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allein mögliche und am wenigsten drückende, die Finanz- Hoheit und das Finanzgcbaren der einzelnen Bundesstaaten am meisten schonende Form einer solchen allgemeinen Besteuerung des Besitzes."_ Der Reichsverband gegen den Freisinn. Der ReichSderband gegen die Sozialdemokratie richtet, wie schon sein schöner Name besagt, sich zunächst gegen diestaatszerstörende" Sozialdemokratie, doch liegt es in seinem rcaktionär-patriotischen Charalter, daß er auch dem Zentrum und dem entschiedenen Libera- lismus feindlich gegenübersteht. Es ist deshalb durchaus erklärlich, daß er dort, wo die Sozialdemokratie noch keine Rolle im Wahl- kämpfe spielt, auch gegen das Zentrum oder den demokratisch schillernde» Freisinn arbeitet, natürlich nicht in offenem Kampfe, sondern, wie es seiner Eigenart entspricht, in versteckter. hinterlistiger Weise. So stellt jetzt auf Grund einwandsfccier Mitteilungen dieHessische liberale Wochenschrift' fest, daß der Reichsverband bei der letzten Ersatzwahl in Alzcy-Bingen sich nicht nur in ausgiebiger Weise gegen die Linksliberalen betätigt hat, sondern daß sogar die eigentliche Leitung des WahlkanipfeS gegen Pfarrer Korcll in den Händen der ReichSverbändler läg. Die Wochenschrift schreibt: Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Dr. Ludwig und andere Beamte aus Berlin sowie der Bureauapparat aus Frankfurt waren dauernd in Alzey stationiert. Flugblätter und Wähler- zeitungen mit den ärgsten Schmähungen der Freisinnigen wurden unter der Leitung Dr. Ludwigs hergestellt. Andere Beamte hatten die Aufgabe, hinter Pfarrer Korell herzu- reisen und unbemerkt seine frei gehaltenen Reden steno- graphisch auszunehmen. Nebenbei suchte man einzelne Mitglieder der freisinnigen Fraktionsgemeinschaft gegen Korell aufzuhetzen, was natürlich nicht gelang. Trotz dieses Apparates ist bekanntlich Dr. Becker mit einem großen Stimmen- Verlust aus der Stichwahl herausgefallen. Der national- liberale Parteisekretär Greupner, der sich stolz als Leiter des Bureaus gerierte, hat bei allen diesen Dingen die Rolle des Strohmannes gespielt. Er mußte alles verantwortlich unter- zeichnen, was die ReichSverbändler ersannen. So vervollständigt sich das Charakterbild dieses Mannes immer mehr. Wir hatten recht, als wir sagten, er sei moralisch nicht verantwortlich zu machen. Und der Reichsverband hat wieder einmal den Beweis ! geliefert, daß er nichts anderes ist als ein In- trument reaktionärer Kreise zur Bekämpfung aller linksstehenden Parteien.' Der hier erwähnt» Dr. Ludwig ist derselbe Politiker, der vor einiger Zeit in derDeutschen Tagesztg.' den Plan entwickelte, wo- nach 12 Wahlkreise, die jetzt in den Händen der Sozialdemokratie sich befinden, durch ein Zusammengehen von Zentrum und Nationalliberalen den bürgerlichen Parteien erhalten werden könnten. Auch als Wissenschaft» liche Leuchte und als große schriftstellerische Kraft ist dieser betriebsame Dr. Franz Ludwig bekannt geworden, so hat er z. B. eine Schrift über die Reichstagswahlen 1S07 und eine konfuse Schrift über Sozialismus und Kommunismus verbrochen, in der er sich fast als ein noch größeres Genie erweist als wie der Generalleutnant von Liebert._ Die Radbodkolonie vor Gericht. Dortmund , 21. Mai. Heute begann hier vor der Berufungs - strafkammer der Prozeß