Gmcbta-Zeituns.Darch einen Haftdeschlaß in den Tod getrieben ZDie 6. Strafkammer des Landgerichts I Berlin zeichnetsich unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Goebelschon seit langer Zeit dadurch aus, daß sie fast jede Berufungverwirft. Die Aufhebung eines amtsgerichtlichen Urteils istbei dieser Strafkammer eine Seltenheit.Außerdem fordert die Härte der unter G o e b e l s Vorsitzverhängten Strafen und die Leichtigkeit, mit welcherselbst unbestrafte Angeklagte vom Platze weg verhastet werden.zur schärfsten Krittk heraus. Die gegen einen nie Vorbestraftenverhängte Hast führte vor kurzem zu dessen Tode.Vor kurzem stand der Schlosser Ernst als Angeklagter vorder Goebel schen Kammer. Er war noch niemals be-straft und jetzt wegen wissentlich falscher Anschuldigung an-geklagt. Der Staatsanwalt beantragte dreiMonate,das Gericht erkannte auf— neun Monate Ge>f ä n g n i 3 und Aberkennung der Ehrenrechte auf drei Jahreund verhastete den Angeklagten auf der Stelle. Dieserwar ganz konsterniert, er hatte sich am Terminstage nurwenige Stunden freigemacht und glaubte sofort nach demTermin wieder Weiterarbetten zu können. Auch das Gerichtbemerkte den stefen Eindruck, den die soforttge Verhaftungmachte. Als die Beschwerde gegen den Hastbefehl vorgelegtwurde, erklärte das Gericht, der Angeklagte sei umso flucht-verdächtiger, da die Verkündung seiner so-fortigen Inhaftnahme offenbar konsternierendauf ihn gewirkt habe!Leider verwarf auch das Kammergericht die Hast-beschwerde. AlS Ernst dies erfuhr, stürzte er sich imUntersuchungsgefängnis über daS Geländerin die Tiefe und war sofort tot.So wirkte die soforttge Verhaftung und so kann sie auchleicht auf unbescholtene Menschen wirken. Trotz dieses überaustraurigen Vorfalls beharrte die Goebel-Kammer bei ihremFluchtverdachte.Gestern hatte sich vor der Goebel schen Kammer einAngeklagter wegen Betruges zu verantworten. Das Amts-geeicht hatte ihn freigesprochen. Der Staats-a n w a l t beanttagte eine Woche Gefängnis und Goebelverkündete: ein Jahr Gefängnis! und sofortigeVerhaftung.Die Rechtferttgung einer Verhaftung durch die»Höhe derStrafe" ist außerordentlich leicht und erfordett keinerleijuristtsche oder sonstige Vorkennwisse. Sie ist aber eine außer-ordentlich schwere Bedrohung der Freiheit und Rechtssicherheitdes Bürgers. Viele Verhaftete lassen sich durch die Ver-hängung der Hast von der Einbringung einer durchausgerechtferttgten Revision abschrecken, zumal ja im Fall einerVerwerfung des Rechtsmittels die bis dahin verflossene Zeitnicht aus die Haft angerechnet wird und bis zurEntscheidung oft Monate vergehen. Ueberdies wirkt aberdie Haft oft gerade auf Unschuldige psychologisch zer-rüttend. Die Richter der Goebelschen Kammer und desKammergerichts huldigen der falschen Auffassung, diekonsternierende Wirkung einer überraschend verkündeten Ver-Haftung sei ein Zeichen— des Fluchtverdachts. Der Entwurfder Strafprozeßordnung beseitigt die ungeheuerliche Gefahrkeineswegs, mit der eine ungerechte Verhaftung die persönlicheFreiheit und die Gesundheit, das Vermögen und das Lebender Bürger bedroht. Garantien gegen ungerechte Verhaf-tungen, vor allem durch Einführung der Haftpflicht derRichter, sind dringend erforderlich. Der Tod des SchlossersErnst mahnt zu einem schleunigen und durchgreifenden gesetz-lichen Schutz gegen Verhaftungen nicht rechtskräftig Ver-urteilter._Schule und Familie.Bor dem Amtsgericht Grotz-Lichterfelde standen amDienstag der Maurer G r a b e r t und seine Ehefrau wegen einesStreites, den sie mit dem Lehrerkollegium der Groß- Lichterfelderfünften Gemeindeschule gehabt hatten. Sie waren an-geklagt der Beleidigung des Rektors und