Unruhen auf den Karolinen . Köln , den 10. Oktober. (Telegramm.) Wie ein Berliner Telegramm der„Kölnischen Zeitung " Meldet, ist von dem Gouverneur Dr. Hahl, der in Begleitung von hundert melanesischen Soldaten mit dem Rcgierungs- dampfer„Seestern" nach Ponapc(Karolinen-Archipel) gefahren Mar, um dort bei den Ullrichen helfend einzugreifen, über Jap folgendes Telegramm an das NeichLkolonialamt eingelaufen: Es ist in Ponape v o r e r st ruhig. Die Lage i st aber gespannt. Ich beabsichtige, noch weitere hundert Melanesen als Verstärkung der Polizeitruppe nach Ponape zu senden und halte es für angezeigt, einen Kreuzer vor Tonape längere Zeit zu stationieren. Hierzu heißt es in dem Berliner Telegramm der„Köl- Nischen Zeitung": Nach dem Inhalt dieses Telegramms ist wohl anzunehmen, daß besondere Ereignisse, wie Angriffe auf die Negierungsstation, Verwundungen, Ermordungen von Europäern bisher in Ponape nicht eingetreten sind. Es hat daher auchjnehr Wahrscheinlichkeit, daß, wie von einer Seite berichtet wurde, die Unruhen in Streitigkeiten der Eingeborenen ihren Grund haben, als daß, wie die„Vossische Zeitung" über San Francisco sich melden ließ, Unzufriedenheit und Widerstand wegen einer Kopfsteuer vorliegen, lieber die Absicht, eine Kopfsteuer in Ponape, wo eine solche bisher nicht bestanden hat, einzuführen, ist hier nichts bekannt geworden. Ebenso liegt über den Grund zu den Unruhen amtlich noch kein Be- richt vor."_ Reform der Arbeiterversicherung. Offiziös wird gemeldet: Ende Oktober finden im Reichsamte des Inneren die mehr- fach angekündigte» Konferenzen mit Vertretern der Arbeitgeber und der Arbsiier über die bevorstehende Reform der Arbeiterver- sicherung statt. Für den Lg. Oktober find Vertreter der Orts-, Be- triebs-, Innung?--, KnappschaitSkrankenkaffen und der freien Hilfs- lassen sowie Vertreter der Kastenbeamten geladen. Am 24. Oktober wird über die Frage des ArzncimittekbezugeS für Krankenkassen und der Behandlung von Zahnkrankhcitrn, ebenfalls unter Zu- Ziehung ausgewählter Sachverständiger sämtlicher Interessenten- gruppen, verhandelt. Für den 27. Oktober ist sine Besprechung mit Verlrctcrn der IlnfallbernfSaenossenschaften, der Landesvcr- sicherungsanftallcn und der AuSfährungSbchörden unter Betcili- gung von Laienbeisihern de? RetchSversichcrUngSamteS angesetzt. Außerdem sind zu allen Verhandlungen, deren Leitung durch den Staatssekretär b. Dethniann-Hollwcg erfolgen wird, die beteiligten ReichSbehükdcn, die größeren BuiideSstaaten und das ReichS-Ver- sichcrungSamt eingeladen._ Die preußische Negirrnng und die Schiffahrts« abgaben. Im Anschluß an die jüngst durch die Pceffe gehende Nachricht, Baß die preußische Negieruiig. um freie Hand für die geplante Be- lastirng des Schiffsverkehrs durch SchiffahrtSabgaben zu gewinnen, «inen JiiterpretationScnlwurf zum Artikel 54 der Reichsverfasiung ausarbeiten lasse, beschäftigt sich die in Hamburg erscheinende deutsche nautische Zeitschrift„Hansa " mit der Frage, waS Preußen bisher, abgesehen vom Rhein , fllr die Schiffbarmachung seiner Flüsse getan hat. Das Blatt schreibt: „Preußen hat sich nun für den Rhein bemüht den Nachweis zu erbringen, daß die VerbcsserimgSprvjekte in ihrem Nutzen den Nachteil der Abgabenrrhcbmig weit überwiegen. So ist dieser Tage eine Dcnlichnfl erschienen, welche für den Rhein einen großzügigen Schlcusenbau in dem sogenannten BIngerloch vorsieht, wodurch der Rheinschiffahrt die Möglichkeit gegeben werden soll, ihre Schiffe um fünfzig