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Der abgeschüttelte ttelchsverband. Der Reichsverband zu Kassel ist ärgerlich und will seinen Aerger an unserem Kasseler Parteiblatt, demVolksblatt" auslassen. IG Vorstandsmitglieder des Reichsverbandes haben die Privatklage gegen dasVolksblatt" eingereicht Sie Zumutung, die Macken- schaften der Liebcrtgarde durch eine Klage von Amtsloegen zu decken, hat die Staatsanwallschaft abgelehnt. Die Privatklage erklärt auch die BezeichnungReichslügenverband" für eine Beleidigung. Der Prozes; wird also eine willkommene Gelegenheit bieten, den Be- weis zu führen, wie berechtigt diese Bezeichnung ist. Weshalb der Rcichsverband zu Kassel ärgerlich ist, das ist nicht schwer zu ergründen. Die glänzenden Siege unserer Genossen bei den Stadtverordnetenwahlen und des ReichsverbandcS nicht minder glänzender Reinfall bei dem Versuch, seinen Anteil an der bürger- lichen Niederlage zu leugnen(unsere Leser erinnern sich der Berichtigung" deS Reichsverbandes und ihrer kritischen Auflösung imVorwärts") haben ihm genügenden Anlaß gegeben. unzufrieden mit sich und der Welt zu sein. Dazu kommt aber noch, daß ihm auch von bürgerlicher Seile eine Ohrfeige versetzt wurde, die ihm besonders schmerzlich sein mußte. Bekanntlich fand am Lv. März eine Stadtverordnetenwahl in Kassel statt, an der unsere Genossen sich nicht beteiligten, da sie diese Wahl für ungesetzlich an- sieht.(Die Wahl zweier Sozialdemokraten war vom Wahlvorsteher für ungültig erklärt worden, weil sie angeblich nicht Hausbesitzer waren; dem Gesetze nach hätte die Stadtverordnetenversammlung die Wahl prüfen müssen.) Trotzdem nun wegen der Wahlenthaltung der Sozialdemokraten keinerlei Gefahr für die bürgerlichen Gruppen drohte, konnte es der Reichsverband in seinem Eifer nickt unterlassen, die Bürgerlichen aufzufordern, für die Wahlschlacht sich unter einem Banner zu einigen. Dabei ist ihm nun das Malheur passiert, daß mrt 'die Beamten -, Lehrer- undnationalen" Arbeiter- vereine sich seiner Führung unterstellten, während die unabhängigen Bürgervereine seine Gesellschaft abgelehnt haben. Und zwar in nicht sehr verbindlicher Weise. In einem öffentlichen Aufruf setzten sie auseinander, weshalb sie nicht mit dem Neichsverband zu- sammengehen mochten und dabei sagten sie: ES wird sich später zeigen, daß durch das Vorgehen des Reichsverbandes die Einigkeit nicht nur nicht gefördert, sondern im Gegenteil die Zersplitterung und der Hader der Parteien nur vermehrt werden wird. Man braucht kein großer Prophet zu sein, um schon heute voraussagen zu können, daß hierdurch die noch in bürgerlichem Besitz bestndlichen Stadtverordnetenmandate der dritten Wäblerklaffe der Sozialdemokratie ganz gewiß ans- geliefert werden." Das ist natürlich sehr bitter für den Reichsverband und da das Volksblatt" offenbar sehr viel dazu beigetragen hat, daß diese Erkenntnis vom Wesen des ReichSvcrbnndes sich verbreitet hat. so muß der Reichsverband eS verklagen. Der Prozeß kann interessant werden. Daß besagtes Erkenntnis übrigens in Kastel so schnell durch- gedrungen ist, muß um so auffallender erscheinen, als Kastel bisher stets mit Stolz bezeichnet worden ist als der Sitz der stärksten OrtS- gnippe des Reichsverbandes. Die Mitgliederzahl ist wiederholt auf nahezu S000 angegeben worden. Die vom Bureau des Reichs- Verbandes angestelltenWerber" laufen Tag für Tag treppauf treppab, um Mitglieder zu gewinnen. Die Beamten. Unterbeamten und in Staatsbetrieben beschästtgten Arbeiter sind schon nahezu bis aus den letzten Mannorganisiert". Wehe ihnen, wenn sie sich sträuben sollten! io Expropriateur. Pari«, 25. März.