Nr. 61.
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Vorwärts
10. Jahrg.
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fernfprech- Anschluß 3mt 1, Nr. 4186.
Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Der Militarismus auf der Anklagebank.
Wieder auf der Anklagebank!
Sonntag, den 12. März 1893.
ftaat par excellence und er, der allmächtige, unfehlbare Militarismus muß im Reichstag auf der Anklagebant sitzen vor dem Parlamentarismus!
Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.
Schuldig ohne mildernde Umstände. Und zur Förderung dieses Militarismus soll ein neues riefiges Moloch- Opfer gebracht werden. Niemals. Keine Gnade.
Fort mit dem Militarismus! Und die Militärvorlage werfen wir
Wir begreifen die Aufregung, den nervösen Born des Kriegsministers, der, gewöhnt an unbedingten Gehorsam, hier Rede und Antwort stehen und sich vertheidigen muß! Und was giebt dem sonst so schwachen, schwachmüthigen ihm nach. Reichstag dieses Uebergewicht?
Als vor wenigen Wochen unsere monarchische Presse mit pathetischer Entrüstung der Dinge in Frankreich vor hundert Jahren gedachte: eines Königs auf der Anklagebank, der Verurtheilung und Hinrichtung eines Königs- Der Geist der neuen Zeit, der in ihm weht, trotz alle da vergaßen die Lobredner der Gegenwart, daß gegen- dem, während der Militarismus, wenn er auch Manieren wärtig, feit Jahren ein viel mächtigerer König und Herr, der Neuzeit zur Schau trägt, den Geist alter, längst vernicht der Monarch eines Volks, sondern im wahrsten Sinne gangener, von der Kultur weggeschwemmter Zeiten in sich des Wortes ein internationaler Monarch, ein richtiger trägt, ja die Verkörperung dieses Geistes vorkulturlicher Weltherrscher unter schwerster Anflage steht, auf der Au- Barbarei ist. flagebank sitt, und sich auf Leben und Tod den Prozeß machen lassen muß. Der Angeklagte heißt: Militaris. mus, und ist der klassischste Ausdruck desBlut- und Eisen- sie zu tödten! systems, der modernen Barbarei, in welche die faulende und verzweifelnde kapitalistische Gesellschaft zurückgefallen ist und die Menschheit zurück zu werfen droht.
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3n den jüngsten RuffenAusweisungen.
Ueber die Maßregelungen( Verhaftung, Siftirung, Sauss suchung, Konfistation von Sachen, Ausweisung der Gemaß. regelten), denen eine Anzahl von russischen Studirenden im vorigen Monat hier zum Opfer gefallen ist, empfangen wir aus der Reihe der Gemaßregelten nachstehende Buschrift, deren thatfächliche Mittheilungen wir allen Grund haben, für durchaus richtig zu halten:
Wir wollen hiermit einige Einzelheiten aus der Verhaftung der neulich aus Berlin ausgewiesenen Russen der Deffentlichkeit vorlegen inwiefern wir berechtigt waren, die Aufmerksamkeit des Publikums auf unsere persönlichen Erlebnisse jetzt, nachdem die Sache scheinbar erledigt, nochmals zu lenken; die Entscheidung darüber überlassen wir dem deutschen Volke selbst, wir bitten nut, nus so lange anzuhören.
Verhaftung wären den Betreffenden die Gründe derfelben anZunächst die Verhaftung. Wer der Meinung ist, bei der gegeben oder wenigstens ein schriftlicher Berhaftungsbefehl vorgezeigt, ber irrt sich start. Nicht nur bei der Verhaftung, sondern auch später und bis auf diesen Moment wurde, troß wiederholter Anfrage, den Betheiligten etwas Schriftliches nie vorgezeigt oder der Grund dieser Maßregel mündlich angegeben. Die Verhafteten befanden sich mit einem Mal in der Gewalt von unteren Polizeibeamten und mußten denselben gehorchen widerspruchslos, willenlos, ohne zu wissen, weshalb, warum?
