gegen die UnfähihkeiteN unserer eigenen Dip- lomatie!" sErneuteS lebhaftes Hört! hört! Rufe.) Der Artikel schließt mit den Worten:„Wahrhaftig, die französische Politik ist uns weniger feindlich und gefährlich als unsere eigene. Ein Ende! Ein Ende!" Wenn die nationalen Kreise zu solchen Verzweiflungsrufen kommen draußen im Lande, wo man weniger Rücksicht nimmt, als die Herren leider glauben hier nehmen zu müssen, dann darf ich wohl das Fazit der Kanzlerjahre des Fürsten Bülow, das Ergebnis unserer Weltpolitik dahin ziehen: AuS Ostasie«— heraus! Aus dem nahen Orient-- herauS! Aus Marokko — heraus! sSchüchterne Rufe rechts: Heraus?) Nun frage ich mich: Wir haben Milliarden ausgegeben für unsere Flotte, ungeheure Summen ausgegeben für unser Heer, das größte Heer der Welt. Hätten wir all die Blamagen, die wir zu verzeichnen haben, da nicht billiger haben können, als wir sie bezahlt haben?(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Unser offizielles Ver- hältnis ju Frankreich hat sich fortwährend verschlechtert, aber mit umso größerer Genugtuung stelle ich fest, daß sie Verhältnisse der Völker untereinander außerordentlich freundlich und herzlich sind. Sehr drastisch und angenehm ist das vor wenigen Wochen in Erscheinung getreten, als das furchtbare Unglück auf Zeche „Radbod " geschehen war. Da hat das ganze französische Volk herzlichen Anteil genommen an unserem Mißgeschick, genau den- selben Anteil, wie damals die deutschen Bergleute, die nach Courrieres zur Hilfe eilten. Und wie ausgezeichnet benahmen sich die tapferen französischen Proletarier, die den Waffcnrock tragen, in Peking , als das furchtbare Unglück in unserer Gesandt- schaft passierte, als die Munitionskammer explodierte und das Haus in Flammen stand! Da drangen die französischen Soldaten « als erste in daS brennende HauS, setzten Leben und Gesundheit aufs Spiel, um zu retten, was zu retten war. Es ist ein einfacher Akt der Dankbarkeit, wenn wir heute fteudig aussprechen, wie sehr sie durch diese Heldentat Freundschaft und Menschenliebe bekundet haben.(Lebhafter Beifall.) Das wäre ein sehr schönes Bild für die Versöhnung der Völker, wie die deutschen Arlieiter den französischen und die französischen den deutschen zu Hilfe kamen. Abg. Ledebvur ruft: Ein schönes Bild anstelle der französischen Fahne da oben!(Lebhafte Zustimmung links, Unruhe rcchrS.). Unser Verhältnis zu Amerika hat sich verschlechtert durch die Tower-Hill-Affiire. Das ungeschickte Eingreifen von Berlin aus gegen den Botschafter, den Amerika uns schicken wollte, konnte drüben keinen guten Eindruck machen. In England haben die Briefe an Lord Tweesdmouth außerordentlich verstimmend gewirkt, wie später im verschärften Maße die Veröffentlichungen des„Dailv Telegraph". Als der englische Minister Lloyd-George den Versuch machte, mit Deutschland zu einer Verständigung über den Flotten- bau zu kommen, was wir, wie ich im Gegensatz zum Abgeordneten Bassermann glaube, mit Freuden hätten unterstützen können, ist ihm durch die Straßburger Rede des Kaiser? eine strikte Absage erteilt worden. Und dann wundert sich Herr Basscrmann, daß im Londoner Oberhause Lord Roberts die Errichtung eine? stehenden HecreS verlangt? Sind denn derartige Aussprüche für den eng- lischen Politiker nicht ebenso klar verständlich wie für jeden, der die deutsche Politik verfolgt hat?(Sehr wahr! bei den Sozial- demokraten.) Ich bedaure ja, daß England aus solche Gedanken gekommen ist(Zuruf rechts: Na also!), aber ist es denn nicht ganz erklärlich?