gegen Genossen Nottcbohm, der in der Dortmunder Arbeiterzeitung" die Zustände in der KolonieRadbod" einer scharfen Kritik unterzogen hatte und des- wegen vom Schöffengericht zu blZl) M. Geldstrafe verurteilt worden tvar. Für die Verhandlung sind fünf Tage angesetzt. Es sind I03Zeugcn geladen, sowie als Sachverständige vom Angeklagten die Wohnungshygieniker Professor Dr. Sommerfeld-Berlin und Dr. D i c t h m e r- Berlin, ferner Dr. Jacobs- Unna und der gerichtliche Bau-Sachverständige S ch ä f e r° Dortmund . Von der Anklagebehörde sind 6 Gutachter geladen. Die Verhandlung nahm am Nochmittag mit einer Besichtigung der Kolonie an Ort und Stelle ihren Anfang. Schon in der ersten Verhandlung sind von mehr als 20 Zeugen geradezu haarsträubende Zustände bekundet worden. 35 Zentimeter unter den Häusern stand das Sumpfwasser. Das ganze Terrain war früher ein Sumpfloch. Das GraS wuchs durch die Dielen. Das Wasser lief an den Wänden förmlich herunter; infolge der Feuchtigkeit verfaulten Betten, Matratzen und Kleidungsstücke. Erwachsenen Männern war der Schnurrbart an der Bettdecke fcstgcfrorcn. Frauen und Kinder erkrankten. Die Zechenverwaltung behauptete allerdings, die Leute seien an der Nässe selbst schuld, weil sie zu wenig lüfteten. Dagegen be- hauptctcn Leute, die die Kolonie Radbod gesehen hatten und schon in anderen Kolonien wohnten, nie so schlechte Wohnungen gesehen zu haben wie in der Radbod-Kolonic. Die neue Verhandlung wird noch manches enthüllen, tvas der Oeffentlichlcit noch nicht bekannt geworden ist. Wittvenfürsorge auf Radbod. Man schreibt uns aus Hamm : Unmittelbar vor der zweiten Auflage des Radbodprozeiies gegen die Dortmunder Arbeiter- zeitung ", in der die vom Generaldirekor Jansen alssoziale Tat" gepriesene Kolonie richtig beleuchtet werden soll, machen die Direktoren der Radbodzeche wieder durch eine neue soziale Tat von sich reden. Kürzsich zirkusierte in der bürgerlichen Presse deS Ruhr- revierS eine wahrscheinlich von Zechenseite inspirierte Notiz, in der mitgeteilt wurde, daß die Zechenverwaltung den Witwen Dora und Krawunja wegen ihrer wüsten Agitation<I) auf Wunsch der meisten übrigen Witwen(??> zum 15. Mai die Wohnungen gekündigt habe. Die beiden«Ver- brccherinnen' gehörten nämlich zu den sechs Witwen, die gegen das Hilfskomitee klagen, und befanden sich am 1. Mai wtter den vier. die mit roten Schärpen zum Maifest nacki Dortmund fahren wollten und denen die Polizei zu Hamm die Sckiärpen abnahm. Der Erst- genannten gelang es nicht, bis zum 15. Mai eine andere Wohnung zu finden und die Zweite hatte kein Geld. Umzug und Miete zu bestreiten. Die Zechenverwaltung strengte daraufhin gegen die beiden Frauen die Räumungsklage an, aus der die Zeche als Siegerin hervorging. Die beiden Genossinnen bc- fanden sich aber in dem guten Glauben, bis 1. Juni noch in der Kolonie wohnen zu können. Inzwischen ist die Genossin Krawanja schwer erkrankt und hatte hohes Fiebes, als am Mittwoch plötzlick der Kolonieverwalter mit dem Gerichts- Vollzieher und einem Arbeiter in ihrer Wohnung erschien und die Aermste nötigte, das Bett mit der Straße zu vertauschen. Um diese Zeit befand sich Frau Dora in Dortmund , wo sie sich als Hebamme eine neue Existenz zu gründen hoffte, um dort eine Wohitung zu mieten. Trotz der Abwesenheit der Frau wurden auch ihre Möbel auf die