Was ist der letzte 8 wed des Militarismus? Menschen, Feinde, unschädlich zu machen, eventell Und um diesen Zwed zu erfüllen, muß er in seinen Werkzeugen den Menschen tödten, muß er die Bernunft, das Denken tödten, den Mensch zur Maschine umWie alle Despoten haßt der Militarismus die Deffent- drillen. lichkeit, haßt er das Licht des Tages. Nicht, daß er sich in Reden da entrüftet liberale Mannesseelen uns Dunkelheit hüllen, in die Einsamkeit zurückziehen wolle. Jm vor von den Greueln des Jesuitismus, der den Kadaver Gegentheil: er zeigt sich gern auf der Straße, funkelnd, gehorsam heischt! Was ist der Kadavergehorsam der gleißend gligernd in Stahl, goldglänzend, farben- Jesuiten verglichen mit dem Kadavergehorsam des prächtig- mit wilder berauschender Musik aber Militarismus? Der Jesuitismus braucht den tende blendend, betäubend die wahre Gestalt dem Blick Werkzeuge, der Militarismus erstickt in seinen Werkzeugen verbergend, mit ängstlichster Sorgfalt sein innerstes Wesen das Denken, das Judividuum. Er zerreibt, zermalmt sie umschleiernd, sein Weben und Treiben por unberufenen als Menschen er fann nur toote Maschinen brauchen. Augen schen hütend. Und jedes Auge ist unberufen, Wer sich sträubt wer Widerstand leistet, wer zu start außer sein eigenes. oder zu ungelenk ist für die eiserne Form, in die der Mili Wie haßt er die Deffentlichkeit! Wie haßt er den ver- tarismus ihn einzwängt er wird zerquetscht. Die entsetz wünschten Parlamentarismus, der ihm das Kasernendach lichen Fälle der Soldatenmißhandlungen, die wie die immer abdeckt, die Geheimnisse des Kasernenhofs der profanen und immer wiederkehrenden Soldatenselbstmorde, der MiliKritit preisgiebt, das schillernde Nebelgebilde der Ferien- tarismus überall im Gefolge hat, sie zeigen das Loos der folonien auflöst, den bunten Flittertand erbarmungslos Unglücklichen. Und Abhilfe giebt's da nicht. Der Erlaß fie verhaftet waren. Es wurde ihnen nur gesagt, Sie müssen Aber die Verhafteten wußten außerdem nicht einmal, daß abreißt von den parties honteuses*)! des Prinzen Georg von Sachsen , ähnliche Erlasse anderer nach dem Polizeipräsidium, und zwar müssen Sie sogleich mit. Auf der Anklagebant sitzen ist kein Vergnügen. Und Regierungen fie find Blätter Papier geblieben Dann wurden sie nach dem Polizeipräsidium transportirt, durch eine nun gar erst für einen allmächtigen, unfehlbaren Monarchen, ohne jegliche Wirkung. Der befte, der entschlossenste Anzahl verworrener Gänge nach der Gefängnißinspektion geführt der in seinem Reich keinen Widerspruch, keinen Zweifel, Wille mußt nichts. Es ist eben unmöglich, in das Wider- und erst als alles, was sie bei sich hatten, auf das forgfältigste kein selbständiges Urtheil duldet. menschliche Menschlichkeit zu bringen. Frivole Schwäter untersucht worden war, zu welchem Zweck fie sich nackt ausziehen behaupten, der Sozialismus gehe wider die mensch- mußten, und als sie danach in die Gefängnißzellen eingesperrt liche Natur. Schamlose Umdrehung der Wahrheit. Sie wurden, wurde ihnen klar, daß sie verhaftet worden seien. verwechseln den Sozialismus mit dem Militarismus. Der über ihre Lage versetzt, so wurde diese Unsicherheit durch die Waren die Betreffenden also von vornherein in Unsicherheit Militarismus geht wider die menschliche weitere Behandlung noch aufs höchste gesteigert. So wurde Natur, wie er gegen die Kultur geht. auf die häufigen Anfragen, ob und wann man aus dem Gefängniß befreit werden würde, regelmäßig, und dies auch nach dem Verhör, geantwortet entweder:" Sie werden bald befreit werden", oder sogar:" Sie werden gleich frei„ Sie gelaffen." Giner der verhafteten Damen, als sie nach dem Verhöre fragte, ob sie auch noch im Gefängniß übernachten müsse, Leider erwiesen sich alle diese Bersicherungen als irrthümlich. wurde bestimmt geantwortet:" Sie werden gleich freigelassen",
Und der Militarismus sigt jetzt auf der Anklagebank des Deutschen Reichstags- wie er schon voriges Jahr, schon vor zwei Jahren darauf gesessen hat.
Er auf der Anklagebank! Und angeklagt von Wem?
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Der Höchste angeklagt von dem Niedersten nach der Weltanschauung des Militarismus. Und er kann es nicht hindern. Dieser verachtete Barlamentarismus ist trotz aller Baghaftigkeit, ja Feigheit feiner Vertreter dem Militarismus doch thatsächlich über den Kopf gewachsen, in seinem Lieblingsland, in dem Militär
schämt.
Stellen, die man nicht gerne zeigt, weil man fich ihrer
Feuilleton.
Macbrua verboten.)
Die Laufbahn eines Nihilisten.
Von S. Stepniat.
Autorisirte Uebersehung.
G
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Eine weite Kluft gähnt zwischen dem Geist des Militarismus und dem Geiste der Neuzeit. Keine Brücke, die diese Kluft überspannt. Die Humanität, die Zivilisation gebietet, daß wir den Pfahl des Militarismus aus dem Fleische der modernen Kultur herausreißen. Deutsches Volk! Schaue in die Werkstätte des Militarismus!
Und hier sitzt der Schuldige auf der Anklagebank. Kannst Du schwanken? Nein! Schuldig!"