(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Herr Bassermann hat geklagt über die unberechtigten Rüstungen des Auslandes und so getan, als ob wir Deutschen die reinen Waisen knaben wären. Gibt cS denn aber nicht Hunderte von Alldeutschen , und sind nicht außerhalb dieses Hauses von nationalliberalen Abgeordneten— ich will nicht indiskret sein und nicht gegen einen geschätzten Abgeordneten der bürgerlichen Parteien ausfällig werden— Reden zur Förderung des FlottenbaueS mit Hinblick auf England gehalten werden?(Sehr wahr! bei den Sozial- dcnwkraten.) Deshalb ist die Entrüstung über das Ausland nicht angebracht. Was von deutschen sogenannten Politikern geschehen konnte, um das Ausland zu verletzen, ist geschehen.(Sehr wahr! b. d. Soz.) ES ist ja erfreulich, daß sich die Stimmen auch aus bürgerlichen Kreisen mehren, daß es so nicht weitergehen kann. Zu diesen Kritikern gehört auch ein alter deutscher Diplomat, der Legatwnsrat a. D. vom Rath, der zur fteikonservativen Partei gehört.(Abg. Erzberger ruft: Zur nationalliberalen!) Das ist ja ziemlich dasselb,.!(Oho! bei den Nationalliberalen.) Sie haben keinen Anlaß, nein zu rufen, nachdem Sie sogar die ZeitungSkoalition zwischen der„Nationalzeitung" und der „Post" haben.(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Das ist gehupft wie gesprungen.(Heiterkeit und Beifall bei den Sozial- demokraten.) Herr vom Rath veröffentlichte einen Artikel zur Flottenfrag«: Der Forderung vermehrten Flottenbaus liegt der Leitsatz zugrunde, der eine unbewußte Selbsttäuschung ist, daß jedes Schiff ni e h r eine Vermehrung der Macht des Deutschen Reiches bedeute. Wenn jedes Schiff mehr ein Anlaß ist, daß England, um von Frankreich nicht zu reden, zwei baut, wie steht es dann um die Vermehrung der deutschen Macht? DaS ist doch ein einfaches Rechenexempel. Aber der überwiegende Teil der öffentlichen Meinung ist dank der einseitigen Beeinflussung auf diesen wunder- baren Leitsatz eingeschworen, und wer heute der Massensuggestion gegenüber immun ist und seiner von der Tagcsmeinung abweichen- den Ueberzeugung Ausdruck gibt, wird entweder totgeschwiegen oder als schlechter Patriot denunziert und gegen ihn der sihwcre Vorwurf geschleudert, er besorge die Geschäfte der Gegner Deutschlands . S o schreibt Herr vom Rath, ein Mann, dessen nationale Gesinnung Sie wohl nicht bezweifeln werden; man hat sogar gesagt, daß er in einem besonders engen Verhältnis zu dem Vorsitzenden des ReichsverbandcS zur Bekämpfung der Sozialdemokratie. Herrn von Liebert, stehe. Ihre eigenen Freunde müssen sich also schon, wenn sie eine abweichende Meinung über den Flottenbau zum Ausdruck bringen, dagegen verwahren, nicht antinational gescholten zu werden. Jedes neue Schiff, das Deutschland auf Stapel legt, jede deutsche Schiffstaufrede mehrt die Macht und den Einfluß Englands, nicht Deutschlands. (Lebhafte Zustimmung b. d. Soz.) Auch von Holland wird uns bekannt, daß es ein Abkommen mit England plant. Auch das ist charakteristisch. Das Stamm- land der Buren zieht es vor, in ein engeres Verhältnis mit England zu treten, nicht mit Deutschland , dessen Kaiser sich allerdings gerühmt hat, den Kriegsplan gegen die Buren aus- gearbeitet zu haben.