— näher und näher hat sich scitdein das stetig wachsende Heer der Hauptstadt geschoben. In Konstantinopcl aber wird immer noch nichts bemerkt, was auf die Orgaitisicruiig bc- Waffnetcn Widerstandes deutet. Es ist offenbar, dag die Gegenrevolution nicht die Kraft dazu besitzt. Die Truppen der Hauptstadt sind demoralisiert und soweit sie nicht demoralisiert sind, ist ihre Stimmung zw gunstcn der Jungtürken umgeschlagen. Das wird wenigstens von den vielgenannten Salonikicr Jägern berichtet. In der Geistlichkeit soll sich ein ähnlicher Prozeh vollzogen haben, ob aus Furcht vor den herannahenden Rächern, ist nicht zu erkennen. In der Kammer gab es Anzeichen. dah ein Teil der Mitglieder sich danach sehnt, die Komitcetruppen einmarschieren zu sehen, da er sich offenbar unter den jetzigen Zuständen seines Lebens nicht für sicher hält, sobald er seine wahre Gesinnung kundgibt. Der Sultan fürchtet für Thron und Leben, und er weih wohl, weshalb. Versuche, mit dem jnngtürkischen Komitee direkt zu verhandeln, sind vom Iildis-Palais unternommen worden und haben keinen Erfolg gehabt. Die Jungtürken scheinen entschlossen zu sein, die Situation bis aufs äußerste auszu- nützen und sich ihres verschlagenen Feindes Abdul Hamid , der sich niemals ehrlich mit der Verfassung abfinden wird, end- gültig zu entledigen— auf die eine oder andere Weise. Es werden zahlreiche Aussprüche von führenden Jungtürken be- richtet, die diese Absicht sehr deutlich zu erkennen geben, in denen zum Teil direkt der Tod des Sultans gefordert wird. Ob diese Aussprüche nun beglaubigt sind oder nicht und ob sie nur die Ansichten einzelner oder die Entschlüsse des jung- türkischen Komitees wiedergeben, jedenfalls sind es charakte- ristische Merkmale der Stimmung. In Konstantinopel ist man sich über diese Stimmung keineswegs im unklaren. Das bezeugt der Umstand, dah Gerüchte umlaufen von der un- mittelbar bevorstehenden Abdankung des Sultans, ja von der bereits bewerkstelligten Flucht des Herrschers. Was daran Wahres ist, steht dahin. Jedenfalls verstärkt sich von Stunde zu Stunde der Eindruck, dah die Jungtürken in Konstanti- nopel einziehen werden, ohne nennenswerten Widerstand zu finden, dah die zum größten Teil führerlosen Soldaten der Konstantinopeler Garnison — die europäisch gebildeten Offiziere sollen sämtlich geflohen bezw. zu der Armee der Jungtürken übergegangen sein, da sie ihres Lebens bei den Meuterern nicht sicher waren— nicht die moralische Kraft aufbringen werden, um deni Eindringen der jungtürkischen Armee planmäßigen, organisierten Widerstand entgegenzu- setzen. In wenigen Stunden schon kann der Zusammenbruch der Reaktion und das Schicksal Adul Hamids entschieden sein. Auch aus Kleinasien wird, wie es scheint, dem Sultan vorerst keine Hilfe komnien. Die Nachrichten sagen, daß der größte Teil der kleinasiatischen Streitkräfte auf Seiten der Jungtürken stehe. Wahrscheinlich trifft das nur auf das Offizierkorps zu— jedenfalls haben die Ossiziere aber bislang die Mannschaften in ihrem Bann halten können. Ob diese Gewalt standhalten wird, wenn der Sultan durch die Sieger gefangen genommen oder zur Flucht ge- trieben wird, das läßt sich heute noch nicht beurteilen. Denk- bar wäre es, daß solcher Vorgang den Einfluß der reak- tionären Geistlichkeit bei den gläubigen Truppen wieder in die Höhe schnellen ließe.