Zentimeter tiefer zü laden als bisher. Allerdings ist hin« zuzinügen, daß dieser VcrbesserungSvorschlag bis jetzt der einzige ist, der etwa-, wirklich Greifbares ent« hält, WaS um so bedauerlicher erscheint, als gerade damit allein derjenige Strom hinsichilich der Schiffahrtsabgaben mit einiger- maßen sicheren Zahlen für die Zukunft rechnen kann, dessen Verkehr den ausländischen Häfen zugute kommt. Für alle übrigen Ströme hat eS die preußische Regierung noch nicht für nötig befunden, ein« nur einigermaßen ziiverlässige Erklärung abzugeben, darüber, welche Verbesierungcn den Schiffahrtsinteressenten geboten werden sollen, und in welchen Verbesserungen der die Nachteile der Abgab enerhebung überwiegende Nutzen liegen soll. Die preußische Regierung stellt also an alle dtejemgen Kreise. die an der Schtsfahrt, sowohl Binnenschifsahrt als Seeschiffahrt, interessiert sind.— und hierzu gehören auch eine ganze Reihe deutscher Bundesstaaten— das sonderbare ÄNsimien, daß eine Frage priiizipiell geregelt werden soll, bevor sie materiell geklärt ist. Matt kann nicht annehmen, daß die preußische Reglrniug lediglich um theoretischer Interessen willen schon jetzt auf eine Entscheidung in der Frage der Schiff- fahrtSabaaben drängt. Ilm so mehr sollte sie dafür Sorge tragen. daß die beteiligte» Kreise mm endlich einmal erfahren, wessen sie sich bei einer so schwerwiegenden Entscheidung für die Zukunft zu versehen haben."_ Die Gleichberechtigung in Hessen . In Vilbel bei Frankfurt a. M. wurde Genosse Armbrust zum Beigeordneten(des Bürgermeisters) gewählt. Bon 060 Wahlberechtigten stimmten 717|a6. Genosse Armbrust erhielt 360, zwei bürgerliche Kandidaten zusammen 353 Stimmen. Ob die hessische Regierimg die Wahl des Genoffen Armbrust bestätigen wird, ist fteilich noch fraglichl— Ein Urteil von prinzipieller Bedeutung. Der GlaShüttenbesttzer Ernst LouiS Kirschbaum in Virna hatte im Jahre 1004 die Bauerlaubnis zur Vergrößerung seiner Fabrik vom Stadtamt in Pirna unter der Bedingung erhalten, daß die Arbeit an den Strecköfen an Sonn- und Feiertagen zu niheN hatte. Der GlaShüttenbesttzer hielt aber diese Bedingung nicht«In und erhielt deshalb am 5. Dezember 1900 ein Strafinandat über 30 M. Dagegen ethdb er Einspruch beim Schöffengericht mit dem HlnweiS, daß solche Verbote nur vom RcichSarnt deS Jlmeru erlasse» werdetl sönnten. Der Einspruch wurde verworfen und K. legte mit dem- lelbcn Erfolge Berufung beim Landgericht und schließlich beim Ober- lnndeSgerickit ein. Aus' prozessualen Gründen wurde die Sache an das Landgericht zurückverwiesen� und�dieseZ bestätigte-- besonders auf Grund eines Gutachtens des Professors Regierungsrats Cafpari— das Urteil. DaS Glasstrecken sei keine Arbeit, die nicht ohne Schaden am Sonntag liegdn bleiben könne. Die Militärjnstlz, sie gegen SoldnfeNpciniger fast Nie mit voller Schärfe dorgehk, auch bau» nicht, wenn der angeklagte Vorgesetzte noch so brntal gegen »vehrlose Soldaten handelt, hat wieder einmal in einem Verhältnis- mäßig harmlosen Falle von Insubordination die Militärstrafaesetze in ihrer ganzen furchlbaren Hätte gegen einen Untergevenen angewendet, der noch dazu in der Trunkenheit gehandelt hat. Daö Kriegsgericht der IS. Division verhandelte gegen einen Musketier des 03. Jiifnnieriercgiinentß in Koblenz . Er hatte, als er nachts angebeitert auf dem Heimweg« War. ihm vegegnciide Unter« vifiziere nicht gegrüßt, gnr Rede gestellt, beleidigte er sie und weigerte sich, seinen Namen anzugeben. Als cin-r der