Abg. Hue: Ich habe gesagt, die BundesratZverordnung sei eineVerhöhnung des Reichstages. �Präsident Graf Stolberg: Dasist dasselbe.) �Heiterkeit.) Fest steht jedenfalls, daß diese Bundes-ratsverordnung nicht im entferntesten dem entspricht, was der Reichs-tag seinerzeit beschlossen hat. Wir müssen das um so mehr feststellen,da die Unternehmer sie so schikanös ausführen, daß die Arbeiterdarüber empört sind. Also so behandelt man Arbeiterforderungen,wenn man auf die Unternehmer stets Rücksicht nimmt.(LebhasteZustimmung bei den Sozialdemokraten.)Staatssekretär v. Bethmann-Hollweg:Auf das, was der Abg. Hue über die Finanzreform, die Reichs-bersicherungsordnung, den Block und die Auflösung des Reichstagesgesagt hat, gehe ich nicht ein.(Heiterkeit rechts.) In großer Breitehat er mit einer Sicherheit, um die ich ihn beinahe beneide, betont,es sei alles grundfalsch, was ich über die Entstehung der sozial-politischen Gesetzgebung gesagt habe. Wozu diese Uebertreibung?Ich habe nie bestritten, daß auch Arbeiter mit zuden ersten Trägern unserer Sozialgesetzgebung gehört haben.Der Abgeordnete Hue fragte mich, weshalb ich diese Pensions-lassen nicht gesetzlich regeln will, wo es doch bei den Knapp-schaftskassen geschähe. Vergißt denn Herr Hue ganz, daß dieKnappschaftskassen Zwangs institute sind, während es sich bei denPensionskassen um freiwillige Einrichtungen handelt? FreiwilligeInstitute aber kann man nicht dem Zivange der Gesetzgebung unterwerfen.lZuruf bei den Sozialdemokraten: Es sind keine freiwilligenInstitute?) Wenn Sie diesen Unterschied immer wieder verwischen,dann ist keine Verständigung möglich. Für die Verwaltung derKassen nach der gesetzlichen Regelung verlangte der Abg. Severing,daß den Arbeitern der ausschlaggebende Einfluß eingeräumtwird.(Hört! hörtl rechts.) Gewiß, man kann das ver-langen. Aber man glaube dann nicht, daß die Arbeit-geber besonders freudig an die Gründung solcher Kassenherangehen werden. Man sollte sich streng davor hüten, in einemMoment, wo Reichsfinanzreform und Reichsversicherungsordnung derIndustrie neue Lasten auferlegen, dürfen wir nicht dazu übergehen,durch die Ankündigung der Errichtung von Zwangskassen nichtrealisierbare Hoffnungen wecken, die in Forderungen auswachsen.und auf der anderen Seite neue berechtigte Unruhe erregen. A u fdiesen Weg wird die Reichsregierung nie treten.Man soll nicht alles auf den bösen Bundesrat schieben.Der Bundesrat muß mit Vorsicht vorgehen. Hätte erdas nicht getan, wohin wären wir gekommen!(Sehr wahr!rechts.) Andererseits sollte auch Herr Hue nicht verkennen, daß wirnicht bei der Negasion stehen geblieben find, sondern eminent positivgearbeitet haben.(Sehr richtig! rechts.) Vergesse man auch nicht,daß die Penstonskaffen heute schon einen großen Teil der Verbeffe-rungsvorschläge aus sich durchgeführt haben. Freiwillig ge-schieht das viel besser als auf dem Wege des Zwanges.(Sehrrichtig l rechts.) Man sollte sich davor hüten, an die Arbeitgeberunmögliche Forderungen zu stellen.(Bravo! rechts.)Abg. Severing(Soz.): Ich habe niemals gefordert, daß denArbeitern das ausschließliche Recht auf die Kassen übertragen werdensoll. Ich habe nur gefordert möglichste Selbstverwaltung der Kassenund gleiche Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitern in den Ver-waltungsorganen. Allerdings habe ich als Voraussetzung gefordert,daß die Aroeitgeber auch die gleichen Leistungen zu den Kassen bei'tragei«.Damit schließt die Besprechung.— Nächste Sitzung: Mittwoch3 Uhr.