„Wenn wir den liberalen Parteien in die Hände arbeiten und mithelfen würden, daß der Liberalismus groß wird, dann würden wir ja selbst die Waffen schmieden, mit denen der Kampf gegen die christliche Schule zu unserem Nachteil geführt werden könnte. Die Erhaltung der christliche» Bolkscrzichuug steht für uns in erster Linie.. Also das Wahlrecht ist dem Zentrum absolut gleich- gültig! So gleichgültig, daß es den bösartigste» Wahl- rechtsgegnern in die Hände arbeitet, wenn dadurch nur die Berpfaffuug der Schule sichergestellt ist! Denn es ist ja bodenlos dummes Zeug, wenn das Blatt gleich darauf behauptet, das Zentrum sei gleichzeitig be- müht, auch noch eine aus Freisinnigen. Sozialdemokraten und Ultramoutanen bestehende zweite Mehrheit für eine demo- kratische Wahlreform zustande zu bringen! Sagt doch die „Germania " am gleichen Tage:„daß das Reichstagswahlrccht unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht zu erreiche» ist, weiß jedes Kind". In der Tat, wenn das Eintreten des Zentrums für die W a h l r e f o r m in der Nnterstütznng der Konservativen besteht, ist das Reichstagswahlrecht natürlich nicht zu erreichen! Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter solchen Umständen nur dann zu erreichen, wenn die ge- nasführten, entrechteten Wählermassen endlich über die schäm- losen Verrätereie» des Zentrums nicht weniger als des Frei- sinnö aufgeklärt und zum gemeinsamen proletarischen Wahlkauipfe und Wahlrechtskampfe vereinigt werden! Das Selngeset?. Der„ReichSanzeiger" hat den Entwurf eines neuen WeingefetzeS veröffentlicht, durch daS den Klagen der Winzer über die Kon- kurrenz, die ihren Erzeugnissen auS den Weinfälschungen erwächst, abgeholfen werden soll. Eine erschöpfende Regelung der Materie bietet der Entwurf nicht, und vermag er schon deshalb nicht zu bieten, weil mit dem Fortschritt der Wiffen- schaft und der praktischen Erfahrung sich die Frage, welche Stoffe zur Weinbereitung unentbehrlich find und wie sie die Zusammen- setzung deS WeinS beeinflussen, ständig verschiebt. So hat denn auch der Gesetzentwurf die Frage, ob der Znckerzusatz gestattet sein soll und in welchem Maße, in einer sehr milden Weise entschieden. Bei ungenügender Reife der Trauben darf dem Traubenmost oder dem Weine bei Herstellung von Rotwein, sowie auch der vollen Trauben- maine so viel Zucker oder Zuckerwasser zugesetzt werden als er- forderlich ist, um Wein zu erzielen, der nach seinem Gehalt an Alkohol und Säure dem aus Trauben gleicher Art und Her- kunst in Jahren der Reife ohne Zusatz erzielten Weine cnt- spricht. Der Zusatz an Zuckerwasser darf jedoch in keinem Falle mehr als ein Fünftel des in die Mischung ge- langenden Mostes oder Weines betragen. Die Zuckerung darf«ur innerhalb des Weinbaugebietes vorgenommen werden, aus dem die Trauben stammen, und ferner soll die Zuckerung nur in der Zeit vom Beginne der Weinlese bis zum Schluß des Kalenderjahres stattfinden. Diese Bestimmungen sind im eigenen Interesse der Winzer aufgenommen; denn würde der Zuckerzusatz überhaupt verboten, so würden dadurch in schlechten Erntejahren die Winzer selbst am schwersten getroffen. Sie müßten dann ihren Most einfach fort- schütten oder zur Essigfabrikation verwenden. Ausgenommen von den Bestimmungen über den Zuckerzusatz ist natürlich die Herstellung von Wein zur Schaumweinbereitung und die Umgärung kranken Weines. Das Verschneiden(Vermengen) der Weine ist gestattet, auch der Rotweitzverschnitt. Ein