Unterofnzlere die Nummer des SeitengeivehreS fesistelleu wollte, widersetzte sich der Soldat, sodaß der erstete sich der Waffe niit Gewalt bemächtigte. Der Angeklagte erklärte, infolge seiner damaligen Trunkenheit von dem ganzen Vorgang nicht» zn wissen. Die Unteroffiziere be- kündeten, der Soldat sei nicht sehr(1 1) betrunken gewesen. und er habe sie als Vorgesetzte erkannt. Das Gericht erkannte wegen „Widcrstandsleistung, Gehorsamsverweigerung, Achtungsverletzung und Bcleidigimg" auf acht Monate Gefängnis, trotzs der unbesirtttenen Trunkenheit und trotzdem der Soldat in keiner Weise tätlich geworden war. �_ Städtische Sozialpolitik. Die 13 Genossen im Dresdener Stadtverordnetenkollegium brachten in der gestrigen Sitzung deS Kollegiums einen Antrag auf Milderung des sich in volksreichen Stadtgegenden besonders bemerk- bar machenden Wohnungsmangels ein und frugen an,'in welcher Weise der Stadtrat die Initiative zur Beseitigung dieses Zustandes zu ergreifen gedenke. Nachdem Genosse Flcißner in eingehender Weise durch Beibringung von Material den Antrag begründet hatte und die Vertreter der enragierten Hausbesitzer, darunter der Ober- bürgermeister Veutler, sich in ablehnendem Sinne geäußert, wurde der Antrag gegen 16 Stimmen(es haben also nur drei bürgerliche Stadtverordnete dafür gestimmt) abgelehnt. Angenommen wurde dagegen ein Antrag, eine Statistik der leerstehenden Wohnungen auf- zunehmen.—- � � Oelterrdch. Die Verhaftung aufgehoben. Budapest , 10. Oktober. Die verhafteten s o z i a l i st i- scheu Parteiführer sind wieder freigelassen worden. Sie wurden jedoch verpflichtet, sich nicht aus der Stadt zu entfernen, da gegen sie die Untersuchung weitergeführt wird._ Der Einschüchterungsversuch vergeblich. Budapest , 10. Oktober. Neunzehn bei den vorgestrigen Demonstrationen verhaftete Personen, bei denen man Revolver vorfand, wurden dem Geriäitshof eingeliefert. Sie werden sich wegen Mordversuchs(I) zu verantworten haben. Die Parteileitung beabsichtigt aber- inalige Versammlungen einzuberufen, um gegen die vorgestrigen Verhaftungen zu protestieren._ Die Annexion als Vorspann für neue Rüstungen. Budapest , 10. Oktober. Wie verlautet, wird der Kriegsminister schon in der ersten Sitzung der ungarischen Delegationen mit dem Hinweis auf die Situation eine Erhöhung der Rekruten- zahl und gleichzeitig den Kredit dafür fordern, um den ungarischen Reichstag vor eine vollzogene Tatsache zu stellen. Wekerle ver- bandelt mit den Parteichefs, bisher mit Erfolg bei der Volks- und Verfaffungspartei. Die Vorsanktion der Wahlreform wäre der Lohn für ihr Wohlverhalten. Gelingen die Verhandlungen mit der Kossuthpartei nicht, so vertagt sich die ungarische Delegation bis 20. Oktober. Cnglsncl. Die Arbeitslosen. London , 10. Oktober. Die Arbeitslosen kündigten neue De- m o n st r a t i o n e n an. Sie versuchten in die Kirchen einzudringen, um dort Versammlungen abzuhalten. Um das Franenstimmrecht. London , 10. Oktober. Die Frauenrechtlerinnen habe« neuktdingZ beschlosien, in das Parlament einzudringen. Sie haben diesbezügliche Ausrufe an alle Frauen gerichtet und erklären, daß sie entschlossen seien, auch in das Parlament Vertreterinnen zu senden. foißlauck. Der UniversitätSstreik. Petersburg, 9. Oktober. In einer allgemeinen Ver- sammlung von ZuHörerinnen der höheren weiblichen Kurse zu Moskau ist heute mit großer Mehrheit der Streik beschlossen worden. Ebenso beschlossen die Studenten der Universität Tomsk, den Besuch der Vor- lcsungen e