(Viehseuchengesetz, Zivilprozeßordnung, Beamteuhaftung,kleinere Vorlagen.)Schluß 0'/« Uhr._Hbgcordmtenbaud*79. Sitzung, Dienstag, den 4. Mai, mittags 12 Uhr.V Die zweite Beratung des KultuSetatS wird fortgesetztbeim Kapitel„Höhere Lehranstalten".Abg. Eickhoff(fr. Vp.): Die deutsche Romreise wird den de-treffenden Schülern zweifellos für ihm ganzes Leben eine der-wertvollsten Erinnerungen sein. Der Resolution des Herrenhausesauf Aufhebung der Pflichtstunden der Lehrer an den höheren Lehr-anstalten wird die Unterrichtsverwaltung hoffentlich nicht statt-geben. Bei der Reifeprüfung sollten mehr Kompensationen schlechtter Fächer durch gute zugelassen werden. Die Erfahrungen mitden Kurzstunden von 45 oder 40 Minuten lauten erfreulicherweisesehr günstig. Auch in den kleinen und mittleren Städten würdensie zum mindesten in den Oberklassen den Schülern ein intensiveresStudium zu Hause ermöglichen. DaS Reformrealgymnasium hatsich durchaus bewährt, die EntWickelung der Reformgymnasien istweniger rasch gewesen. Ihre pädagogischen Erfolge sind aber nichtzu verkennen. Uebrigens ist auch das Reformgymnasium ein humanistisches Gymnasium. Redner bespricht weiter die zahlreichenSchülerselbstmorde: die Schule und die Lehrer sind gewißnicht unfehlbar. Aber eS wäre verkehrt, für die bestehenden Miß»stände ausschließlich die Lehrer verantwortlich zu machen. Er»freulich ist der Appell der Gesellschaft für deutsche Erziehung an dieOeffentlichkeit, der kürzlich jn einer großen Versammlung in Berlinein Echo gefunden hat. Dadurch wird das Interesse weitesterKreise für Schulfragen geweckt.StrSbelrichtig ist, ein Kind, das noch nicht einmal die Muttersprache b<vherrscht, eine fremde Sprache lernen zu lassen. Man sieht, wieradikal die Forderungen dieser Herren sind. Ader sie wollen nichtreformierend an ein einzelnes Fach herangehen, sondern sie wollendie gesamte Ausbildung des Körpers und desGeistes der Schule grundlegend ändern. Gegen dasganze heutige Schulsystemrichtet sich also die Kritik dieser bürgerlichen Kreise. Eine besondersvernichtende, aber auch eine besonders sachkundige Kritik an unseremhöheren Schulwesen hat auf dieser Versammlung Prof. LudwigG u r l i t t geübt. Man kann diesem Herrn nicht Mangel an Sach-künde vorwerfen, denn er ist selbst klassischer Philologe, auch nichtMangel an Erfahrung, denn er wqr selbst 20 Jahre Lehrer. Pro-fessor Gurlitt führte auf jener Versammlung aus, daß der höhereUnterricht mit fremden, fernliegenden Dingen beginne und mitbekannten, naheliegenden Dingen schließe. DaS humanistische Gym»nasium lasse den Geist erstarren. Und der bekannte Professor derChemie au der Leipziger Universität, Geheimrat Dr. O st w a l d,schloß sich dieser Kritik an und hielt einen öjährigen Unterricht fürausreichend, da eine Bildung niemals abgeschlossen sei. Es wirdalso an unserem höheren Schulwesen von Kreisen die denkbarschärfste Kritik geübt, die dieses Schulwesen sehr genau kennen.Geheimrat Ostwald ironisierte auch die Anschauung, als ob dieKenntnis der lateinischen Sprache für eine gute Geistesbildungabsolut notwendig sei oder als ob ein Fehler gegen die Genusregeldem guten Ruf schade.(Heiterkeit.) Scharfe Kritik wurde auch amdeutschen Unterricht geübt, eine Kritik, die ich neulichübrigens auch in der„D e u t s ch e n T a g e s z e i t u n g" gefundenhabe. Die�„Deutsche Tageszeitung" erhob die Forderung einerAbg.