(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Genau so wie die Stimmung der Holländer ist auch die der Buren zu Deutschland . DaS ist besonders interessant, wenn man sich an die Tage erinnert, in denen die Burengenerale hier herumgeführt und mit LiebenSwülrdigkciten überschüttet wurden. Die„Deutsche Tageszeitung" erzählt, daß ein sehr maßvoller und vorsichtiger Beurteiler der Verhältnisse sagt:„Geben wir unS keiner Täuschung hin. wir sind den aftikanischen Schwarzen das verhaßteste Volk der Welt", und daß er auf die Hinzufügung:„Nicht nur bei den Schwarzen, sondern auch bei den anderen Nationen verständnisvoll mit dem Kopfe nickte. Als der Minister M�cryman zu einer mit Buren besetzten Galerie hinauftief:„Oder wollt Ihr vielleicht unter der Herrschaft des deutschen Kaisers leben?", da wurde dies auf der ganzen Galerie mit stürmischer Entrüstung abgelehnt. Auch Rußland ist in ein engeres Verhältnis zu England' ge- treten. Das fit um so merkwürdiger, als wir uns jahrelang be- müht haben, Mußland FreundsckmstSdicnste zu erweisen, die aller- dingS im wesentlichen Polizeidienste waren. Sehr interessant ist eS. daß der englische Premierminister Asquith erklärte, die preußische Polizei leiste der russischen Dienste, wie sie die englische niemals leiste.(Hört! hört! b. d. Soz.) Herr Bassermann hat auch den Dreibund angeführt und die Debatte in der italienischen Kammer, deren Ausgang die Not- wcndigkcit des Dreibundes bewies. Er hätte nur auch die Acutze- rung Giolittis anführen sollen, der erklärt hat, daß Italien nach Ablauf des Dreibundvertrages Annäherung an Rußland , Frcork- reich und England suchen müsse.(Hört! hört! bei den Sozialdemo- traten.) Oesterreich ist sozusagen der letzte Mohikaner unserer Bundesgenossen. Wie lang« kann da? aber dauern? Man darf doch nicht vergessen, daß die Mehrzahl der österreichischen Debölke- rung aus S la ven besteht, und wie behandelt man die Slaven bei uns!(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Die Polen in Preußen hat man unter Ausnahmegesetze der schlimmsten Art gestellt. Man hat ihnen den Gebrauch der Rkuttcrsprache verboten. Ueberhaupt l>at man eine Politik gegen sie betrieben, die ein Mann wie der Gras Häseler im preußiichen Herrenliaus bezeichnet hat als eine Politik„wider die Verfassung und wider das Gc- wissen".(Hört! hört bei den Sozialdemokraten.) Wenn die preußische Regierung die slavischen Völker in Preußen so behandelt. ivenn die ausländischen Arbeiter in Deutschland so behandelt, wenn durch die Bestimmung vom 1. Februar d. I. die ausländischen Arbeiter geradezu unter eine Kontrollsklaverei gestellt werden. wenn zur Ausweisung gegriffen wird entgegen den Handels- und Bündnisverträgen, und wenn man dann hört, s o wie Herr Basser- mann uns erzählte, wie die Deutschen in Böhmen behandelt werden. so sag« ich: das ist ein sehr einseitiges Bild. Herr Bassermann hätte auch schildern müssen, wie die Angehörigen des Auslandes in Preußen und Deutschland behandelt werden.(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Gerade durch die Behandlung der ungari- scheu Arbeiter in Preußen ist die Erbitterung in Oesterreich-Ungarn ganz außerordentlich gestiegen. An eine weitere Folge hat die deutsche Regierung wohl noch gar nicht gedacht. Durch das allgemeine Wahlrecht in Oesterreich ixiben die«lavcn und die Sozialdemokraten dort einen ungeheueren Einfluß bekommen, und beide üben einen Einfluß auch auf die aus- wärtige Politik aus. Glaubt die deutsche Regierung, daß sie darau nicht Rücksicht zu nehmen hat?