— Die Armeniermetzeleien haben sich auf mehrere Ortschaften ausgedehnt. Doch scheint ihr Verbreitungsgebiet immerhin relativ beschränkt geblieben zu sein. Bulgariens Negierung hält sich bis jetzt noch zurück— me Presse lärmt dafür um so lauter und fordert sofortigen Einmarsch in Mazedonien . Mancherlei Zeichen deuten darauf hin, daß die Regierung insgeheim den Einmarsch vorbereitet. Ob die Bulgaren das Land so offen finden werden, wie sie vermeinen, rst indes zweifelhaft. Für die Niederzwingung der Reaktion in Konstantinopel dürften die 30 000 Mann. die am Montagabend vor den Toren der Stadt versammelt sein sollten, genügend Dann verblieben noch nicht unbedeutende Kräfte zum Schutz Mazedoniens . Der Traum von einem Grohbulgarien ist nicht so bald verwirklicht. Die wesentlichsten Telegramme vom Tage sind die folgenden: Die Lage in Konstantinopel . Konstantinopel , IS. April. Die Garnison der Stadt trifft keinerlei Vorbereitungen zum Wider st and gegen die vorrückenden mazedonischen Truppen, abgesehen davon, daß gestern zwei Abteilungen Artillerie den glildiz bezogen haben. Es verlautet, zu den von den an- rückenden Truppen gestellten Bedingungen ge- höre auch die Auslieferung des vierten Salonikter Jägerbataillons, von dem der Aufstand ausgegangen sei, sowie mehrerer politischer Führer. Viele Offiziere sind gestern in bürgerlicher Kleidung in Konstantinopel gewesen und haben sich abends mit der Bahn zu den Truppen zurück- begeben. Konstantinopel , IS. April, ILzh Uhr vormittags. ES verlautet, daß die mazedonischen Truppen zurzeit langsam gegen die Haupt st adt vorrücken und möglicherweise noch im Laufe der Nacht einziehen werden. Die Truppen verlangen, wie es heißt, die Absetzung des Sultans. Die Offiziere sollen drohende Telegramme an den Sultan gerichtet haben. D i e S t i m- mung der Haupt st ädtischen Truppen ist sehr niedergeschlagen, sie bereuen ihr Vorgehen und werden vermutlich dem Einzug der mazedonischen Truppen keinen Widerstand entgegensetzen. Die Stärke der vor Konstanti» nopel befindlichen mazedonischen Truppen soll gegenwärtig 20000 Mann betragen, ihre Zahl dürfte bis Tagesanbruch 30 000 er- reichen, da alle halbe Stunde neue Truppentransporte eintreffen. Konstantiaopel, 19. April. S Uhr 20 Minuten vormittags.(Von unserem Privatkorrespondenten.) Die Stadtiftruhig.die m der Umgebung stehenden Truppen sind bis jetzt nicht einmarschiert. Die Umgebung des Dildiz bietet das gewöhnliche Bild. Konstantinopel , 10. April morgens. Es zeigt sich immer mehr, wie sehr das Gardekorps demoralisiert und un- fähig zum Wider stand ist. Man glaubt deshalb nicht, daß die Armeeleitung in Konstantinopel eS wagen wird, mit diesen Truppen den Kampf gegen die Salonikier aufzunehmen. Die jungtürkischen Offiziere sind aufs tiefste gegen den Sultan erbittert, der seinen Eid auf die Verfassung zwar nicht formell, aber doch tatsächlich gebrochen und dadurch die Offi» ziere ihres Eides entbunden habe. Der Sultan und seine Berater scheinen gänzlich ratlos. Wien , 10. April. Nach einer Extra-Ausgabe der»Neuen Freien Presse'* wird in Konstantinopel eine Proklamation vor- bereitet, welche sich auf den Verzicht Abdul Hamids ans den Thron und den Uebergang des Throne? an Reschad Essend! beziehen soll. Paris , 19. April. Noch einer Meldung der«Agence HavaS" geht in Konstantinopel das Gerücht, der Sultan sei geflohen. Konstantinopcl, 19. April. (Meldung der Agence HavaS.) Die Kammer verhandelte heute in geheimer Sitzung über die Frage, ob sie die Haichtsiadt verlassen und sich unter den Schub der von Saloniki anrückenden Truppen stellen solle. Koitstantinopel, 19. April.