Verschnitt von Weißwein mit Dessertwein <Süd-Süßwein) darf jedoch nicht stattfinden. Wein nachzumachen wird durch den§ 7 des Entwurfs gänzlich verboten; doch fällt unter dieses Verbot nicht die Herstellung von dem Weine ähnlichen Getränken aus Frucht- oder Pflanzensäften, wenn solche Fruchtweine im Verkehr mit solchen Wortverbindungen bezeichnet werden, die die Säfte kennzeichnen, aus denen sie hergestellt sind. Trinkbranntwein, dessen Alkohol nicht ausschließlich aus Wein gewonnen ist, darf im geschäftlichen Verkehr nicht als Kognak be- zeichnet werden. Eine Mischung von Kagnak mit Alkohol anderen Ursprungs darf als Kognakverschnitt bezeichnet werden. Ferner muß jeder Kognak, der in Flaschen verkauft wird, eine Bezeichnung tragen, welche das Land erkennbar macht, wo er für den Verbrauch fertiggestellt worden ist._ Hus dem Maklkampf. Ein junkerlicher Wahlrechtswitz. Einen echten dreisten Junkerwitz leistet sich Graf Rantzau- Rastorff in der„D e u t s ch e n T a g e s- Z e i t u n g". Der wackere Junker erklärt sich nicht nur gegen jede Verbesserung des elendesten aller Wahlsysteme, sondern er macht sogar Vorschläge, wie das Dreiklassenwahlrecht noch verschlechtert werden könne. Dieser Junker schwärmt natürlich für die st ä n d i s ch e Wahl und empfiehlt deshalb, ein Drittel der Abgeordneten durch Land wirtschafts- kammern, Handelskammern, Handwerkskammern und Arbeitskammern wählen zu lassen. Ein weiteres Drittel der Kammer möge aus Wahlen der P r o v i n z i a l- landtage hervorgehen— also der Wahl einer Köperschast, die selbst wieder von Kreisvertretungen, den Repräsentanten der Bourgeoisie und hauptsächlich deS Agrariertums, gewählt worden ist! DaS letzte Drittel der Abgeordneten soll dann, so empfiehlt der holsteinische Graf, wie bisher nach dem Dreiklasse»Wahlrecht gewählt werden! Nur wenn es gar nicht anders gehe, möge man eS bei diesem letzten Drittel mit dem„Experiment" einer„Annäherung(!) an das Reichstags- Wahlrecht" versuchen. DaS Oertel-Organ erklärt in einer Fußnote zu diesem kostbaren Junlerwitz, daß eS sich zwar mit den positiven Vorschlägen deS Grafen Rantzau„nicht völlig unbedingt identifizieren" möchte, aber den„interessanten und beachtenswerten Darlegungen gern Raum gewährt" habe! Und mit diesen Junkern geht der Freisinn im Block-Gefpann, mit diesen unversöhnlichen Feinden der Volksrechte empfiehlt die Zentrumspresse bei der Landtagswahl so häufig wie möglich gemeinsame Sache zu machen!— Die Hoffnung des Zentrums. Die„Kölnische Volkszeitung" stellt fest, daß m den letzten Wochen eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Konservativen und Zentrum eingetreten sei; in den Reden der konservativen Abgeordneten und den Artikeln der konservativen Presse komme das offen zum Ausdruck. Für eine christlich- konservative Durchdringung des Volkes sei wohl erst die nächste Generation der Konservativen reif. Dagegen sei man im Zentrum heute schon so weit, daß man für ein Zusammengehen alles Verständnis habe: „ZentrumSwähler haben Dutzende von konservativen Mandaten gerettet. Wo aber geschah es umgekehrt? Die Konservativen müssen mehr mit dem sozialen und politischen ZentrumSgeist durchdrungen werden, ehe dem christlich-lonservativen Geiste die Herrschaft im Reiche zufällt." Das Zentrumsblatt schließt mit dem Wunsche, daß sich m den konservativen Reihen die Erneuerung bald vollziehen möge—„zum Segen für Volk und Vater- land!" Interessant ist das Geständnis, daß das Zentrum Dutzende von konservativen Man- daten gerettet habe, womit das Zentrum zugesteht. daß es diejenige Partei gestärkt hat, die der wütendste Widersacher der preußischen Wahlreform ist. Man kann da- nach beurteilen, was es mit den Versicherungen des Zentrums auf sich hat. Im übrigen darf man hoffen, daß der nächsten Generation der Konservativen die Lust genommen sein wird, noch an die„Durchdringung des Volkes mit christlich-konservativem Geiste" zu denken.