(Sehr wahr! bei den Sozialdemo- kraten.) Ich will damit mit einigen Worten auf die Exzesse in Prag zu sprechen kommen. Wir Sozialdemokraten sind darin mit Ihnen einig, daß wir diese Vorkommnisse ganz außerordentlich bedauern. Mein Parteigenosse Adler sagte in Wien : Wir Sozialdemokraten sind alle darin einig, sowohl Deutsche wie Tschechen , Slaven ,(Slowenen, daß wir die Exzesse in Prag verurteilen. Aber ebenso einig sind wir darin, daß wir die Exzesse in Deutsch-Böhmen oerurteilen. Mit Rache macht man keine Politik; keine Nation hat noch ihr Recht mit Rache durchgesetzt. Die Ursache jener nationa- listischcn Aeaßcrungen liegt doch darin, daß man das Volk shfte- malisch in Unwissenheit hielt, daß man es politijch nicht aufklärte, so daß eS vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Wäre eS nicht auch angebracht gewescm, daß die deutsche Reichsregierung, als sie vernahm, in welch provokatorischer Weise Studentendeputationcn nach Prag geschickt wurden, um dort ihren Kommilitonen Beistand zu leisten, dieses verhinderte?(Unruhe bei den Nationalliberalen, l Stellen Sie sich doch einmal vor, es kämen an der Universität hier irgend welche Streitigkeiten mit polnischen Studenten vor und die Polen aus Warschau wollten Deputationen hierherschicken, um ihren Kommilitonen zu helfen. Würde das nicht ganz außerordentlich provokatorisch wirken?(Lebhaftes Sehr wahr! bei den Sozial- demokraten.) Es sind auch nicht nur Ausschreitungen gegen die Deutschen begangen, sondern auch die deutschen Studenten in Wien haben in der brutalsten Weise ausländische Studenten be. schimpft und mißhandelt. Ich lege hier einen Artikel auf den Tisch des Hauses nieder, in welchem Sie Berichte finden, daß arme Studenten, die in der dlensn acockemica(akademischer Mittags tisch), wo sie— nicht ganz umsonst>— beköstigt werden, von deutsch - nationalen Studenten in der gemeinsten Weise herausgeschlagen worden find, und als sie riefen;„Wir haben Hunger! Laßt uns doch wnigstenS essen!" rief man ihnen in der gemeinsten Weise zu „Geht nach Serbien ! Aushungern muß man Euch!' (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Wir bedauern die Exzesse in Prag ganz außerordentlich, aber wir haben keinen Anlaß zur Freude, wenn am Tage des KEjährigen RegierungsjubiläumS der Scharfrichter geholt werden muß. Es ist außerordentlich blamabel. wenn das im 20. Jahrhundert noch vorkommen kann. (Am Bundesratstische erleidet Oberstleutnant V. d. Goltz plötzlich einen epileptischen Anfall. Er wird aus dem Saale ge- Abg. Scheidemann(fortfahrend): Ich würde selbstverständlich sofort abbrechen, wenn ich glaubte, daß es sich um einen ernsteren Anfall handelt. ES wird mir aber gesagt, daß eS sich vermutlich nur um einen ganz leichten Anfall handelt. c, m. Noch alledem, namentlich auch im Hinblick auf die Vorkomm nisse in Wien , bei dem etwas vorzeitigen Jubiläum, wo man aichot, deutsche Regimenter hinzuschicken, ein Angebot, das man allerdings dankend ablehnte, st zweifellos der Wunsch berechtigt, oaß etwa» weniger Phantasterei, etwas weniger Ballettmusik, etwas mehr Sinn für praktische ReichSpollt» und reale Wirklichkeit tu unserer Politik herrscht. (ES tritt nochmals eine Pause ein, in der nach dem Abgeord neten Mugdan gerufen wird. Gleichzeitig ertönen Rufe auS dem Hause: D i e S i tz u n g a u S s e tz« n l) ' Präsioent Graf Stolberg: Ich höre, daß eS sich nur um einen vorübergehenden Anfall handelt und daß vereits Besserung ein» getreten ist. Ich bitte den Redner fortzufahren. Abg. Scheidemann(fortfahrend): Man gewinnt den Eindruck. als ob man eine Wiederholung der Aera Mantcnffel hat. Ich will nur wenige Aussprüche von Varnhagen v. Ense zitieren. Am 15. Februar 1845 schrieb er:„Preußen steht ,n Europa ganz isoliert, und ebenso isoliert ist unsere Regierung in Preußen und der König in der Regierung." Am S. September 1851 schrieb er:„Selten mag ein Fürst so allgemein mißachtet, verlacht und verhöhnt gewesen sein. Vornehm und gering sieht ihn als Possenreißer an(Lebhaftes Sehr richtig! bei den Sozial» demokraten). der zwar gefährlich genug ist, an dem man aber doch seine Lustbarkeit hat." Ich breche damit von der auswärtigen Politik ab und wende mich zu den Vorgcingen der inneren Politik In der inneren Politik erleben wir dieselben Ungeheuerlich ketten wie in der auswärtigen.