(Soz.):In seiner letzten Rede hat mein Freund Hoffmann den Klassen.charakter gezeichnet, den die heutige Volksschule trägt. DieserKlassencharakter ist auch den höheren Schulen aufgedrückt; sie sinddie Anstalten für die Söhne der besitzenden Klassen, ihr ganzerOrganismus ist auf der Klassenherrschaft, auf dem Klassenstaataufgebaut. Schon die verhältnismäßig geringere Zahl der höherenSchüler ist ein Beweis für den Klassencharakter dieser Schulen.Rechnet man auch die Mittelschulen, die Höheren Töchterschulen zuden Lehranstalten, so stehen ungefähr 350000 höheren Schülernmehr als 0 Millionen Volksschüler gegenüber.(Hört! hört! bei denSozialdemokraten.) Wir erheben auch bei dieser Gelegenheit dieForderung der einheitlichen Volksschule als Unterbauund den Zutritt aller Befähigten zu den höheren Schulen. Hervor-ragende Pädagogen haben zugestanden, daß die Zahl der wirklichDummen, die überhaupt nicht« lernen können, eine sehr geringe istund daß fast alle eine höhere Bildung sich aneignen können.Wir fordern deshalb die Beseitigung deS V o r-schulwesenS. das ja in Süddeutfchland schon so ziemlich ver-schwunden ist. Jn Preußen gibt es leider noch eine ganze Anzahlsolcher Vorschulen. Sollte es nicht möglich sein» durch einen drei-zährigen Volksschulbesuch das gesteckte Ziel zu erreichen, so mußeben die Volksschule verbessert werden.(Sehr richtig!links.) Jedenfalls ist die Aufrechterhaltung der Vorschule miteine Ursache für die Vernachlässigung der Volksschule.(Sehdrichtig! links.) Eine radikale Beseitigung des Vorschulwesenswürde dazu beitragen, daß auch die besitzenden Klassen ein er-höhte? Interesse an dem Ausbau der Volksschule nehmen werden.Aber nicht nur in der Existenz des Vorschulwesens, in der ge-ringeren Frequenz der höheren Schulen und in dem hohen Schul.geld tritt oer Klassencharakter der höheren Schulen hervor, sondernauch in der ganzen inneren Organisation, m demLehrplan, in der Lehrmethode dieser Schulen. Die Auffassungenfür die notwendigen Reformen auf dem Gebiete de: höheren Schulengehen auch in bürgerlichen Kreisen außerordentlich weit auseinander.Soviel auch in den letzten Jahrzehnten für die Schulreform getanworden ist, so wenig befinden wir uns vor dem Abschluß dieser Reform. Der Abgeordnete Eickhoff hat bereits hingewiesen auf eineVersammlung der Gesellschaft für deutsche Er-z i e h n n die vor einigen Wochen hier in Berlin stattgefundenhat. Diez? Gesellschaft besteht nicht etwa aus ein paar mihveo»gnügtcn Lehrern oder aus etlichen Sonderlingen, sondern der Auf-ruf zu dieser Versammlung war unterzeichnet von Hunderten vonPersonen, unter denen sich eine große Anzahl von" Lehrern undProfessoren befanden. Also die Gesellschaft für deutsche Erziehungrepräsentiert einen gar nicht kleinen und keineswegs den schlechtestenSeil der Lehrerschaft. Ker Aufruf wirft die Frage auf, ob esAenderung des deutschen UnterichtS, damit die Schüler wieder reineFreude an den Meisterwerken unserer Literatur empfinden könnten.Jetzt werde vielfach der Unterricht in Deutsch und Literatur ebensolangweilig gestaltet wie der Unterricht in anderen Fächern. Vorallem: was solle man vom deutschen Aufsatz sagen?Leider kann ich mich den Besserungsvorschlägen der„DeutschenTageszeitung" nicht anschließen, da ich glaube, daß deren Durch-führung den Unterricht noch qualvoller gestalten würde.Beherzigenswert ist auch ein Vorschlag Heinrich Harts auf demKunsterziehungstag in Weimar, der vor allem eine Behandlung derJugendwerke unserer großen Meister forderte. Diese Forde-rung wird leider viel zu wenig beachtet. Man behandelt zwar„Hermann und Dorothea" und die antikisierenden Dramen desälteren Schiller und Goethe, aber man behandelt auf der Schulenicht die packenden Jugendwerke,„Die Räuber",„Kabale undLiebe", die„Leiden des jungen Werther", den„Götz", Hebbel,Grabbe. Otto Ludwig, Lenaus„Albigenser", Heine, Storm, Kellerusw. Und doch wären gerade das alles Dinge, die unsere Schüleraußerordentlich interessieren würden.