i n z u st e l l e n. Pctrrsburg, 10. Oktober. Die Universität ist heute wieber eröffnet worden. Tau sende von Stu- d e n t e n versammelten sich im Universitätsgebäude und verhinderten die Versuche einzelner Professoren, Vorlesungen zu halten durch Lärmen vor den Hör- sälcn. Ernstere Ruhestörungen sind nicht vorgekommen, und ein Eingreifen der.Polizei hat nicht stattgefunden. Außer den Studenten der Universität streiken noch diejenigen des technologischen Instituts, des Polytechnikums, der medizi- nischen und der ForstakadeMie: dagegen dauern die Vor- lesiingen in den Instituten der Verkehrsingenieure und der Zivilingenieure fort._ FraiKölilclK ärbelterliongrelle. II"). Mit einem anderen„Reformismus " wird sich der Partei- tag der geeinigten Soziali st en in Toulouse auseinanderzusehen haben. Bekanntlich hat auch in Frankreich die Frage der Bugetbewilligung zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei geführt. Sie stellt sich indes einigermaßen anders dar als in Deutschland . Hat Deutschland BUdgetbewilllger aus Taktik, so stellt der Deputierte Breton die Spezies der Bnbgetbewilltger aus Prinzip dar. Als unerschütterlicher An- Hänger deS Blocks der Linksparteien, dem er die Aufgabe der Ueberleitung der bürgerlichen Demokratie in die sozialistische zu- teilt, beharrt er darauf, selbst für dag Budget einer Regierung wie der E l e m e n c e a u S zu stimmen, die sich zur Vollstreckcrin aller Unterdrückungswünsche der Unternehmer gemacht hat und alle Schrecken und Schikane« der bürgerlichen Polizei- und Justiz- Willkür auf die Organisationen und die Propandtstcn des Prole- tariatS losläßt. Er kümmert sich dabei weder Um den ElnigungS- Pakt der Partei noch um den Beschluß der Fraktionsmehrheit. Gegen Breton liegt ein Ausschlußantrag vor, gegen den stch aller- dtngs die Föderation Eher, die er vertritt, ausgesprochen hat. Immerhin hat der Födcrationskongreß mit überwältigender Majorität die Ablehnung des Budgets für die Zukunft für obligatorisch erklärt. Die Tendenzen Bretons werden auf dem Parteitag durch zwei Föderationen, Cöt« d'Or und Puy de Dom«, vertreten sein, die zusammen über S Stimmen verfügen. Man sieht also, daß der Blocksozialismus in der geeinlgten Partei wenigstens fllr die Dauer der jetzigen politischen Konstellation voll- kommen aussichtslos ist. Gegen eine« andere«„possibllistischen" Deputierten, den Ve- kannten Brousse» de« einstigen Trabanten BakUnins hat der Kongreß der TeiUe-Föderation einen AuSschluhantrag an- genommen. DaS Motiv ist die Weigerung Brsusses, den Aufruf der Fraktion gegen den Besuch FatllöreS beim Zaren zu unterzeichnen. Im Grunde aber war das«Lt der letzte Ab- l MM I erschien in der Nt. AS. schnitt eines langen Sündenregister». Brousse versuchte sich haupk» sächlich damit zu rechtfertigen, daß er behauptete, die russisch- französische Allianz sei ein Werk des— russischen Volkes. Wegen fortgesetzter Disziplinlosigkeit wurde auch der Pariser Gemeinde- rat Heppenheimer ausgeschlossen. Der so plötzlich erwachte Eifer der Seine-Föderation für die Parteibisziplin ist immerhin einigermaßen auffallend, zumal da er sich nur nach bestimmten Seiten richtet. Die Herbeistische Gruppe hat man ihr Partei- schädigendes Treiben ungehindert verfolgen lassen— erst in der jüngsten Zeit ist es zu Unstimmigkeiten zwischen den Anti- Militaristen der strengen Observanz und den syndikalistischen In- telleltuellen gekommen, die— mit großer politischer Klugheit— ihren Einfluß in der von allcmanistischen