(Sehr rickstig! bei den Sozialdemo- kraten.) Als vor 2 Jahren der Regierung daS Wasser bis an den Hals stand— ich erinnere nur an die Kolonialskandale—, da erfand Fürst Bülow den Block und gewann die Freisinnigen für denselben. Bescheidener als jene Stellensucher, die mehr auf gute Behandlung als auf hohen Lohn sehen(Heiterkeit), rahmen die Freisinnigen zu dem kärglichen Lohn— dem Börsengesetz z. B.— noch eine unter aller Kanone schlechet Behandlung mit in den Kauf.(Heiterkeit. Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Ueber den Fall Schücking will ich hier nicht sprechen. ES gibt noch andere, eigentlich viel charakteristischere Fälle. Da wird ein fresinniger Lehrer gemaßregelt, weil er in einem Arbeiterverein über Säug» lingssterblicbkeit geredet hat.(Heiterkeit und Hört! hört!) Der Lehrer Hansen wird gemaßregelt wegen freisinniger Agitation, ein) anderer Lehrer wegen ungenügenden Patriotismus in einer Kriegervereinsrede, ein dritter, weil et dieser Rede Teifall ge- klatscht hat! Ein freisinniger Lehrer in Kassel , der volksparteilicher Neickistagskandidat in Eschwege -Schmalkalocn war. wird gemäß- regelt, weil er erklärt hat, er wolle in der Stichwahl nicht für den Sozialdemokraten und könne nicht für den Antisemiten stimmen (Hört! hört! links), und ein anderer Lehrer, gleichfalls in Kassel , wird in Geldstrafe genommen, weil er als Vorsitzender einer Ver- sammlung Theodor Barth nicht inS Wort gefallen sei, älS dieser das eventuelle Eintreten von Freisinnigen für Sozialdemokraten bei Stichwahlen empfahl.(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Gegen BlocEblätter wie die„Frankfurter Zeitung wird mit dem Zeugniszwangsverfahren vorgegangen, und in unerhört skandalöser Weise werden gefangene Redakteure mit Netzflechten und Körbe- flechten beschäftigt.(Hört! hört! links.) Ueber Die Eulenburg-Affäre beabsichtige ich mich nicht naher auszulassen. Aber welcher Unter» schied in der Behandlung Eulenburg» und Liebknechts--- mein Freund Liebknecht möge mir verzeihen, daß ich ihn ln einem Atem mit jenem„Edelsten und Besten" nenne!(Stürmisch« Zu- stimmung bei den Sozialdemokraten.) In einem Automobil fährt Fürst Eulenburg nach seinem Schlosse! Ich habe nichts gegen weit- gehende Rücksichtnahme auf Kranke; dann möge sie aber nicht bloß auf Eulenburger genommen werden!(Lebhafter Beifall links.) Ich erinnere an die Ausdrücke, in denen der Fürst Dohna - Schlobittcn von dem Fürsten Eulcnbnrg gesprochen hat, den er „verlogen" und„Kerl" nennt.(Hört! hört!) Und das war das Haupt der Kamarilla! Die Existenz der Kamarilla wurde schon 14 Tage nach dem Regierungsantritt Wilhelms II. bestritten, und die? Dementi ist der ganzen Regierung Wilhelms II. treu geblieben— was aber bekanntlich die Existenz einer Kamarilla nicht gehindert hat.(Sehr gut!) Der Fürst Eulenburg , der nach allgemeiner Auffassung ins Zuchthaus gehörte, fährt in einem Automobil nach Liebenberg . Als aber Liebknecht, den eine höhere Instanz, das Volk, mit der Vertretung seiner Interessen betraut hatte, um Urlaub bittet, da wird ihm daS abgeschlagen und diese Verweigerung„dem" Liebknecht eröffnet!(Stürmisches Hört! hört? bei den Sozialdemokraten.) So behandelt man Eulenburger, und so behandelt man Ehrenmänner!