(Sehr richtig! links.) Aller-dings müßte man dann auchmit der Prüderie und mit jeder Engherzigkeit brechen.Sehr bezeichnend für die Art. wie der Geschichtsunterricht anunseren höheren Lehranstalten erteilt wird, ist z. B. die Darstellungeines Lehrbuches über die Kämpfe am 18. März 1843. Eswird da so dargestellt, als ob der K ö n i a. weil er es n i ch t m e h rertragen konnte, daß noch mehr Bürgerblut ver-gössen wurde, nach. 14stündigem Kampf die Truppen zurück-gezogen habe. DaS ist eine GeschichtsfLlschung.(Sehr wahr! beiden Sozialdemokraten.) Historisch verbürgte Tatsache ist. daßmorgens 5 Uhr am 19. März der Minister Bodelschwingh demKönig mitteilte, daß die Truppen sich in einem Zustande der Er-schopfung befinden, während der Zulauf zu den Barrikaden immerstarker wurde, daß dem König dringend geraten wurde, die Truppenzurülfjjuziehen. Solche Geschichtsfälschungen gehören doch nicht inein Schulbuch I Der staatSstreichlerische Gewaltakt gegenüber derNationalversammlung vom November 1843 wird in diesem Lehr-buch damit motiviert, daß der König sich angesichts der Tatsache,daß die Nationalversammlung unter der Einwirkung der sie um-lagernden Volksmassen zu den b c d e n k l i ch st e n Beschlüssen kam,zu dem Gewaltakt gezwungen war. Auch das ist eine histo-risch nicht objektive Darstellung. Die„Deutsche Tageszeitung" willdurch den gesamten Unterricht die politische und nationale Er-ziehung der Jugend gefördert haben. Mau weiß ja, was sie dar-unter versteht: eine Erziehung zur Untertanendemutund zum kriegervereinlichen Hurrapatriotismus.Darin wird jetzt schon übergenug geleistet.(Sehr wahrl bei denSozialdemokraten.) Jn einem Schulbericht habe ich folgendedeutsche Themata gefunden:«Krieg und Gewitter, ein Vergleich".Hier soll also dargelegt werden: so wie das Gewitter luftreinigendwirkt, wirkt auch der Krieg. Das ist ja eine eminent staatserhal-tende und vor allem christliche Theorie.(Sehr gut! bei denSozialdemokraten.) Ich erinnere an den China-Feldzug, an denKrieg zwischen Japan und Rußland, an die Art, wie der Krieg inSüd-, Ost- und Westafrika geführt worden ist, wo Taufende derEingeborenen verhungern mustten oder von Raubtieren zerrissenwurde».(Rufe rechts: Schule!) Sie haben kein Gefühl dafür,aber es gibt noch Leute, die das Unwürdige und B e st i a l i-sche einer solchen Ztzriegführung empfinden.(Sehr wahr! bei denSozialdemokraten.) Ein anderes Thema lautet:„Kriegs- undFriedenstätigkeit Friedrichs de» Großen". Die ganze VerwaltungStätigkeit des Königs, namentlich die Tatsache, daß er die BauerndemJunkertum preisgab, finden dabei natürlich keinerleiErwähnung. Ein anderes Thema lautet:„Wie beweisen die beut-schen Freiheitskriege die Wahrheit deS Satzes: Schön und ehrenvollist eS, für das Vaterland zu sterben". Das wäre ja ein schönesThema, wenn dargelegt würde, daß die Freiheitskriege nurFürstenbefreiungskriege gewesen sind, und daß derKönig nach Beendigung der Kriege sein gegebenes Wort gebrochenhat.