Traditionen und von der fortlebenden Abneigung gegen die Auffassungen und gegen die leitenden Persönlichkeiten des alten Parti Ouvrier beherrschten Seine-Föderation zu erweitern suchen. Und alle die Gruppen, die auf den letzten Parteitagen die buntscheckige Majorität für Generalstreik, Insurrektion im Kriegsfall und revolutionäre Ge- Werkschaftstaktik gebildet haben, vereinigten sich, um einen der be- kanntesten Propagandisten aus der Schule Jules Guesdes, Marius Andrö, auf die Liste der Ausgeschlossenen auf- zunehmen. Andre hat sich als Sekretär des Verbandes der Beamten der Linie Paris— Marseille— Toulon an einem Bankett beteiligt, bei dem der Präsident des Verwaltungsrats eine Rede gegen das Gesetz über den Ruhetag und gegen die Gewerkschaftsaktion hielt. Unzweifelhaft verdiente sein Verhalten den schärfsten Tadel. Der Kongreß- der Seine-Föderation hat cs indes für gut befunden, darüber hinauszugehen und auf Ausschluß zu erkennen. Erwähnt sei, daß Andre von einem gewerkschaftlichen Schiedsgericht frei- gesprochen worden ist, trotzdem sein Verhalten doch vor allem gegen die gewerkschaftlichen Interessen verstoßen hat. Die sonst in der französischen Partei ungewohnte Strenge, die die Mehrheit der Seine-Föderation gegen ihn gezeigt hat, läßt sich nicht unschwer als Ausdruck des Acrgers erkennen, den die scharfe Kritik der Freunde Jules Guesdes an der Parteitaktik und an der Taktik der Konföderation bei ihr erregt hat. Da Marius Andrä auf dem zur endgültigen Entscheidung berufenen Parteitag von seinen alten Kameraven nicht im Stich gelassen werden wird, muß man sich auf gereizte Auseinandersetzungen gefaßt machen. Es läßt sich auch schwer verkennen, daß zwischen der gegen den Anhänger der Gucsdistischen Parteiminorität betätigten Rigorosität und den grenzenlosen taktischen Nucksichten, die gegenüber den anarchistelnden Grllppchcn bewahrt werden, ein merkwürdiger Unterschied besteht. Die Frage der Budgetbewilligung wird im Rahmen einer um- fassenden Debatte über die allgemeine Partei« kl ivn zur Entscheidung kommen. ES wird sich namentlich darum handeln. die Bedeutung des Parlamentarismus und der Reformen inner- halb der heutigen Gesellschaft zu bestimmen. Die geeinigte Partei besitzt bekanntlich kein ausgearbeitetes Programm, das diesbezüglich Grundsätze aussprechen würde, und in ihr sind über diese Punkte alle Meinungen vertreten, vom revisionistisch-demokratischen Optimismus bis zum Antt-Parla- mentarismuS, wobei diese zwei scheinbaren Extreme oft eigen- tümliche Berührungen zeigen. Es gibt ja einen Reformismus, der sich mit der Forderung des revolutionären Generalstreiks kombiniert. Die Richtung der Gruppe um JuleS G u e s d e ist bekannt. Sie entspricht der der deutschen Sozialdemokratie in dieser Frage. Die Reformen werden als notwendige« Mitsei zur KMpfbereitschast Proletariats angesehen. Sie ändern direkt das Wesen der Gesellschaft nicht, aber sie schaffen eine zur Rc- Volution fähige Klasse. Jaures hat sich in den letzten Tagen be- müht, diese Auffassung als rein negativ und zur Unbeweglichkeit führend, zu kritisieren, wogegen ihre Anhänger geltend machen konnten, daß gerade die von diesen Anschauungen beherrschte Föderation des Norddepartements die größten Erfolg« auf organi- satorischem, gewerkschaftlichem und elektoralem Gebiet aufzuweisen hat. Auch von den den Syndikalisten nahestehenden Genossen wird die Rolle der Abgeordneten nicht mehr für durchaus wertlos er- klärt. Es waren auf dem Kongresse der