— Die llrwahlen sind für Berlin wie folgt festgesetzt worden: Am 3. Juni wählt die zweite Wählerabteilung vormittags in den Swnden von v bis 12. die erste Wählerabteilung mittags von 1 bis 2 Uhr und die dritte Wählerabteilung nachmittags von 3 bis 8 Uhr. politische Ucberficbt. Berlin , den 21. April 1908. Phili von Eulenburg. Der gestern in München verhandelte Hardon-Prozeß, über den wir an anderer Stelle berichten, wird den politischen Freunden des Wrsten Philipp von Eulenburg , die nach seinen beiden Eiden ihn als den sittenreinen Ritter ohne Furcht und Tadel hinstellten, der sich nie homosexuelle Verfehlungen habe zuschulden kommen lassen, schwer in die Knochen fahren Denn ist das richtig, was die Zeugen Riedel und Ernst— der letztere erst nach scharfen Ermahnungen— im Münchener Gerichtssaal unter ihrem Eid über ihren geschlecht- lichen Verkehr mit dem Fürsten Philipp von Eulenburg , diesem noch vor kurzem von seinen eigenen Standesgcnossen als feinste Blüte des deutschen Adels gefeierten Höfling und Diplomaten, aus- gesagt haben, dann, hat Fürst Phili falsch geschworen, als er im Bülow-Brand-Prozeß erklärte:„Ich habe mir niemals Handlungen gegen den Z 175 zuschulden kommen lassen", und als er im Prozeß Harden schwur:„Ich habe niemals Schmutzereicn getrieben." Oder wollen vielleicht die Edelsten der Nation, deren Presse nach den beiden Eiden mit pathetischer Entrüstung von niederträchtigen An- schuldigungen sprachen, sich jetzt mit der Versicherung herausreden, derartige Handlungen, wie sie der Fürst von Eulcnburg borge- nommen hat, seien gar keine Schmutzereicn. Vielleicht finden sie auch darin nichts, daß sich der hochgeborene Herr Fürst mit einem Fischerknecht duzt! Was nun. nachdem der Harden-Prozcß ein für gewisse Kreise so bloßstellendes Nachspiel gehabt hat? Wird nun auch die Staats- anwaltschaft so besorgt um die deutsche Ehre einspringen, wie im Prozeß Moltke-Hardcn, und gegen den Fürsten Phili von Eulenburg die Mcineidsklage erheben, oder wird sie gegen die Münchener Zeugen die Klage einleiten? DaS eine oder daS andere ist doch nur möglich. Noch zu den Ostertagcn haben die konservativen Blätter über die Unsittlichkeit der unteren Volksschichten gezetert, und nun dieser Schlag, der den Hohenau und Lynar eine weitere Blüte des Hoch- adcIS hinzufügt. Wer folgt?— Inkonsequenz! DaS„B e r l. T a g e b l." ist seit einiger Zeit den wunder- lichsten politischen Schwankungen unterworfen. Es geißelte mit blusigem Hohne den Wahlrcchtsverrat des Blockfreisinns, versuchte gemeinsam mit den Barth und Brcitscheid den Freisinn im Kampf für die Wahlrechtsreform vorwärts zu peitschen, um dann den Straßendemonstrationcn gegenüber eine so kleinlich philisterhafte Stellung einzunehmen, daß daran sogar zahlreiche seiner Leser Anstoß nahmen I Und jetzt ist dem Blatte, das die polittsche Korruption und Unzuverlässigkeit des Blockfreisinns in so zahlreichen Arsikeln entlarvt und ge- brandmarkt hat, seltsamerweise die sozialdemokratische Wahltaktik nicht recht. Zu