(Meldung des Wiener K. K. Tele- graphcn-Korresp.-Bureaus.) Die Erkenntnis der kritischen Situation und die Furcht vor den kommenden Ereignissen beginnt in der hiesigen türkischen Bevölkerung großen Zorn gegen die mohammedanische Geistlichkeit, die am Dienstag die Ereignisse provoziert hat. sowie gegen die Anstifter derselben hervorzurufen, wodurch das Vorgehen der Salonikier und Adrianopeler Truppen erleichtert werden dürfte. Viele Ulemas scheinen gleichfalls zu der Erkenntnis gekommen zu fein, daß die Umwälzung am Diens» tag ein großer Fehler gewesen sei; sie beginnen damit die Ber. antwortung von sich abzuschütteln und auf die moralischen Urheber zu schieben. Die geänderte Stimmung dürfte einen eventuellen Wechsel fördern. Von der verführten Garnison scheinen die Salonilier Jäger fast einmütig das Geschehene zu bedauern; sie dürften sich den Salonikier und Adrianopler Truppen anschließen. Auch in anderen Truppenteilen tauchen derartige Stimmungen auf, dagegen herrscht unter der Mannschaft der Marine Disziplinlosigkeit und Anarchie vor. Wie verlautet, wurden Hodschas nach Tschataldscha gesandt, die den Versuch machen sollen, die eingetroffenen Truppen zu über- reden. Die Hodschas wurden jedoch erkannt, durchgeprügelt und weggejagt, einzelne wurden gefangen genommen. Die vorrückenden Salonikier und Adrianopler Truppen haben strengen Befehl er- halten, die Bevölkerung, besonders die Christen und Fremden, gut zu behandeln. Sie zeigen tatsächlich gute Mannszucht, die Zivi- listen, die mit der Vorhut der vorrückenden Truppen zusammen- kamen, wurden gebeten, die hiesige Bevölkerung dahin zu beruhigen, daß sie absolut nichts zu befürchten habe. Konstantinopcl» 10. April. (Meldung de? Wiener k. k. Korr.- vurcaus.) Der Großwcsir ist heute wiederholt in den Aildiz- Palast gerufen worden. Wie verkantet, steht der Dildiz in regem Dcpeschenwechsel mit dem Salonikier jung- türkischen Komitee. Abgesandte aus dem U i l d i z, wahrscheinlich ein kaiserlicher Prinz und der Scheik nel Islam, sollen, s« heißt cS ferner, zu den vorrückenden Truppen entsandt werden. Der Anmarsch der Jungtürken . Konstantinrpel, 10. April. Die 1000 Mann starke Avant- garde mit drei Batterien und einem Dctachement Kavallerie ist nachts auf der Chaussee von Kütschük-Tschekmadje vor- gerückt und hat die Höhen von Daud-Pascha und R a m i» Tschiflik oberhalb von Ejub am Goldenen Horn besetzt. ES beherrscht von dort den größten Teil von Kon- stantinopel. Die Konzentration des 2. und 3. Armeekorps funktioniert gleich einer Präzisionsmaschine. Daß die Armee vor Tschataldscha über genügend Lebensmittel verfügt, geht daraus hervor, daß zwei Waggons Ochsen bulgarischer Provenienz un- gehindert hierher durchgelassen wurden. Saloniki, 10. April. Das Komitee soll ein Telegramm des Ge» schwaders aus dem Aegäischen Meere erhalten haben, wonach da» Geschwader treu zum Komitee halten will. Die Deputation des Parlaments bei den jungtürkischen Truppen. Konstantinopel , 19. April. Die aus 81 Mitgliedern bestehende Kommission der Abgeordnetenkammer in Tschataldscha wurde von folgenden Offizieren empfangen: Major Niasim Bei, Hauptmann Niasim, Major Mukthar Bei und Abdul-Kader Effendi. Die Offiziere fragten die Deputation:„Sind die Parla- mentarier frei in ihrer Meinungsäußerung?" Daraus antworteten 17 Abgeordnete mit Ja, 14 mit Nein. Zweite Frage:„Droht dem Parlament Gefahr?" Antwort: 16 Nein, IS Ja. Weitere Fragen:„Sollen die Truppen nach Saloniki zu» rückkehren?" Antwort: Fast einstimmig Nein. „Sollen sie nach Konstantinopel marschieren?" 