(Unruhe rechts. Zuruf: Geschichtsfälschung!) Sie könnenja die Geschichte korrigieren, aber Tatsachen bleiben das doch.Fielen doch damals Männer wie Jahn und Ernst MoritzArndt der Reaktion zum Opfer. Bezeichnend dafür, wie"derUnterricht im politischen Interesse derherrschendenKlassen gegeben wird, ist auch ein Aufsatz über eineSchulfahrt»ach der Wasserkant,in dem die Notwendigkeit einer kriegstüchtigen Flotte für Deutsch-land betont wird. Da heißt es zum Schluß im unverfälschtenKriegervereinspathos: ein kräftiges Deutsches Reich ist nie möglichohne eine achtunggebietende Flotte. Und dann wird dargelegt, daßes eine zwingende Notwendigkeit gewesen sei, das meer-umspülte Helgoland den Engländern zu entwinden.Jedermann weiß, daß Helgoland den Engländern nicht entwundenist, und daß sie eS nie herausgegeben hätten, wenn sie ihm großenstrategischen Wert beigemessen hätten. Dieser kondensierte Unsinnist natürlich nicht die Originalweisheit des Verfassers, sondern istdem guten Jungen in der Schule eingepaukt worden. Und dieseBlüte unseres höheren Schulwesens ist im Schulprogrammtriumphierend abgedruckt als besonders hervor-ragende L e i st u n g, für die der Schüler mit dem KaiferpreiS,einem Bande deS Flottenkalenders, belohnt wurde.(Heiterkeitbei den Sozialdemokraten.) Es ist im höchsten Maße bedauerlich,daß Lehrer sich so zu Trägern deS Byzantinismus und Hurrapatrio-tiSmus entwürdigen lassen.(Sehr wahrl bei den Sozialdemo-kraten.) Professor Ludwig Gurlitt schreibt sehr richtig:„Jetzt istver Lehrer mehr als je B e a m t e r, als solcher hat er e i n Ä m t,aber k e i n e M e i n u n g," eS sei denn die behördlich abgestempelte!(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Der springendePunkt ist, daß unser ganzes Erziehungswefen in der Schuled a r a u f z u g e f p i tz t ist, die Interessen der herrschenden Klassen,des kapitalistischen Staates zu fördern. Die materialistische Ge-chichtSaufsassung lehrt uns, daß in der Gestaltung der Schule nie-mals die idealen Anforderungen der hervorragenden Pädagogenmaßgebend gelvesen sind, sondern die prosaischen Bedürfnisse deskapitalistischen Staates derer, die die Macht in ihm ausübten.Das bestätigt die ganze Geschichte unserer Pädagogik. So entstandunsere humanistische Bildung durch ein Uebergreifen der Renais-änce nach Deutschland, die m Italien zuerst aufgelebt war, weildort die w i r t s ch a f t l i ch e ne Verhältnisse am höchsten entwickeltwaren. Aus den Stürme» der Reformation gingen dann dieFürsten siegreich hervor, und das Schulwesen wurde nun in denDienst ihrer territorialen Macht gestellt. AuchLuther betont, daß die Schule bestimmt sei, den geistlichenStand und das weltliche Regiment zu stärken und zuschützen. Im 17. Jahrhundert kam es in Deutschland zu einerReaktion gegen die humanistische Bildung. Commenius gab zu,daß das alte Ideal der Eloquenz für die Theologen und Rechts-gelehrten nötig sei, aber in deutscher Sprache. Er übte so scharfeKritik an den alten Sprachen, daß man glaubt, einen modernenSchulreformer zu hören. Im 18. Jahrhundert kamen dan«Wintelmann, Lessing, Schiller, Goethe und schufen das neue hu-manistische Ideal einer harmonischen Bildung des seineGeisteskräfte allseitig entfaltenden Menschen. Mit der Ent-Wickelung der Technik, der Naturwissenschaften eroberten sich danndie letzteren ihren Platz im Lehrplan der Schule, und eswurde eine Bresche gelegt in das Privilegium der humanistischenErziehungsanstalten. 