unserem Aufruf, die Mai- feier zugleich zu einer imposanten WahlrechtSdemonstratton zu gestalten, bemerkt das Blatt: „Im Rausch der wilden Phrase vergißt der„Vorwärts" nur eines: nämlich, daß die sozialdemokratische Wahltaktik, die er selbst vor kurzem verkündet hat, notgedrungen jener Vclksentrechtung Vorschub leisten muß." Daß die Sozialdemokratte dadurch der Volksentrechtung Vorschub leistet, daß sie die Sorte Freisinn, die lieber bei konservativen Brotwucherern und nattonalliberalen Schars- machern, als bei der Sozialdemokratie Rückhalt im Wahlkampf sucht, ihrem Schicksal überläßt, ist eine Ansicht, die bei einem Wiemer, Mugdan oder dem„Blockjüngling" Heckscher be- greiflich ist. beim„Berliner Tageblatt" aber Kopfschütteln erregen muß. Wenn das„Verl . Tagebl." meint, eine ernsthafte demokrattschc Partei könne sich dazu hergeben, einen Freisinn bedingungslos zu unterstützen, dessen ganze politische Tättgkeit während des letzten Jahres nichts als eine Kette schamlosester Berrätereien an der Demokratie, ja dem Liberalismus selbst gewesen ist— ja, wozu hat es denn selbst seit einem Jahre diesen Liberalismus so schonungslos bekämpft?! Nur aus Lust an der Oppositton, aus Freude an der journalissischen Sensatton? Wenn aber die Kritik deS Mosse-Blattes ernst gemeint war, tvie kann es dann behaupten, daß es von irgendwelcher Bedeutung für die Wahl- r e s o r m sei, ob ein paar Blockfreisinnige mehr oder weniger im Abgeordnetenhaus sitzen! Das Mosse-Blatt sollte sich also hüten, im Stile der „Freis. Ztg" die Sozialdemokratie anzugreifen, wenn es sich nicht d e m Verdacht aussetzen will, selbst„im Rausche der wilden Phrase", statt aus ehrlichen politischen Motiven den Blockfreisinn bekämpft zu haben!— Arbeiter- und Agrarierinteressen im Zentrum. Der Landtagswahlkreis Mülheim-Sieg-Wipperfürth war bisher durch zwei Juristen und einen Landwirt vertreten, die sämtlich dem Zentrum angehörten. Der Landwirt will nicht mehr kandidieren; man redet davon, daß an seine Stelle ein Arbeiterkandidat treten soll. DaS bringt die zenttumS- agrarische„Rheinische Volksstimme" auf die Beine. Das Blatt schreibt: „Der Landwirt wird hinauSmanövriert, der Arbeiter kommt hinein. Wie reimt sich das zusammen mit den großen Tönen, die immer vo» der Berücksichtigung der Landwirte durch das Zentrum geredet werden. Erst wird den Landwirten Honig um die Backen gestrichen und dann gibt's eine Ohrfeige drauf, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Wenn sie dann wieder zu sich kommen, sehen sie erst, daß sie neben dem Stuhle sitzen." DaS Blatt schließt mit der Drohung, daß die Landwirte im gc- nannten Wahlkreise das nicht länger mit ansehen würden; man verlange einen Abgeordneten, der von landwirtschaftlichen Fragen etwas verstehe und nicht umfalle, wcmi seine städtischen Kollegen auf ihn einreden. Im übrigen brauche sich das Zentrum gar nicht zu wundern, wenn„viele einflußreiche Land- Wirte von ihm abfalllen und zum Bund der Land- wirre oder zur Deutschen Bereinigung übergehen. Gerade die einsichtigen Landwirte durchschauen das Spiel und tun nicht mehr mit."—_ Ter Parteitag der Freisinnigen Vereinigung . Unter Beteiligung von etwa 300 Delegierten aus ganz Deutsch- land trat heute nachmittag in der Frankfurter Loge der dritte Parteitag der Freisinnigen Vereinigung (Hauptversammlung deö Wahlvereins der Liberalen) zusammen. Generalsekretär Weinhausen erstattete den geschäftlichen Jahresbericht. Die Zahl der Parteivereine find um 71 Proz., die der Parteimitglieder um Sl Proz. gestiegen. Ausgelreten seien in bezug auf die Vorgänge vom 10. Januar und was damit zusammenhinge 4 Mitglieder fHört! hört!), jedoch seien 2 davon inzwischen wieder ein- getreten.