27 Nein, 4 Ja. „Sollen sie in Tschataldscha bleiben?" 27 Ja, 4 Nein. Insgeheim aber rieten alle Abgeordneten zum Marsch nach Konstantinopel.(„Berl. Tgbl.".), Die Lage in Mazedonien . ' Köln , 19. April. Der„Kölnischen Zeitung " wird aus Nesküb unterm 18. d. M. telegraphiert: Das Vertrauen zum Sultan ist in allen Kreisen, auch bei den Albanesen, erloschen. Die hervor» ragendstcn Albanesenführer, auch Seladin Aga, Ismail Chan aus Prizrend, Issel und Ali aus Djakowa sind sämtlich zu einer Be- ratung mit dem Komitee für Einheit und Fortschritt zusammengetreten, dessen Vorgehen sie billigen. Die Be- völkerung sieht dem Erfolge des militärischen Vorgehens mit der größten Spannung entgegen. Heute abend hier ein- getroffene Depeschen Mahmud Schewkets, daß seine Truppen die Linie der Forts von Tschataldscha überschritten haben, erweckten eine freudige Begeisterung. Volk und Militär sind in bester Stim- mung. Alle billigen das flotte Vorgehen der Jungtürken in dem Gedanken, daß ein Abwarten die Rückkehr des früheren Regimes nach sich gezogen hätte. Albanien ist völlig ruhig. Die Nachrichten über dortige Aufstände sind unwahr. Auch hier ist vorläufig Ruhe. Saloniki, 19. April. Die militärischen Maßnahmen dauern programmäßig fort. Die Bahngesellschaft Saloniki— Kon- stantinopel wurde veranlaßt, weitere Maschinen und weiteres Per- sonal zu besorgen, um den durch die Truppentransporte entstehen- den Anforderungen zu genügen. Der Wali von Saloniki teilte dem Großwesier mit, daß er seine Befehle nicht mehr anerkenne und die Beziehungen abbreche. TaS Komitee fordert die Auslieferung ber Hauptleiter der Konstantinopler Bewegung. Die von Konstantinopel geflüch- teten j u n g t ü r k i s ch en Deputierten Nazim Bey und Gran B e h sind von Smyrna hier angekommen. Sie klären die Menge über die Lage in der Hauptstadt auf und erhoben schwereAnklagengegendiedortigenMacht haber. DaS Komitee müsse seine Aufgabe bis zu Ende führe«. Die Menge antwortete zustimmend. Die Tatsache, daß das zweiteArmeekorps(Adrianopel ) sich dem Marsche nach Konstantinopel an- geschlossen hat, hat hier sehr beruhigt. Auch daS vierte Korps(Hauptquartier Erfinghian im östlichen Kleinasien ) erklärte sich bereit, den Marsch gegen die Hauptstadt anzutreten. Nur die Haltung der Truppen des fünften Korps(Damaskus ) flößt Be- denken ein. Jedoch sind Maßnahmen getroffen, um den Vorstoß desselben, falls er erfolgen sollte, aufzuhalten. Die Flotte der Dardanellen und die vor Smyrna liegenden Kriegsschiffe ber- sicherten dem Komitee ihre Treue. Die Lage in Kleinasie«. Konftantinopel, 17. April. Die Nachrichten über die jüngsten Ereignisse haben in Erzerum und Trapezunt die größte Erregung hervorgerufen und stürmische Kundgebungen veranlaßt. ES wurden verschiedene Beschlüsse gefaßt, die ein militärisches Eingreifen gegen Konstantinopcl fordern. Aus Trapezunt werden auch gegen den Sultan gerichtete Kundgebungen gemeldet. Konstantinopcl, 18. April. Nach einer Meldung aus T r a p e- zunt sollen dort 4000 Freiwillige und in Erzingjan 15 000 