Kampf dem Zentrum ist. beweistnicht weniger als die heutige langstielige Salbaderei der„Germania" auch die Tatsache, daß die führende Zentrums-presse sich über die beiden Leitartikel drS„Vorwärts", in denenwir an der Hand der Zahlen der Wahlltatistik die Gegner-schaft deS Zentrums gegeu das gleiche Wahlrecht und die Bc-schirmung der agrarischeu Reaktion durch das Zentrum nachgewiesen hatten, bis heute vollständig auSgefchwiege» hat!Statt törichtes Zeug zu reden, sollte doch die„Germania"einmal unsere Anklagen abdrucken und zu widerlegen versuchen!—_Ein Kaisergeschenk, das sie nicht erreichte.Der Erlaß deS Gouverneurs von Südwestafrika betreffend Aufhebung der Kriegsgefangenschaft der HereroS. dessei:Inkraftsetzung für Kaisers Geburtsrag geplant war. ist nicht inKraft getreten, da in letzter Zeit angeblich zu viele HereroS ent-laufen sind.Der Grund der Vertagung deS kaiserlichen Gnadengeschenkes istabsolut un stichhaltig. Den HereroS sollte ja gerade dieMöglichkeit gegeben worden, sich selb st einen Herrn auS-z u s u ch e n. Gerade durch Gewährung dieses Rechtes wäre jadem Entlaufen guS dem Zwangs dienst gesteuert worden.Aber die nackte Sklaverei war für die Farmer noch wohlfeilerlDeshalb erreichte das Kaisergeschenk die Hereros nicht!ES ist übrigens ein hübscher Beitrag zu DernburgS neuemSystem, daß»och jetzt, l'/z Jahre nach der faktischen Lc-rndigung deS Krieges, in Südwestafrika die KricgSgcfaugenschaftbesteht IHat denn der Kolonialminister so gar nichts zu sagen?—Prensiischcs Vercin-Zrecht.Ist der Textilarbeiterverband ein politischerVerein? Diese Frage hatte daS Verdinger Schöffengericht wiedereinmal zu entscheiden. Der Landrat des Kreises Krefeld stellte sichauf den Standpunkt, der genannte Verband dürfe Frauen. Lehrlingeund Schüler weder in leinen Versammlungen dulden, noch als Mitglieder aufnehmen, weil er unter§ 3 de» VcreinSgesetzeS falle. Erbegründete diese Auffassung damit, daß er erklärte, in den Mit-gliederversammlungen der Filiale Bakum des Verbandes würdenöffentliche Angelegenheiten erörtert. Als Beweis brachte er zwei