(Heiterkeit.) Bedauerlich sei, daß eS noch Wahlkreise mit Reichs- und Landtagsabgeordneten gebe, in denen noch keine Partei- organisation bestände. Die Partei sei überhaupt bei weitem nicht so gut organisiert wie sie hier und da erschiene. Die Anstellung von Parteisekretären sei sehr erschwert, weniger durch den Mangel an geeigneten Kräften als durch den Mangel an den nötigen Mitteln. Ueberhaupt sei die finanzielle Lage der Partei außerordentlich ungünssig, so daß sie den Wettbewerb mit den anderen Parteien kaum aushalten könnte. Den Kassenbericht erstattete ReichStagSabg. M o m m s e n. Die Einzelheiten sollen vertraulich bleiben, doch geht daraus hervor, daß die Partei nur mit Mühe die notwendigsten Ausgaben gedeckt hat. DaS sei keine gesunde Finanzwirlschaft.(Lebhafte Zussimmung.) Zum politischen Jahresbericht nahm ReichSlagsabgeordnetcr Schräder das Wort: Als der neue Reichstag zusammen trat, beschlossen die drei Parteien, eine Fraktionögemeinschast z» bilden, und gemeinsam Stellung zu nehmen zu den Regierungsvorlagen und zu den Anttägen aus dem Hauie. Die Einigung der freisinnigen Parteien wurde keine vollständige, da die freisinnige Volkspartei verlangte, daß die Organisationen der drei Parteien in der bisherigen Weise fortbestehen und durch die Einigung nicht beeinflußt werden sollten. Das mußte zu Schwierigkeiten führen, die sich nachher auch gezeigt haben. Es ist schwer, wenn drei Parteien nebeneinander bestehen, Reibungen zu vermeiden. So hat man von vornherein Schwierigkeilen in die Einigung hineingelegt.(Sehr wahr!) In dem ersten Teile der Reichstagssession haben sie sich aber nicht sehr stark gezeigt. Der Reichskanzler hatte während des Wahlkampfes in Aussicht gestellt, daß der Liberalismus mehr berücksichtigt werden sollte. Infolgedessen erwarteten die drei ftei- siniiigen Parteien einige liberale Vorlagen der Regierung. Der erste ReichsragSabschnitt brachte jedoch politisch keinen Ertrag. Wahrscheinlich wollte der Reichskanzler die Schwierig- leiten zunächst noch vermeiden. Für die zweire Reichstagssession entstand nun die große Frage: wie wird die Zukunft werden? Diese Frage hat die freisinnigen Wählcrkreise mit steigender Lebhaftigkeit beschäftigt, namentlich nach zwei Richtungen hin. Daß in Preuße» eine illiberale Politik getrieben wurde, stand außer Zweifel. (Sehr wahr l) Eine Aenderuug der preußischen Politik sollte daduräi zustande gebracht werden, daß verschiedene Minister, die man als Träger der reaktionären Politik ansah, beseitigt werden sollten. Es hat lange gedauert, ehe etwas geschah. Was schließlich geschah, hat das nicht erfüllt, w aS wir erwarteten.(Lebhaste Zustimmung.) Graf PoiadowSky wurde beseitigt, ohne daß jemand wußte, weshalb. An seine Stelle ttat der preußische Minister des Innern v. Bethmann-Hollweg , für die Sozralpolitik ein unbeschriebenes Blatt. In das preußische Ministerium deS Innern zog Herr v. Mottle ein, ein ganz unbeschriebenes Blatt, und in daS Kultus- Ministerium Herr Holle , daS unbeschriebenste Blatt. (Heiterkeit und Beifall. Zuruf: Jetzt ist er beschrieben!) Ja, jetzt wissen wir, daß Holle keine Aenderung der Studtschen Politik bedeutet. Dann die Wahlrechtsfrage. Soviel ich weiß, sind in Norderney sehr viele LiebenS- Würdigkeiten ausgetauscht worden, aber von einen, poli- tischen Programm war nicht die Rede.