mehrererLehrer sowie des Schuldieners, ferner eines H a u S-friedensbruches und ruhestörenden Lärms. Beleidigungenwurden herausgelesen aus einem Briefe, den Frau G. an denRektor Zobel gerichtet hatte, weil sie meinte, daß ihre Kinderund besonders ihr Sohn Erich von einzelnen Lehrern ausVoreingenommenheit ungerecht behandelt und drangsaliertwürden. Der Ehemann sollte damit einverstanden gewesensein, daß dieser Brief geschrieben wurde. Die Beschuldigung,Hausfriedensbruch begangen zu haben, stützte sich darauf, daß G.und seine Frau, als sie beim Rektor sich auch noch persönlich be-schwerten, nicht so schnell das Amtszimmer verließen, wie der HerrRektor eS wünschte. Dabei sollten beide im Schulhause gelärmthaben, auch sollte Frau G. in dieser Unterredung sich noch weitereBeleidigungen des Rektors und eines Lehrer? haben zu schulden kommenlassen. Die Vernehmung der beiden Angeklagten ergab, daß derEhemann die Absendung des Briefes gebilligt hatte, nach-dem sie bereits erfolgt war. Somit fiel bezüglich seinerPerson von vornherein die Anklage, an der Beleidigung teil-genommen zu haben Die Beweiserhebung ergab, daß er auch imSchulhause sich sehr viel ruhiger als seine Ehefrau benommen hatte.Der Brief enthielt eine Reihe schwerer Vorwürfe, die vonFrau G. vor Gericht aufrechterhalten wurden. Es heißt darinunter anderem, ihren Kindern sei in der Schule so zugesetzt worden,daß man annehmen müsse, sie seien den Lehrern ein Dornim Auge, eS werde ihnen die Schule geradezu zurHölle gemacht usw. Den letzten Anlaß zu diesem Brief hatteeine Abstrafung des Erich G. gegeben, die vom Lehrer Otteunter dem Beistand des SchuldienerS Deckel ausgeführt wordenwar. Die Angeklagten erboten sich, den Beweis der Wahrheitaller Vorwürfe zu erbringen. Der Junge sei blutig geschlagenworden, der Schuldiener habe mitgeprügelt und ihn„Aas" geschimpft,ein anderer Sohn sei vom Lehrer Lehmann„Dieb" tituliertworden, einen dritten Sohn habe Lehrer Otte geftagt,ob auch er.solch Strolch" sei. Die Angeklagten trugen die Ansichtvor, es sei Pflicht der Lehrer, bei etwaigen Verfehlungen der Kindernicht sogleich daraufloS zu hauen, sondern sich mit der Familiein Verbindung zu setzen, damit diese strafend eingreifen könne.Die Vernehmung des Rektors Zobel, der Lehrer Otte, Klafske, Lehmann,Wildelau. Thiers, des Schuldieners Deckel sowie des Schularztes zeigte,daß die Auffassung, die die Eheleute G.— auf Grund der Angabenihrer Kinder— sich von den staglichen Vorgängen gebildet hatten,sehr weit von derjenigen der beteiligten Lehrer usw. abwich.Der Zeuge Lehrer Otte bestritt, den Jungen blutig geschlagen zuhaben. Auch den Ausdruck„Strolch" bestritt er zunächst sehr ent-schieden. Auf wiederholtes Beftagen erklärte er dann, er erinneresich nicht, ihn gebraucht zu haben, und schließlich sagte er, eSkönne ja sein, aber er wisse es nicht. Lehrer Klafskemeinte, eS sei seine Pflicht, auch die außerhalb derSchule begangenen Uebertretungen zu bestrafen, und er habenicht nötig, die Eltern in Kenntnis zu setzen. GegenErich G. wurde von allen über ihn vernommenen Zeugen allesmögliche vorgebracht, neben Eigenlumsvcrgehen wurden auchPrügeleien mit Mitschülern und eine Schneeballattacke auf ein paarMädchen angeführt, um zu zeigen, wie„verwahrlost" er gewesen sei.Demgegenüber stellte der Verteidiger durch eingehende Befragungder Zeugen fest, daß Erich wegen seiner eigentümlichen Kopf«form viel von Mitschülern gehänselt wurde und daß ereinzelnen Lehrern durch sein von der Norm abweichendesWesen auffiel. Lehrer Thieß gab zu, ihn— mit dem ersehr unzustieden habe sein müssen— gelegentlich gefragt zuhaben, ob er denn nicht„bald ziehe". Schuldiener Deckel,den