(Lebhafte wiederholte Zu- stimmung bei den Sozialdemokraten.) Im Zusammenhang mit der Eulenburgaffäre ist wieder der Landgerichtsdirektor Schmidt genannt worden. Herr Schmidt soll pensioniert worden sein, weil er Harden freigesprochen hat. DaS ist schlimm genug, aber schlimmer noch ist die neue Version, daß seine Entsetzung darauf zurückzuführen sei, daß er die angebliche Verletzung der Ehre einer Gcneralstochter nicht drakonisch genug geahndet habe.(Lebhaftes Hört! hört!) Ich stelle das fest als einen Beitrag zu dem Lügenkapitel von der sogenannten Unab- hängigkeit unserer deutschen Richter.(Sehr richtig! bei den Sozial- demokraten.) In der Aera der Blockpolitik haben auch die uncr- hörten Polizeispiizeleien immer mehr zugenommen. Eine ganze Anzahl solcher Leute sind in den letzten Jahren entlarvt worden, die sich unter falschem Namen und unter falscher Berufsangabe in sozialdemokratische Vereine eingeschlichen hatten, um dort hcrumzuspitzeln. Erst vor wenigen Tagen wurde ein gewisser William Springer entlarvt, der sogar 70 M. geopfert hatte, um einen Sozialdemokraten zu veranlassen, zum Nürnberger Parteitag zu gehen. Ich habe schon vorhin betont, daß die preußische Polizei Ruß- land gegenüber Sebcrgendienste leistet und will dafür noch einen besonders krassen Fall vortragen, der Ihnen nicht bekannt sein wird. Ein Deutscher, namens Biedermann, wollte, wie das viel- fach üblich sein soll, mit einem gefälschten Patz über die russisch - deutsche Grenze, um in Warschau Geschäfte zu machen. ES handelt sich dabei nicht etwa um einen Sozialdemokraten, sondern um einen echten, gutbürgerlich nationalen Mann. Die Polizei an der russi- scheu Grenze hält den Mann fest und sagt ihm folgendes: Sie haben einen falschen Paß, eS ist nämlich ein preußischer Polizist hinter Ihnen hergereist und hat uns das denunziert. Aber wir geben nichts darauf, reisen Sie ruhig nach Warschau mit dem falschen Paß.— Was sagen Sie dazu, daß die preußische Polizei es für ihre Aufgabe ansieht, hinter preußischen Staatsangehörigen her- zulaufen und sie der russischen Polizei zu denunzieren?(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Vor ein paar Jahren war es anders. Da hat die Berliner Polizei von einem russischen Staats- angehörigen, der hier lebte, verlangt, er solle nach lliußland und dort Spwnage treiben, und diesem russtschen Staatsangehörigen hat die preußische Polizei einen gefälschten Paß ausgehändigt, worin sie ihn. der Jude ist. noch schnell zum Christen machte. (Hört! hört! b. d. Soz.) Eine Behörde, die mit derartigen Mitteln arbeitet, verdient ebensowenig Vertrauen, wie die ganze Aera Bülow.(Sehr wahr! b. d. Soz.). Von den sozialpolitischen Fragen will ich heute nicht sprechen. Ich will nur feststellen, daß in der Aera des Herrn v. Bethmann» Hollweg wieder Tendenzen die Oberhand gewinnen, von denen wir alle wünschen müßten, daß sie endlich überwunden wären. Wir Kaden gesehen, wie der Zentralverband deutscher Industrieller das Eintreten des Herrn v. Bethmann-Hollweg als Nachfolger des Grafen Posadowsky mit[ M reuden begrüßt hat, daß er mit Genug- tuung festgestellt hat. daß die Fühlung zwischen ihm und dem Reichs- amt des Innern wieder hergestellt sei.(Hört! hört! b. d. Soz.) Ich will nur fragen, wie es mit der so oft angekündigten Reform der Krankenversicherung steht. Hat die Regierung, ebenso wie der Scharfmacher Menck-Altona, erkannt, daß alle die Behauptungen, die Sozialdemokraten mißbrauchten die Krankenkassen zu politischen Zwecken, unwahr sind? Ich möchte wünschen, daß das Reichsamt des Innern einen stenographischen Bericht übey die Verhandlungen herausgibt, die vor wenigen Wochen stattgefunden haben, damit man sehen kann, wie die ganze Geschichte laufen soll. Der uns jetzt vorgelegte Entwurf über die Arbeitskammern entspricht lange nicht einmal dem, waZ in den Jebruarerlassen angekündigt worden ist. sondern bleibt weit dahinter zurück.