(Eig. Der.) Die wirkliche Börse interesfiert Frankreich in diesen Tagen mehr als die parlamentarische. Ein kapitalisttscheS Zauberschloß ist krachend geborsten. Hundert oder zweihundert Millionen sind im Boden verschwunden und nichts blieb zurück, als ein heftiger Ge- stmtk.... Es wird vielleicht Leute geben, die geneigt find, Herrn Raoul Henri R o ch e t t e. den verunglückten Gründer, der jetzt im Arrest sitzt, für ein Genie zu halten. Wenn seine Geschäfte nicht unzeitig unter- brachen wären, hätte ihn wohl dieGesellschaft" als solches anerkannt; er wäre als Industrie Hauptmann gefeiert worden, statt als Industrie r i t t e r verflucht und verachtet zu werden. Seine Laufbahn hatte so glückverheißend begonnen. Nach Entlassung aus der Volks- schule hat Rochette als Pikkolo in einem Cafö der Provinz debütiert. Aber der Verdienst genügt dem aufgeweckten Burschen nicht. Er verwendet eine kleine Erbschaft, um in Paris die Buchhandlung zu erlernen und tritt dann in ein Bankgeschäft ein. Er findet in seinem Chef einen Lehrer, der ihn in alle Künste des Börsenschwindels Einblick gewinnen läßt. ES handelt sich namentlich darum, Aktien einer angeblichen KupfermineRio Tenido" ins Publikum zu bringen. Rio Tenido klingt nämlich so ähnlich wie Rio Tinto und Rio Tinto ist ein beliebtes Spekulationspapier.... Der Lehrer bekommt mit den Gerichten zu tun. aber der Schüler übernimmt sein Werk. Die erste Unternehmung mißlingt. Aber im Jahre 1904 gelingt eS Rochette, eineMinengefellschast" zu gründen. Das Aktienkapital ist noch recht bescheiden: 550 000 Fr. Doch zwei Monate später hat dieses junge zarte Geschöpf schon ein Riesenkind geboren, eine Kohlenwerksgesellschaft mit zwei Millionen, und diese Fruchtbarkeit hält an. Während neue, immer größere Gesellschaften entstehen, wird daS Kapital der alten vergrößert. In nicht viel mehr als drei Jahren hat der junge Mensch, der heute noch keine dreißig Jahre alt ist. Gründungen mit 84 Millionen Kapital geschaffen, darunter die Banque franco-espagnole mit 20 Millionen, die Gesellschaft der Rerva« Minen mit gleichfalls 20 Millionen, daSSyndikat minier" des- gleichen, die Glühstrumpf-Unternehmung Hella mit lb Millionen ... Und das Publikum reißt sich um diese Papiere. Die Hella-Mtien werden um daS Dreifache deS Nominal- wertes ausgegeben und steigen dann noch weiter. Wie hat Rochette das fertig gebracht? Nun, durch die üblichen Künste des Gründerschwindels: durch eigene maskierte Aufkäufe auf der Börse, durch Anwerbung vornehmer Strohmänner für die Verwaltungsräte seiner Gründungen im Verwaltungsrat der ftanzösisch-spanifchen Bank und der Nerva-Minen sitzen mehrere ehemalige spanische Mini st er, etliche spanische Senatoren und Deputierte, ein ehemaliger Gouverneur der Bank von Spanien . Barone, Marquis und Offiziere vor allem aber durch eine un- geheure Reklame. Rochette hat ein Börsenblatt herausgegeben, das natürlich nur seinen Geschäften diente und für das er monatlich über 100 000 Fr. geopfert haben soll. Mindestens das Doppelte hat ihm die Benutzung derxublicttö", der Börsenrubrik der Tagespreise ge- kostet, wo man für teures Geld alles, wirklich alles unterbringen kann und das Inserat dem naiven Publikum noch immer wie ein uneigennütziger Ratschlag der Redaktion erscheint. Rochette hat namentlich daS Publikum derkleinen Sparer" ausgeplündert, das immer wieder daraus hereinfällt, wenn man ihm märchenhafte Gewinne verspricht, die geldgierigen Kleinbürger und ihre Gesinnungsverwandten