Seine-Föderation gerade die syndikalistischen Intellektuellen, die mit Vaillant und seinen Freunden eine Resolution ausgearbeitet und durchgebracht haben, die alle Formen der Aktion, die parlamentarische und die direkte, den Generalstreik und die Insurrektion für anwendungswürdig er- klärt. In anderen Föderationen hat die alte Ansicht Oberhand gewonnen, daß sich die Bedeutung des Parlamentarismus im Agitatorischen erschöpfe. Auf dem Kongreß der Rhone -Föderation hat man die Formel gewählt, daß die Partei nur für jene Re- formen eintreten dürfe, die von den Gewerkschaften gebilligt würden. DaS hieße die Partei diesen unterordnen. Dieselben Leute, die Immerzu jede Kooperation zwischen Partei und Gcwerk- schaff abgelehnt haben, möchten also die Subordination der Partei. Sicherlich muß die sozialistische Aktion dem jeweiligen Reifegrad des Proletariats Rechnung trage«, aber die Aufg'abe der sozialistischen Partei ist es eben, das proletarische Selbstbewußtsein zu klären. Sie kann ihre Freiheit am wenigsten an gewerkschaft- liche Organisationen hingeben, die noch in halb zünftlerischen oder anarchistelnden Äuffassungcn befangen sind, und darf ihre bessere Einsicht nicht opfern. Sie hat auch ein Recht darauf, von den Ge- Werkschaften nicht auf ihrer eigentlichen Domäne beeinträchtigt zu werden. Man hat Führer der Konföderation in bürgerlichen Blättern z. B. gegen die von der Partei befürwortete Einkommen- steuer schreiben gesehen, und bei den letzten Gemeindewahlen auch die syndikalistische Protest"-Kandidatur P a t a u d erlebt, die den sozialistischen Kandidaten tlttmerhin einige hundert Stimmen genommen hat. EL gibt tn der geeilügten Partei manche Genossen, die sich Mit dem Gedanken dieses politischen MasochisMUS be- freundet haben. In Frankreich ist der Gedanke ja sehr nahe- liegend, nach den üblen Erfahrungen mit den Parlamentariern deren Rechte möglichst' zu beschneiden und ihre Kontrolle durch dt» Massen zu verschärfen. Vorläufig sind diese aber in der Gewerkschaft ebensowenig vorhanden wie in der Partei, und überdies sind in der Konföderation alle möglichen nichtsozialistischen Elemente propagandistisch tätig. Daß die sozialistische Altion im Parlament von dem in den Gewerkschaften vereinigten Proletariat beherrscht werde, eine Arbeiterpartei etwa nach englischem Muster sich bilde, mag man ja als Aufgabe der Zu- kunft ansehen, aber die sozialistische Partei würde die Zukunft des Proletariats und der Gewerkschafisbewegung selbst verraten, wenn sie die theoretische Aufklärung, die spezifisch sozialistische Propaganda und die ihrer Erkenntnis entsprechende Aktion gerade dort Salt machen ließe, wo ihre eigentliche Ausgabe beginnt. Der Kongteß von Toulouse wird gleich seinen Vorgängern namentlich zwei Tendenzen einander gcgenübertreten sehen: eine, die dem Proletariat als Bedingung der sozialen Umgestaltung die Eroberung der politischen Macht verkündet, und eine andere, die, ohne dieser ausdrücklich abzusagen, die spezifischen Rezepte des SynbikalislitUs aufnimmt. Daneben wirv sich der eigentliche Shitdikölismus, dessen Anhänger in einer soeben heraus- gegebenen, sehr geschickt stltisierten Erklärung die Eroberung der politischen Macht als„Utopie" bezeichnen, geltend zu machen bör- suchen, außerdem die„aniipatrtotische" Gruppe und der blocksreund- liche Reformismus. Vermutlich werden sich auch diesmal diese drj£i kleineren Gruppen der an zweiter Stelle genannten anschließen
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