1901 wurde in den offtziellen Lehrplänenfür die höheren Schulen empfohlen, den einzelnen Lehrern größereFreiheit zu lassen, und es wurde die Notwendigkeit des innerenVerständnisses im Gegensatz zur Schablone betont. Trotz solcherBestimmungen begegnen wir noch heute einer vernichtenden Kritikder gegenwärtigen Unterrichtsmethode.Die Mängel der Methode liegen nach Bölsche, Gurlitt undzahlreichen anderen Männern in der Anhäufung eines zusammen-hanglosen Haufens von Wissen, die keine harmonische Bildungschafft, jenes nach Ansicht aller großen Pädagogen höchste Zieleines jeden Unterrichts. Freilich unsere kapitalistische Gesellschafthat kein Bedürfnis an derart harmonisch gebildetenMenschen.(Lachen rechts.) Sie braucht Spezialisten mit möglichstbescheidenen Ansprüchen, keine philosophischen Köpfe und keinefaustischen Naturen.(Sehr gutl bei den Sozialdemokraten.) Icherinnere an den Ausspruch jenes Konservativen, der von einer zuhohen Bildung der Beamten fürchtet, daß diese Bildung in denKöpfen rumort und das Interesse von der Arbeit ablenkt.(Hörtlhörtl bei den Sozialdemokraten.) Wo die Beamten mehr seinwollen, als wie Exekutivbeamten des Staates, da werden sie ge-maßregelt. Man hat den Oberpostassistenten Wagnergemafjregelt,weil er sich allzu sehr mit Schopenhauer und anderen Dingen be-schäftigt hatte. Man hat den Bürgermeister LotharSchückinggemaßregelt, weil er sich nicht darauf beschränkte. Verwaltungs-beamter zu sein, sondern weil er sich darüber hinaus mit all-gemeinen politischen Fragen beschäftigte und eine scharfe Kritikan den herrschenden Zuständen geübt hat. Zu unseren Univerfi-täten werden Anhänger der sozialistischen Weltanschauung nichtzugelassen.(Sehr richtig! rechtsl) Ich nenne nur die Namen Dr.Konrad Schmidt und Dr. Leo Arons. Dr. Michels hat, weil erin Deutschland keine Professur erlangen konnte, sich inS Auslandbegeben.(Sehr richtig I rechts.) Ich habe nur einige von den zahl-losen Beweisen dafür angeführt, daß bei uns keine Toleranzherrscht, und daß man bei uns nur Beamte und Untertanen erziehenwill und nicht freie allseitig gebildete Persönlichkeiten. Wissen-schast und Beamtentum haben keinen anderen Zweck, als den Jnter-essen des kapitalistischen Staates zu dienen. Junker, Schlotbarone.Handel, Handwerksmeister und beffersituierte Bauern wollenja auch gar keine soziale Gleichheit.(Sehr richtig!rechts.) Unternehmer und Kapitalisten brauchen möglichst un.gebildete Proletarier als Arbeitskräfte, damit sie auf denHöhen der Menschheit wandeln können. Deshalb ist heute nichtjenes Erziehungsideal durchgeführt, das daS höchste Ziel sein sollte.Natürlich. Männer von wahrhaft humanistischerBildung wären keine tüchtigen Beamten und ließen sich nichtmißbrauchen. Alle großen Pädagogen haben die Emporhebnng derMassen des Volkes zu einer möglichst hohen Bildung als wahr-Haft nationale Erziehung bezeichnet. Pestalozzi hat diemenschliche Gesellschaft mit einem dreistöckigen HauS verglichen.Im dritten Stockwerk, das nur von wenigen Menschen bewohnt wird.wird die vollendetste Bildung vermittelt. Im zweiten Stockwerkwohnen schon mehr, aber eS mangelt ihnen an Treppen,um hinauf zu gelangen. Unten aber wohnen diegroßen Menschenmassen, fern von Licht und Sonne, undes wird ihnen durchBlendwerke der Ausblick zu den oberen Stockwerken versperrt.Zu diesen Blendwerken rechne ich den famosen Geschichtsunterrichtin den Schulen. Unsere heutige» Schulen sind Drillanstaltcn zumBrechen selbständiger Geister. Wir Sozialdemokraten sind keines-Wegs Gegner der klassischen Bildung. Mein Parteigenosse Perner.storfer war es, der ausgeführt hat. daß unsere Bildung zum großenTeil auf der Antike beruhe. Auch Marx war ein Freund der klas-fischen Bildung. Lassalle und Engels, alle