(Hört! hört!) So kam der Wiederzusaminenttitt des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses. Bei der Eröffnung des preußischen Abgeordnetenhauses hörten wir eine Thronrede, in der vom Liberalismus und vom Wahlrecht nicht die Rede w a r. Dem Reichstage gingen inzwischen die Novelle zum Börsengesetz und das Reichsvereinsgesctz zu. aber auch ein Etat mit ungeheueren Ausgaben, für deren Deckung nichr gesorgt war. Es wurde kein ernsthafter Versuch gemacht. die Mittel zu beschaffen. S o viel ich weiß, ist i» Norderney in de» Unterhaltungen des Fürsten Bülow den Reichstags- abgeordneten nahegelegt worden, damit zu warten.(HöctI hört!) Soweit ich mich erinnere, ist es noch niemals passiert, daß ein Etat mit so großem Defizit dem Reichslage vorgelegt morden ist, ohne daß auch nur ein Versuch gemacht wurde, für Deckung zu sorgen. (Sehr wahr!) Inzwischen wurde die Agitation aus Reform des preußischen Wahlrechts immer schärfer. Sic erreichte ihren Höhepunkt, als Fürst Bülow in seiner Antwort vom 10. Januar den Liberalismus geradezu brüskierte.(Sehr wahr I) Im Reichstage berieten wir inzwischen Börsengesetz und VereinSgesctz weiter. Wir haben daS ReichsvercinSgesetz angenommen, trotzdem eS uns nicht in allen Punkten paßte, aber wir müssen t o l e r a n t s e i n und dürfen deswegen jetzt keine Vorwürfe gegen diejenigen er- heben, die gegen den A 7 des ReichSvcreinsgesetzeS gestimmt haben: sie haben nach ihrer besten Ueberzeugung gehandelt.(Sehr wahr I) Die freisinnige Fraktionsgemeinschaft hat keinen Zweck, wen» sie zu nichts anderem dienen soll, als dazu, dem Reichskanzler das Regiere» zu erleichtern.(Lebhafter Beifall.) Reichstagsabgeordneter Struve-Kiel: Beim Vereinsgesetz habe der Freisinn mit den Konservativen zusammen gearbeitet. Da- durch sei das Zentrum zwar nicht überwunden, aber doch isoliert. Vielleicht gehört manchmal mehr Mut und Cbaralterfestigleit dazu, Zugeständnisse zu machen, als lediglich Prinzipien zu reiten.(Lachen bei der Minderbcit.) Als erster Diskussionsredner spricht Rechtsanwalt Dr. Cohn- Dessau: Es fragt sich: Wie kommt der Liberalismus zur Herrschaft in Deutschland ? Dr. Barth sagt, es sei nötig, den Schwerpunkt nach links zu legen, nach der Seite des Zusammengehens mit der Sozialdemokratie. Es ist nicht zu leugnen, daß. wenn die Sozial- demokraten es wollten, mit uns zusammenzugehen, und wenn unsere Wähler damit einverstanden wären, auf diese Weise Fortschritte in freiheitlicher Beziehung zu erreichen ivärcn. Aber die Sozialdemokraten wollen es nicht, unddaSGroS unserer Wähler will es erst recht nicht.(Beifall und Widerspruch.) Wenn wir uns schon taktisch entschließen könnten, mit der Sozialdemokratie zu- sainmenzugehen, dürsten wir eS dann? Freilich, das Reichstags- wahlrecht für Preußen will auch die Sozialdemokratie. Ist dos aber der höchste Kreis unserer Politik? Trennt uns sonst nichts von der Sozial- demokratie? Vergessen wir nicht, wie die sozialdemokratischen Genossenschaften und Gewerkschaften überall erschweren.(Lachen bei der Minderheit.) Sehen Sie nicht, wie die Sozialdemolratie zielbewußt von Tag von Tag stärker in der Praxis und Theorie die Arbeiterklasse als kompakte Masse den anderen bürgerlichen Parteien entgegenzusetzen sucht. Die Gefahr der Sozialdemokratie ist nicht mehr eine entfernte,
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