Mann zum Abmarsch gegen Konstantinopel bereitstehen. Saloniki, 19. April. Von Erzerum sollen zwei Bataillone abgegangen sein, um zu den Komiteetruppen vor Konstantinopel zu stoßen. Paris , 19. April. Wie aus Konstantinopcl berichtet wird, er- hielt eine der dortigen Botschaften sichere Meldung, daß, den Wali von Konto ausgenommen, alle kleinasiattschen Zivil- verwaltungschefsmitdenSalontkternsympathi- s i e r e n und die Weisungen des Großwesirs Tcwfik unbeachtet lassen. Mehrere Salonikier höhere Offiziere werden in Klein- asien erwartet, um den dortigen Militärchefs geheime Orders zu übermitteln.(»Tag".) Sie hessische Sahleechttreforci. Die hessische Regierung hat aus dem Auftreten der vom Frei- Herrn v. Hehl geführten Ersten Kammer keine Lehren gezogen, son- dern wieder eine Wahlrechtsvorlage eingebracht, die die Einführung des direkten Wahlrechts von der Gewährung größerer verfassungsmäßiger Rechte an die„Herren" abhängig macht. Die neue Wahlrechtsvorlage ist die vierte. Sie hält sich im wesentlichen im Nahmen ihrer Vorgängerin. Die Re- gierung hat sich dem Verlangen der Ersten Kammer angeschlossen und als Konipensation für das direkte Wahlrecht wie auch als Gegengift gegen etwaige»radikale" Anwadlungen der Volks- Vertretung«ine Vermehrung der Vorrechte der Privilegierten verlangt. Zunächst soll das Budgetrecht der Ersten Kammer erweitert werden. Gegenwärtig kann diese nämlich das Budget nur im Ganzen annehmen oder ablehnen. Einzelne Kapitel zu be- anstanden, ist ihr nicht gestattet. Im Falle der Ablehnung des Budgets durch die Erste Kammer findet dann eine sogen..Durchstimmung" beider Kammern statt, wobei die Herren als die numerisch schwächeren der Bollsvertretung natürlich nicht gewachsen sind. Zudem ist es für die »Durchlaucht" und»Erlaucht' nichts angenehmes, ein Budget, das auch die Zivilliste enthält, einfach ablehnen zu müssen. Die neue Vorlage gestattet nun der Ersten Kammer, eventuell auch einzelne Budgetposten zu beanstanden. Die beanstandeten Kapitel sollen dann an die Zweite Kammer zurückgehen. Veharrt diese trotzdem aus ihrem Beschlüsse, so werden die Kapitel nach der Fassung der Zweiten Kammer in das Budget eingestellt und dann findet eine Durch- stimmung beider Kammern statt. Ein weit größeres Zugeständnis wird aber ber Ersten Kammer auf Kosten ber Volksvertretung gemacht durch Aenderung des Artikels 7ö der Verfassung, der die Gesetzgebung(Steuer- gesetze usw.) regelt. Dieser Artikel soll folgende Fassung erhalten: »Wenn auch nur eine Kammer gegen einen GesetzeSvorschlag stimmt, so bleibt das Gesetz ausgesetzt. Wird aber ein solches Gesetz auf dem nächsten Landtage von der Regierung den Ständen wieder vorgelegt und wieder von der einen Kammer abgelehnt, von der anderen aber angenommen, so kann die Regierung vcr- langen, daß in einer Versammlung der beiden Kammern unter dem Vorfitze des Präsidenten der Ersten Kammer über die Gesetzesvorlage beraten und abgestimmt wird. Zur An- nähme des Gesetzes find zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erforderlich." Bisher war die einfache Mehrheit entscheidend. Der Schwer- punlt ber Gesetzgebung wird also zugunsten der Ersten Kammer ver- schoben. Mit ihren 34 Mitgliedern gegen die 50 Mitglieder der Zweiten Kammer kann die Erste Kammer nach der Vorlage jedes Gesetz, da» ihr nicht genehm ist, verhindern. Der Zweiten Kammer dagegen ist die Möglichleit