aus der Welt der Hausmeister, Lakaien usw. In dem reichen Frankreich ist Kapital für ernste. weitzielende Unternehmungen so schwer zu finden, daß die industrielle Entwickelung darunter leidet. Der Rentner bleibt entweder ängstlich bei seinen Staatspapieren oder er springt blind in die wildeste Exotik der Börse hinein. Vielleicht hätte Rochette auSgehalten und allmählich den luftigen Bau unter seinen Füßen solide ausgemauert, wenn er nicht anderen Finanzgrößen ins Gehege gekommen wäre. Mit den 3l/s Millionen, die er noch in der Kasse hatte, konnte er der Kontermine wohl noch lange Widerstand leisten und die Operationen seiner Mandatare an der Börse decken, zumal da ihm daS Geld aus der Provinz zu- sttömte. Aber er hatte versucht, die Aktien des in der letzten Zeit_ stark zurückgegangenen TraffchblatteSPetit Journal" vermittels eines an die Aktionäre gerichteten warnenden ZirkularS um billigen PretS in seine Hände zu bekommen und da geriet er auf eine zur Hebung des Blattes organisierte Gruppe, an deren Spitze der Präsident des VerwalwngSrats, Senator P r e v e t steht. Prevets Strafanzeige soll die eigentliche Veranlassung der Ber- hastung RocketteS gewesen sein. Jedenfalls kann man sich vorstellen, welche Bedeutting die Er- Werbung desPettt Journal" für Rochette gewesen wäre. Er hätte ein unbezahlbares, gerade in den Kreisen, auf die er spekulierte, wirksames Reklameorgan gehabt und er wäre eine Macht im öffentlichen Leben geworden, hätte eS vielleicht sogar mit Herrn Bünau-Varille vomMatin" aufnehmen können, nach deffen Pfeife Minister und Präsekten tanzen, während jetzt die Politiker der Republik , die, wie Herr R a b i e r, der Vizepräsident der Kammer, und der Senator H u m b e r t einträgliche Beziehungen zu Rochette gehabt haben, sich bemühen müssen. sie möglichst be« deulungSloS erscheinen zu lassen. Zum Moralisieren bietet die Affäre Rochette keinen Anlaß, so traurig auch daS Schicksal mancher Betrogenen sich gestalten mag. Sie sind einem Naturgesetz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zum Opfer gefallen. Sie hofften auf arbeitslosen Riesenprofit auS der Arbeit von Bergwerkssklaven und sind einem klügeren Profit- mocher zum Opfer gefallen. Im Kapitalismus wollen die großen bösen Haie ebenso leben wie die kleinen braven Raubfische. poUtifcbc Gcberficbt Lerlin, den 27. März 1908 Die Wahlrechtsfrage im Reichstage. Im Reichstage kam es heute, nachdem die polnische Resolution auf Veranstaltung von Erhebungen zur Untersuchung der politischen Verhältniffe der polnischen Bevölkerung im Deutschen Reich mit 158 gegen 148 Stimmen angenommen war, in der dritten Lesung deS Etats zu einer Auseinandersetzung mit dem Fürsten Bülow wegen seiner gestrigen Angriffe auf das Reichstagswahlrecht. Zwei der Redner der bürgerlichen Parteien, die zunächst daS Wort ergriffen, umgingen diese Frage deS TageS. Sowohl Herr Speck von der Zentrumspartei wie der Konservative Graf K a n i tz beschränkten sich darauf, ihrer Wemut wegen der Finanzmisere AuS- druck zu geben. Beide stimmten darin überein, daß sie von direkten Reichssteuern nichts wissen wollten. Genoffe David unterstrich jene Kennzeichnung der Reichs- finanzmisere noch dadurch, daß er darauf hinwies, wie der frühere Schatzsekretär, Herr v. S t e n g e l. in der Verzweiflung. Ordnung zu schaffen, über Bord gegangen sei. Durch Verstaatlichung der Kohlengruben wie durch direkte Steuern könne das Reich seine Ein- nahmen erhöhen. Den vom Reichskanzler gebilligten Standpunkt des Abg. Lattmanu, daß die Beamten Lehnsmänner der Regierung