der Lehrer Otte bei der Abstrafung zugezogen hatte, versicherte,er selber habe nicht mitgeprügelt und auch nicht„Aas" geschimpft.Auf die Frage, ob er sonst schon mal Jungen seiner Schule ge«prügelt habe, antwortete er mit Verweigerung der Aus«kunft. Nach diesen Aussagen sah der Amtsanwalt alle Punkteder Anklage als erwiesen an. Der Verteidiger RechtsanwaltTheodor Liebknecht führte aus, den Eheleuten G. müsse zu-gebilligt werden, daß sie in Wahrnehmung berechttgter Interessenhandelten. Nach den Angaben ihrer Kinder seien beide in demguten Glauben gewesen, daß es ihr Recht und sogar ihre Pflichtsei. auf Abhilfe zu dringen. Das Gericht erkannte dasnicht an, sondern verurteilte nach dem Antrage des Amtsau-walts beide Angeklagte wegen Hausfriedensbruchs zu je 1 WocheGefängnis, außerdem Frau G. wegen Beleidigung zu60 Mark und wegen LärmS zu 5 Mark. Das Ehepaar G. habewissen müffen, daß Abhilfe durch eine Beschwerde bei derdem Lehrerkollegium vorgesetzten Behörde zu er«reichen war. Diese Belehrung wird, so vermuten wir, für die Zu»kunft nicht nur von dem Ehepaar G., sondern auch von vielenandern Eltern beherzigt werden. Sie werden so sich vor Anklageund Verurteilung sichern, aber dem Frieden zwischenSchuleund Familie wird damit nicht gedient sein.Hinter die Kulissen einer Privathandelsschuleführte eine Verhandlung, mit der sich gestern unter Vorsitz deSLandgerichtsdirektors Lehmann die 4. Strafkammer des Landgerichts I zu beschäftigen hatte. Angeklagt wegen SitllickikeitS-Verbrechens im Sinne des§ 174, 1 Str.-G.-B. war der Wissenschaft-liche Lehrer Karl Hoppe, welcher aus der Untersuchungshaftvorgeführt wurde.— Der Angeklagte, ein früherer Theologe,war in einer Privathandelsschule in der Dresdenerstraße als Lehrerangestellt und soll hier mit verschiedenen minderjährigenSchülern in einen sttäflichen Verkehr getteten sein. Auf die Anzeigeder Eltern eines Schülers wurde Hoppe verhaftet. Zuder gestrigen Verhandlung waren zirka 30 Zeugen, zumeist ehemaligeHandelsschüler, geladen, die über die Umgangsformen, die der An-geklagte seinen Schülern gegenüber in Anwendung brachte, mancherleierstaunliche Einzelheiten bekunden sollten und zum Teil auch be-kündeten, die die AnNagebehörde zu der Vermutung führten, daß derAngeklagte sadistische Neigungen besitze und diese bei seinen Schülernin die Tat umsetzte. Der Angeklagte bestritt eMschieden, vonsolchen Neigungen beherrscht zu sein und wollte die Sonderbarkeitendie bekundet wurden, auf harmlose Weise erklären. MedizinalratDr. Hoffmann begutachtete, daß der Angeklagte zwar ein nervösüberreizter und degenerierter Mensch sei, auf den aber der§ 61St.-G.-B. nicht in Anwendung zu bringen sei.— Staatsanwalt«schaftsrat Früger beanttagte nach sechsstündiger Beweisaufnahme,die unter Ausschluß der Oeffentlichkeit stattfand, eine Gefängnisstrafevon einem Jahre. Das Gericht erkannte wegen Sittlichkeits-verbrechen in nur einem Falle auf neun Monate Gefängnisunter Anrechnung von drei Monaten der erlittenen Untersuchungshaft.Im übrigen wurde der Angeklagte freigesprochen.Heute Mittwoch, den 19. Mai 1909.abends 8 Uhr:OeffentlicheVolks Versarninlimgenin folgenden Lokalen; �1�Moabiter Gesellschaftshaus, Wiclefstraße 24.Breuer, Große Frankfurter Straße 117.Sanssouci, Kottbuser Straße 6.Elysium, Landsberger Allee 40—41.Tages- O r d n u n g:Der WahlrechtsraubReferenten:Genossen Borgmann, Heimann, Hirsch, Hoffmann.Genossen und Genossinnen: jedermann am fHafze!Der geschfiftsführende Ausschuß»Berantwortl. Redakteur: Carl Werwuth, Berlin-Nixdorf. M�den�Jnseratenteilverantl?� Th. Glocke, Berlig. Druck».Verlag: Vorwärts Buchdruckerei u. Berlagsanstalt Paul Singer& 60., Berlin SVV«