genommen, ein Gesetz gegen die Erste Kammer durchzusetzen. Im Wahlgesetz ist ferner eine Erhöhung der Zahl der Ab- geordneten der Zweiten Kanuuer von 50 auf 58 vorgesehen. Die Städte Mainz , Darmstadt , Worms , Offenbach und Gießen , von denen die beiden ersteren bisher zwei Abgeordnete, die drei übrigen je einen Abgeordneten wählten, erhalten nach der Regierungsvorlage je einen Abgeordneten mehr. Außerdem wird in jeder der drei Provinzen ein weiterer ländlicher Wahlkreis geschaffen. Stichwahl findet nicht statt. Als Abgeordneter soll derjenige Kandidat gelten, der in einem Wahlkreise mehr als die Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen erhält. Ergibt sich keine Mehrheit. so ist ein zweiter W a h l g a n g notwendig, an dem wieder alle Kandidaten des ersten Wahlganges teilnehmen können; im zweiten Wahlgange entscheidet dann die relative Mehrheit. Wie bisher sollen die Abgeordneten der Zweiten Kammer auf sechs Jahre gewählt werden. Alle drei Jahre scheidet die Hälfte aus. Von der Einführung der Verhältniswahl in Städten hat der Regierungsentwurf abgesehen. An Stelle des WahlmännersystemS tritt die direkte Wahl. Für die Wahlhandlung gelten im wesentlichen dieselben Be- stimmungen wie bei der ReichStagSwahl(WahlluvertS usw.). Wahlberechtigt find alle Personen männlichen Geschlecht?, die zur Zeit der Wahl das 25. Lebensjahr vollendet haben, wenigstens drei Jahre in, Großherzogtum wohnen, seit drei Jahren die hessische Staatsangehörigkeit besitzen und seit dem Beginn des Rechnungsjahres, in dem die Wahl vorgenommen wird, zu einer direkten Staats- und Geineiaiesteucr herangezogen sind. Nach dem alten Wahlgesetz kann jemand, der 25 Jahre alt ist, drei Jahre im Lande wohnt und die hessische Staatsangchörig- keit erwirbt, wählen. Das neue Gesetz bedeutet also insofern eine Erschwerung, als er jetzt seit mindestens drei Jahren die Staatsangehörigkeit besitzen muß. Ferner genügt eS nach dem bestehenden Wahlgesetz, wenn Staats- oder Gemeindesteuer bezahlt wird; das neue Wahlgesetz fordert hingegen die Zahlung beider Steuerarten. Der Ersten Kammer will die Vorlage frisches Blut zu- führen. Die Privilegiertenkammer besteht seither aus 17„Standes- Herren", 12 vom Großherzog zu ernennenden„ausgezeichneten Staats- bürgern", einem Vertreter der LandeSunivcrsität Gießen und je einem Vertreter der evangelischen und katholischen Landeskirche. Nach der Regierungsvorlage soll die Erste Kammer eine Vermehrung um 6 Mitglieder erfahren und zwar eine» Vertreter der technischen Hoch- schule in Darmstadt , zwei Vertreter des Handels und der Industrie, zwei Vertreter der Landwirtschaft und einen Bertreter des Hand- werlS. Die Berufung dieser neuen Bertreter erfolgt durch den Großherzog, jedoch nur immer auf die Dauer einer Landtagsperiode. Handels-, Handwerks- und LandlvirtschaftSkammcr haben das BorschlagSrccht. Arbeiter werden als ungeeignet für die Erste Kammer gehalten. Der Vorlage ist eine WahlkreiSeinteilung beigegeben, die in ganz besonderem Maße auf die Wünsche und Interessen der Agrarier zugeschnitten ist. Abgesehen von drei privilegierten Land- städtchen, in denen auf zirka 4500 Wähler ein Abgeordneter kommt. plant die Regierung die Schaffung verschiedener rein ländlicher Kreise mit zirka 16000 Wählern; während z. B. in Mainz erst aus 35000 Wähler ein Abgeordneter kommt.
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