sein müßten, bekämpfend, wies er darauf hin. daß die logische Kon- sequenz dann die sei, daß Beamte nicht wählbar sein dürften für den Reichstag. Dann rekapiwlierte Genoffe David gegenüber den Ausführungen deS Reichskanzlers die Ungereimtheiten des preußischen Dreiklaffen- Wahlrechts. daS umso aufreizender auf die Bevölkerung Preußens wirken müsse, da die Süddeutschen durchweg ein demokratisches Wahlverfahren sich errungen hätten. Die Rede Naumanns glaubte er als eine entschiedene Absage an den Reichskanzler und seinen Block auffassen zu dürfen und sprach die Hoffnung aus, daß auch noch andere Freisinnige nach und nach von der Blockgemeinschaft sich lossagen würden; habe doch vor kurzem sogar der Abgeordnete M u g d a n sich gegen den Reichskanzler scharf ausgesprochen. Wenn man der Sozialdemokratie vorwerfe, sie führe einen Klassenkampf, so sei zu erwidern, die Junker mit Fürst Bülow an der Spitze führten ja selbst den schlimmsten Klassenkampf zur Auftechterhaltung ihrer Vorrechte. Der Redner schloß mit der Aufforderung an den Reichskanzler, er solle dem Monarchen begreiflich machen, daß er sich in die Seele der Arbeiter versetzen müsse. Denn wolle die preußische Regierung das tun, was im Jntereffe Preußens und des Reiches liege, so müffe sie dem nachkommen, was das werktätige Volk in der Wahlrechisfrage erwartet. Der Freisinnige Schräder glaubte zur Wahlrechtsreform betonen zu müssen, daß man durch Auftechterhaltung deS Drci- klassenwahlrechts nur der Sozialdemokratte AgitationSstoff liefere. Sei doch die Sozialdemokratie groß geworden durch die Fehler der Regierung. ES komme deshalb darauf an, dafür zu sorgen, daß die Masse des Volkes nickt dauernd das Gefühl des erlittenen Unrechts habe. Nach feiner Auffaffung soll also die Erwähnung deS Reichs- tagswahlrechtS als so eine Art BerubigungSpulver wirken. Genosse Bebel ließ dem fteisinnigen Senior keinen Zweifel darüber, daß seine Schlafpulverexperiinente zur Einschläferung der sozialdemokratischen Bewegung nie und nimmer führen würden, da sie durch die wirtschaftliche Entwickelung geschaffen sei und an den Klassenkämpfen, den diese gebäre, sich immer von neuem entzünde. DaS Proletariat wachse Von Jahr zu Jahr an Ausdehnung und geistiger Reife. So kommt eS natur­gemäß zur Forderung der Gleichberechtigung mit den herrschenden Klaffen; ein Teil seines Klassenkampfes sei die Durchsetzung dieser Gleichberechtigung auf allen Gebieten, also auch deS allgemeinen, gleichen Wahlrechts für Preußen. Als Bebel mit sich steigender Wucht den Regierungsmännern und Abgeordneten dann die Worte ins Gesicht schleuderte: Wenn Sic dem Proletariat die politische Gleichberechtigung verweigern, so treiben Sie td zur Revo­lution, bezeugte der stürmische Beifall der Parteigenoffen. daß er den Kernpunkt der Wahkrechtsfrage getroffen hatte. Nicht auf die verspäteten Triebe der politischen Herbstzeitlosen des Bügertums, die Wahlrechtsgefühle entwickeln, weil sie die abtreibenden proletarischen Schritte in der liberalen Gefolgschaft festhalten wollen, nicht auf das spärliche erweckbare Wohlwollen gekrönter Häupter für Erweiterung der Volksrechte können sich die Proletarier in ihrem Emanzipationskampf verlassen, sondern nur auf sich selbst, auf ihre Organisationsfähigkeit und Tatbereitschast für den Klaffenkampf. Schließlich ist eS ja. wie Bebel treffend betonte, die blaffe Furcht vor der wachsenden Macht der Sozialdemoftatie, der angeblichNieder- gerittenen", die bisher noch die herrschenden Klassen von der Ge- Währung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts in Preußen zurückhält. Gerade dieser zeitweilige Widerstand ist ein Zeichen der Stärke unserer Bewegung. Der Widerstand der Furcht ist aber eine Henimung von kurzer Dauer. Das ist die ttöstliche Schlußfolgerung, die die Sozialdemokratie aus der Lage zu ziehen hat. Bebels Ausführungen klangen denn auch in die Ankündigung aus, daß die Sozialdemokratie nicht eher ruhen wird, als bis sie sich ihr Reckt, ihr ganzes Recht erkämpft hat. An dieie Auseinandersetzungen knüpfte sich noch ein Rededuell mit Herrn Kraetke, den Bebel aus den Akten des Trofimoff- Prozesses, Singer durch Vorlegung eines einem Sozialdemokratcu erbrochen und um drei Tage verspätet zugegangenen Brief nach- wies, daß die Briefe von Sozialdemokraten auf der Post vor polizeilichen Nackforschungen nicht sicher sind. Herr Kraetke bestritt das selbstverständlich._ Müller und Schulze. Im Dreiklassenparlament setzte man heute daS Gerede über die Sekundärbahnvorlage fort, nachdem der Antrag Jderhoff, den Besuch der ländlichen Fortbildungsschulen für Hannover obligatorisch zu machen, in dritter Lesung angc- nommen worden war. Dann traten mehrere Wiederwahl- lüsterne Parlamentarier auf und verlangten Berücksichtigung der Eisenbahnwünsche ihrer nachBildung und Besitz" maß­gebenden Wähler; und der Minister sagte allen eine wohl- wollende Berücksichtigung ihrer Spezialschmerzen zu. Zum Schlüsse der Sitzung machte der konservative Wgc- ordnete Kunze dieEnthüllung", daß ein anderer Abgeord- netcr mit distinguiertem Namen, der Dr. Hermann Müller aus Groß-Lichterfelde sich trotz ausdrücklichen amtlichen Ber- botes noch immer Müller-Sagan nenne. Diese schreckliche Geschichte beschäftigte den Präsidenten, die Schriftführer und die beiden beteiligten Abgeordneten ungefähr eine Stunde lang. Müller-Sagan blieb Sieger, weil er Postanweisungen auf Müller-Sagan vorweisen konnte, die ihm ausgezahlt worden sind. Das war- für das Abgeordnetenhaus ent- scheidend. Morgen wird das interessante Kapitel der Zngver- bindungen weiter diskutiert! Müde Seelen. DaS Herrenhaus war in der heute abgehaltenen Sitzung wieder einmal ganz auf den Ton aristokratisch degenerierter Müdigkeit gestimmt. Seit dem PolencnteignungSgesetz, der letzten großen Kraftansttengung, war eS heute zum erstenmal wieder zusammen. Da stellte denn daS Präsidium zunächst fest, daß die amtlichen Abstimmungslisten im Herrenhause eine halbe Woche gebrauche::. ehe sie auf Richtigkeit Anspruch erheben können, und daß in den Kommissionssitzungen die meisten geborenen Gesetzgeber sich nie sehen lassen, sodaß man nie weiß, ob sie noch Mitglieder der Kommission sind. Sein Radikalvorschlag. Herrenhäusler, die wiederholt unentschuldigt die Kommissionssitzungen schwänzen, als ausgeschieden zu betrachten, fand jedoch keine Gegenliebe. Man fürchtet wohl, daß man dann bald nicht mehr die Kommisstonen besetzen könnte. Die müden Aristokratenseelen arbeiten eben nicht einmal auf den weichen Polstern des Herrenhauses. Auf der Tagesordnung der Sitzung standen nur Petitionen und Verwaltungsberichte. In der Debatte über sie liefen zufällig zwei vernünftige Anregungen mit uuter, die des Oberbergrats Wachler auf bessere Versorgung deS oberschlesischcn Kohlenreviers mit Wasser und die eines Bürgermeisters auf Er- höhung der Lehrerpensionen. Sonst herrschte Greisenhaftigkeit vor. So wurde z. B. von den echtenHerren" die Einschränkung des Eisenbahnverkehrs und Eisenbahnbaus gefordert, weil die Fahr- gelegenheit ihre GutSnntertanen nach der Großstadt locke. Fenier ging man über eine Petition auf