Nun dente man sich aber den Seelenzustand der Verhafteten, die, ohne sich irgend welcher Schuld bewußt zu sein( wir hoffen weiter zu zeigen, daß es auch keine ga b), auf solche Weise über
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saßen, in Kenntniß feßen, damit sie sich an ihre Posten be- Wenn sie alles recht in's Auge faßten, war es weit geben; während Watajko den Wagen, der ganz bereit stand, besser, den Angriff auf dem Wege vom Gefängniß zu nehmen und schleunigft Wassilij imWirthshause das Signal geben machen. Wenn aber irgend ein Hinderniß dazwischenmußte. Hier waren Menschen, Pferde, Wagen zum sofortigen träte, [ 37 die Straße durch eine Abtheilung Soldaten, Aufbruch bereit. Polizisten, einen Begräbniß oder Hochzeitszug sich im Wenn man die Zeit berechnete, welche das Kleider- fritischen Moment belebte, sollte der Angriff verschoben wechseln, das Durchsuchen und die gebräuchlichen Formali werden, bis die Gefangenen nach dem Gefängniß zurücktäten, bevor man die Gefangenen einer Estorte überlieferte, gebracht wurden. In diesem Falle sollte ein Frontwechsel in Anspruch nahmen, so genügte sie Andrej und Wassilij stattfinden. Der Angriff mußte auf derselben Stelle vor vollkommen, um nach Empfang von Watajko's Botschaft sich gehen, denn auf dem ganzen Wege fand sich fein geden Platz zu erreichen, auf dem sie die Gefangenen erwarten eigneter Plaz vor; Andrej und Wassilij brauchten nur an Frei ins Deutsche übertragen von Bertha Braun. follten. einer anderen Stelle zu warten. Der ganze Stab- die Das Signal, um den ganzen Mechanismus in Be Der Gang zum Gerichtssaale fonnte ungefähr vierzig Wächter und alle anderen- hätten sich nach dem Gerichtswegung zu setzen, sollte vom Gefängniß selbst ausgehen. Minuten in Anspruch nehmen. Nachdem der Gefängnißhof gebäude zu bewegen und eine neue Linie zu bilden, um den Die Gefangenen mußten, bevor sie der Estorte übergeben durchschritten war was ungefähr zwei oder drei Minuten ziemlich ungewissen Weg, den die Eskorte nach dem Gewurden, die Kleider wechseln und wurden im Gefängniß dauerte mußte die Eskorte eine Gaffe betreten, welche fängniß zurücklegen würde zu bewachen, und Anbureau bis auf die Haut durchsucht. Sobald sie nun nach ungefähr eine viertel Meile lang war und zu einer Allee brej das Signal zu geben. Da an diesem Drte unten beordert wurden, sollte Klein, dem dies am leichtesten führte, welche die Vorstädte östlich von der Festung freuzte. leicht eine Verwirrung entstehen fonnte, mußte möglich war, ein Stück blaues Papier in die Ecke seines Zwei Reihen frisch angepflanzter Lindenbäume, welche den Sina in Person am Plaze sein und alles in Ordnung Fensters stecken, welches er, von seinem Stuhle aus, erreichen Bewegungen von Pferd und Wagen nicht hinderlich sein halten. fonnte. würden, zogen sich zu beiden Seiten hin. Längs der Das ganze Arrangement war sehr komplizirt. Alles Jeden Tag, von neun Uhr morgens bis drei Uhr ganzen Allee befand sich keine Polizeiwache, und nur mußte mit der Glattheit und Regelmäßigkeit eines Uhrnachmittags, wurde dieses Fenster, wenn eine Sigung am Ausgange in die Altstadt gab es einige Läden. wertes arbeiten. Das kleinste Hinderniß oder der geringste im Gerichtssaale stattfand, von einem dem Gefängniß gegen- Die Eskorte brauchte faft zwölf Minuten, um Aufschub konnten den ganzen Plan zu nichte machen. über liegenden Hause mit einem Opernglase beobachtet. Diese Allee zu durchschreiten. Man beschloß den Angriff Um sicher zu sein, daß die Maschinerie gut arbeitete, Zwei Freunde hatten sich dort ein Zimmer gemiethet. Wenn hier auszuführen. Der dazu gewählte Ort befand sich wurde Sonntag Morgens, als alles bereit war, eine Probe der eine ermüdet war, nahm der andere seinen Platz ein, fünf. Minuten von der Ecke der Straße entfernt. Eine vorgenommen. Die Rolle der eskortirten Gefangenen überso daß sie das Fenster nicht einen Moment aus den Augen Linie von fünf Wachen, von denen die eine die andere sehen nahmen Duborom und Botcharow. Dieser hatte sich zum konnte, sollte sich vom Gefängnißhose bis zur Allee hin- Scherz ein dickes Stück Tau um die linke Schulter ges Sobald das Signal am Fenster erschien, mußte einer ziehen, um durch besondere Zeichen, von denen jedes seine bunden, um den Gendarmen mit den Schulter der Beobachter zu Watajko, dem Boten eilen, der mit einem Bedeutung hatte, die Angreifer, die bis zum entscheidenden Epauletten ähnlicher zu sein. Die Beiden gingen von der Wache zusammen in einem Wirthshause saß. Der Moment unsichtbar bleiben sollten, vom Herannahen der zur rechten Zeit vom Gefängnißhofe nach dem legte mußte seine Gefährten, welche in einer anderen Schenke Gefangenen zu unterrichten. Gerichtssaale und eine Stunde später zurück; drei Wachen
verloren.