unsere Theoretiker liebtendie klassische Bildung, wenn sie sich auch nicht auf den Standpunktstellten, daß das Ideal einer klassischen Bildung sei, ivas heute �auf den Schulen dafür gilt. Erst die sozialistische Gesell-schast wird das Bildungsideal, das auch die Besten der burger-lichen Gesellschaft erstreben, verwirklichen, denn gerade die sozia-listische Gesellschaft hat ein Interesse an einer Vertiefung derBildung. Auch in der sozialistischen Gesellschaft wird es einenSpezialiSmus geben, aber er wird nie in FachidiotiSmus ausarten.Die Schule soll zur Lebensarbeit, aber auch zum Lebensgenüsse er-ziehen. Eine vernünftige Gesellschaft sollte einen jeden dahinstellen, wo die Begabung ihn hinweist und wo er das Tüchtigsieleistet. Auch aus diesem Gebiet werden wir gern mit allen Lte-formern zusammenarbeiten, trotzdem wir überzeugt sind, daß ernsteReformen im kapitalistischen Staat nicht durchführbar sind. Wirsind der Auffassung, daß der Sozialismus nicht nur eine Sacheder breiten Massen ist, sondern daß er auch die gebildeten Geister,die Elite der Gebildeten mit sich reißen und schließlich siegen wird.(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)Abg. Cassel(frs. Vp.) tritt für das humanistische Gymnasiumein. Von de» höheren Schulen hat Herr Ströbel ein Zerrbildentworfen.(Lebhafte Zustimmung bei der Mehrheit.) Er sprichtvon Klassenschulen, tatsächlich aber gehen die Abiturienten unsererhöheren Schulen aus allen Klassen der Bevölkerung hervor.(Viel-sacheS Sehr richtig I) 10 Proz. aller Schulstellen in Berlin sindFreistellen. Gefreut habe ich mich, daß Herr Ströbel die Erhöhungder Schulgelder bekämpft. In der Berliner Stadtverordneten-Versammlung haben die Sozialdemokraten immer für die Erhöhungdes Schulgeldes gestimmt.(Hört! hörtl bei den Freisinnigen.)Seine Kritik des Geschichtsunterrichts war ganz verfehlt. Daß dieSchulen die Kinder znni Patriotismus erziehen, ist selbstverständlich,solange wir in einem konstitutionellen Staate leben. Aber denVorwurf des Byzantinismus gegenüber unseren Lehren weise ichentschieden zurück.(Bravo! bei den Freisinnigen.)Abg. Dr. Maurer(natl.) weist die Ausführungen des Abg.Heß gegen das Essener Gymnasium zurück. Herr Ströbel hat einekritiklose Zusammenstellung aller möglichen Publikationen hiervorgebracht. Sein Kronzeuge Gurlitt ist in der philologischen Welteine sehr umstrittene Persönlichkeit.(Sehr richtig! rechts.) DieObektivität der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung kann ichnicht sehr hoch einschätzen. Die Sozialdemokratie kann gar nichtobjektiv sein, weil sie von festen Dogmen ausgeht.(Sehr richtig Irechte. Abg. Hoffmann(Soz.): Sagen Sie daS der Mitte desHauses. Heiterkeit und Sehr richtigl bei den Sozialdemokraten.)Die Freude am Vaterlande werden wir uns durch alle Ihre An-griffe nicht nehmen lassen. DaS hat aber mit Byzantinismus undHurrapatriotismus nichts zv tun.(Sehr richtigl rechts.) Rednerkritisiert das Bcrechtigungswesen, das zum Kastengeist führe. DerMann mit dem Abiturientenzeugnis fühlt sich himmelhoch erhabenüber den, der nur das Einjährige hat. Jn der Obersckunda sollteein Altersgrenze eingeführt werden, damit nicht unfähige Schülertch das Abiturientenexamen ersitzen können. Der Bildungsgangder höheren Lehrer muß gründlicher und systematischer gestaltetwerden.(Bravol bei den Nationalliberalen.)Hierauf wird die Debatte über die höheren Lehranstalten ge-chlossen. Die Weitexberatung des Kultusetats wird auf Mittwoch11 Ahr vertagt. Schluß 4-ch Uhr.