Entlastung der Einkommen unter 8000 M. von der Einkommensteuer kurzerhand zur Tagesordnung über. DaS paßt ausgezeichnet zu dem Widerstande des Herrenhauses gegen jede Erhöhung der Pro- gresston der Einkommensteuer über 4 Proz. hinaus. Ein komme» unter 3000 M. versteuert kein Herren Häusler. Morgen beginnt die Etatberatung. Gelüste der HerrenhäuSler.. DaS Verlangen der Junker des Herrenhauses nach neuen indirekten Steuern zur Belastung der Massen kommt in dem von der Kommission für den StaatshauShaltsetat und für Finanz- angelegenheiten erstatteten Bericht deutlich zum Ausdruck. In der Debatte spielte naturgemäß die Finanzlage des Staates eine hervorragende Rolle. Der Generalbcrichterstatter Graf v. Keyser- lingk-Neustadt bezeichnete es als das eigentliche Meisterstück der Blockpolitik im Reiche, eine gesunde Finanzpolitik zu schaffen. Gleichzeitig warnte er davor, sich etwa der Täuschung hinzugeben, als ob man um einen weiteren Ausbau der indirekten Steuern werde herumkommen können. Neben Branntwein und Tabak werde auch das Bier noch mehr besteuert werden müssen. Die stärkere Heranziehung des Bieres sei so wesentlich, daß man bereit sein sollte, auch auf dem Gebiete der sogenannten Veredelung der Matrikularbeiträge Konzessionen zu machen. Vor allem empfindet der edle Junker es schmerzlich, daß seinerzeit die Reichserbschaftssteuer zu billig fortgegeben sei, denn sie wäre im gegenwärtigen Moment ein Kompensationsobjekt ersten Ranges. Dabei ließ er es dahingestellt, ob eine Erweiterung dieser Steuer überhaupt diskutabel sei. Di�se Ausführungen wurden von verschiedenen Mitgliedern der Kommission noch verstärkt. Ein Herr bezeichnete eS alz von großer Wichtigkeit für die Politik der Zukunft, wenn das Reich in die Steuervcrhältniffe der Einzelstaaten eingreife; er verlangte, Preußen müsse darauf hinwirken, daß in der Reichspolitik die Verfassung beobachtet werde und daß man sich im Reiche lediglich auf die indirekten Steuerquellcn beschränke. In ähnlichem Sinne äußerte sich ein anderes Kommissionsmitglied, das zugleich noch ein wehmütiges Klagelied über die Verschwendung des Reichstages anstimmte, ohne zu br- denken, daß die Vermehrung der Ausgaben für unproduktive Zwecke gerade auf die Blockpolitik zurückzuführen ist. Noch schärfer ging ein Herr vor, der an die Regierung direkt die Bitte richtete, sich den Bestrebungen des Reiches, auf das Gebiet der direkten Steuern über- zugreifen, zu widersetzen. Die preußische Regierung habe schon jcht dem Reiche die Erbschaftssteuer teilweise überlassen und auch auf anderen Gebieten seien schon erhebliche Konzessioncu an daS Reich gemacht worden; so sei durch Einführung der Fahr- kartensteuer ein schädigender Einfluß auf die Eisenbahnen auS- geübt. DaS ganze Finanzgcbaren des Reiches könne nur mit größtem Mißtrauen angesehen lv erden; das Verhalten der Reichstagsabgeord- neten sei auf populäre Steuern gerichtet, die den Wählern gegenüber am ehesten vertreten werden könnten. ES ist nicht daS erste Mal. daß die HerrenhäuSler, um die be- sitzenden Klassen zu schonen, für neue indirekte Steuern mobil machen, und ist auch wiederholt vorgekommen, daß die Reichsregierung dem Drängen dieser Gesellschaft nachgegeben und dem Reichstage neue Steuervorschläge unterbreitet hat. In diesem fortwährenden Verlangen nach einer weiteren Belastung des Volkes äußert sich die Gcmeingefährlichkeit dergeborenen" Gesetzgeber Preußens nicht minder, wie in ihren Versuchen, die Arbeiterklasse zu knebeln, ihr das Reichswahlrecht zu entziehen und sie unter Ausnahmegesetze zu stellen.