Straße gesetzt, die Kinder aus dem Hause gejagt und diese? verschlossen. Die am Abend zurück- gekehrte Mutter mußte nun, anstatt sich zu erwärmen, mit ihren Kindern, unter denen sich ein drei Monats alter Säug- ling befindet, die Nacht unter freiem Himmel verbringen, während ihre Leidensgefährtin im nahen Merschhofen eine Unterkunft fand. Am DonnerStagmittag wurde die Witwe Dora plötzlich von einem Gendarm nach Ermesinghof zum Amtmann geführt. Dort ist fie wegen Verdachts des Meineides verhaftet worden. Sie hatte kürzlich den Offenbarungseid geleistet. Bei der Exmittierung am Mittwoch stellte nun der Gerichtsvollzieher fest, daß sie zwei Stühle und einige andere Sachen mehr besaß, alö sie angegeben hatte. Darum die Verhaftung! Man gab nun nicht etwa der Mutter Gelegenheit, von ihren Kleinen Abschied zu nehmen, sondern man befahl einfach dem Gendarmen, die acht Kinder nach Hamm ins Waisenhaus zu bringen. Ich war Zeuge. wie die laut schreienden Kinder Vörden, Gendarm zufliehensuchten-- ein Knabe kroch im Nachbarhause unter das Sofa und wie dann elneS nach den, anderen bon dem Polizisten in einen bereitstehenden Wagen geführt wurde. Der Anblick war herzzerreißend. Einige an der Straße stehende Arbeiter schafften sich durch laute Zurufe Luft.Das ist die göttliche Weltordnung I'Der Dora liegt noch unten in der Mordgrube. Er ging in der Unglücksnacht zur ersten Schicht ans Radbod von seiner Familie weg und heute schleppt man die Frau ins Zuchthaus und die Kinder in Fürsorgeerziehung s. la Colandcr!" Wer noch nicht gläubiger Christ ist, hier kann er's werden.,,Ich erschieße mich und meine Kinder heute noch, wenn es ihnen einmal so gehen sollte." So und ähnlich lauteten die Eni- rüstungsruse. Ein Arbeiter weinte wie ein Kind. Dann rollte der Wagen von bannen. Weinend stand die kranke Genossin Krawanja am Wegrands:So macht man es mit ans Witwen von Radbod, weil wir linser Recht erstreiten wollten. Wir guten Partien, die keinen Pfennig Geld haben." Das war alles. ivaS sie hervorbrachte. Verlassen und unbeaufsichtigt lag das Mobiliar der Familie Dora unter freiem Himmel, während in der Nähe ein Dutzend Häuser leer stehen. Aufs tiefste erschüttert ging ich meines WegeS. So geschehen a m HimmelfahrtStage 19v!> im Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte. Wahrlich, die Herren von Radbod können auf ihre sozialen Taten" stolz sein!_ Doch noch verurteilt. Eine arge Bloßstellung eines?lktes von a m t l l ch e m T e r r o- r i s m u s fand am Dienstag vor dem Landgericht Eisleben statt. Angeklagt war der Genosse Trautewein, Stadtverordneter zu Gernrode , wegen Beleidigung des Bürgermeisters Sempke in Erms- leben. In dieser Stadt wurde einem seit mehr als 190 Jahren bestehenden Lokale die Schankkonzession entzogen, weil angebi'ich auf einmal kein Bedürfnis mehr vorhanden war. Unsere Ge° nossen, die in diesem Lokale verkehrten,, vermuteten, daß darin der Grund zur Entziehung der Konzession liege, eine Vermutung, die der Bürgermeister amtlich stets best r.i t t. Eines Tages saß der Bürgermeister mit unserem Genossen Trautewein, dem Bürgermeister von Gernrode und anderen Stadt- verordneten am Biertisch zufällig beisammen. Der Bürgermeister kannte unseren Genossen nicht und erzählte in der Bierlaune, daß er dem Wirt die Schankkonzession entzogen habe, weil sich dort Sozialdemokraten versammeln. Genosse Trautewein erklärte darauf in einer öffentlichen Versammlung, der Bürger- meister sei unwürdig, das Amt eines Stadtoberhauptes zu be- kleiden. Das Gericht rügte das Tun des Bürgermeisters und meinte, er habe sich wohlverhauen". Gleichwohl kam eS zu einer Verurteilung unseres Genossen. Er soll 75 M. zahlen, weil er den Bürgermeister beleidigt hat. Obgleich der Tatbestand, auf den er seine Vorwürfe gründete, zweifelsfrei erwiesen ist!