— Was unter der Aera des Herrn v. Bethmann-Hollweg in bezug auf das Vereins- und Versammlungsrecht geleistet worden ist, brauche ich heute nicht zu erörtern, weil wir eine Interpellation darüber eingebracht haben, die hoffentlich recht bald zur Verhand- lung kommt. Nur hinweisen möchte ich noch auf die zunehmende Brutalität, die sich in Untcrnehmcrkreisen gegenüber den Arbeiter- Organisationen geltend macht. Seit Jahren haben die Unternehmer nickst so wie in der letzten Zeit gegenüber den Arbeitern den Herrn im Haus« herausgekehrt. Die Zahl der Maßregelungen ist außerordentlich gestiegen, die schwarzen Listen werden in kaum glaublicher Weise gehandhabt, und was besonders charakteristisch ist, man fängt auch an, deck sogenannten neuen Mittelstand zu drangsalieren. Was in Augsburg vorgekommen ist, beweist, daß das, was unsere großen Theoretiker vorher gesagt haben, völlig zutrifft: daß der Kapitalismus nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch die Gebildeten, die Wissenschaftler und Techniker degradiert. Die Notwendigkeit der Organisation haben diese Herren jetzt ein- gesehen, und wir wünschen ihnen den besten Erfolg. Wir haben nur den Wunsch, daß sie ebenso rasch auch ihre Rolle im modernen Produktwnkprozeß erkennen und sehen mögen, daß sie, wie die Arbeiter, nur Lohnsklaven und ebensowenig wie die Arbeiter an dem Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaft interessiert 'ind.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Eins muß ich noch erwähnen: die Art und Weise, wie Fürst Bülow die Wahlrcchtsfrage behandelt hat. Seinerzeit hat er erklärt, daS allgemeine, gleiche, ichcime Wahlrecht vertrage sich nicht mit dem StaatSwohl. Nichts- »estowenigcr hat später in der Thronrede der König von Preußen gesagt: Es ist mein Wille, die auf Grundlage der Verfassung er- lassencn Vorschriften über daS Wahlrecht organisch weitcrzn- lilden in einer Weise, die der wirtschaftlichen Entwickclung, der Ausbreitung der Bildung und der Erstarkung des staatlichen Ver- antlvortlichkeitSgcfühls, entspricht. Diese Thronrede mit der„Er- tarkung des staatlichen VercmtwortlichkcitsgefühlS" hat Fürst Bülow dem König von Preußen allerdings einige Wochen früher übergeben, als er das Kaiscr-Jntcrvicw nicht las.(Heiterkeit.) Die Thronrede nennt die Wah.'rechtSfrage eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Damit ist doch alles gerechtfertigt, was von unserer Seite schon seit langem gesagt worden ist. Zweifellos ind wir Sozialdemokraten, was das staatliche Verantwortlichkeits- lefühl anlangt, viel früher aufgestanden, als die Regierung des Reiches und Preußens.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Wenn die Regierung sich vorher hätte mit uns einigen wollen. wenn sie ftüher erkannt hätte, wie notwendig und dringlich die Wahlreform ist, hätten sich die Arbeiter die Straßendcmonstrationen paren können, die sie nur gemacht haben, um das der Regierung auch auf der Straße wuchtig zum Ausdruck zu bringen.(Schi- wahr! bei den Sozialdemokraten.) Aber wie versteht nun Fürst Bülow diese Wichtigkeit und Dringlichkeit, von der die Thronrede sprach? Am S. Oktober erklärte die„Nordd. Allgem. Ztg.". daß die statistischen Erhebungen Ende 1909 abgeschlossen sein würde»
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