_ Die Masse muh es bringen. Einen Rekord in Kaisertoasten hat der Kölner Gardcverein auf- gestellt, der diese Woche drei Tage lang sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen feierte. Er hat nack demKölner Tageblatt" an einem einzigen Tage in folgender Weise alle Möglichkeiten der Kaiser- Huldigung erschöpft: Zunächst brachte Oberst v. Jakobi bei der Morgenseier in kernigen Worten den Kaiserspruch aus. Dann folgte ein stürmisch aufgenommenes Kaiserhoch, und darauf sang man die Nationalhymne, während man auf der Bühne ein lebendes Bild, Huldigung des Kaisers, zeigte. Bei dem gemeinschaftlichen Mittags- mahl brachte Oberst von Jakobi den Trinkfpruch auf den Kaiser aus. Die Parade am Nachmittag begann mit einem Hurra auf den obersten Kriegsherrn. Bei der Veranstaltung an, Abend fang man ein gemeinschaftliches Kaiserlied; nachher brachte Hauptmann Blanken- Horn den Kaiscrtoast aus, Ivorauf die Kaiserhymne gesungen wurde. franhrcicb. Das Wettrüsten. PariS , 21. Mai. Ter höhere Marinerat hat sich in seiner letzten Sitzung mit zwei Anträgen betreffend die Zu- sammensetzung der. Kriegsflotte beschäftigt. Der erste. vom Marinegeneralstab eingebrachte Antrag stellt die Zahl der Panzerschiffe auf 28 fest, der zweite, welcher von der ständigen Sektion des Marineministeriums ausgegangen war, auf 38. DemMatin" zufolge befürwortete der höhere Marinerat den letzten Antrag. Ferner befürwortete der höhere Marine- rat, daß k e i n e P a n z e r k r e u z e r m e-h r erbaut lverden sollen, da er der Anficht ist, daß nunmehr nur die Aufklärungskreuzer, und zwar sechs für jedes Geschwader, nötig sind. Heute und morgen wird der höhere Marinerat den Typus und die Geschützbewaffnung der neuen Panzerschiffe erörtern. Voraussichtlich wird eine Ge- schwindicsteit von 29 bis 21 Knoten und ein Deplacement von 21000 Tonnen beantragt werden. 6ngland. Die Liberale» und die Arbeiterpartei. London , 18. Mäi. <Elg. Ber.) DieDaily Mail" bringt heute eine allem Anschein nach aus sicherer Quelle geschöpfte Nachricht. daß die Zentralorganisation der liberalen Partei alle Vor- bereitungen zu den nächsten parlamentarischen Wahlen trifft. Es werden Maßregeln ergriffen, in jedem Wahlkreise von England, WaleS und Schottland liberale Kandidaten aufzustellen. Auf keinen Fall wird die liberale Partei den Tarifreformern und den Arbeiter- kandtdaten das Feld überlassen. Zwischen den Liberalen und der Arbeiterpartei wird kein Einverständnis bestehen.«Und da die Arbeiterpartei finanziell schwach ist. so sind die Wahlaussichten für die Sozialisten nichts weniger als glänzend," so meint das bürgerliche Vlatt. Das wollen wir erst noch abwarten. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. London , 19. Mai. Unterhaus. In der heutigen Abend- sitzung machte HandelSministerr Churchill im Laufe der Debatte über den Bericht der Kommission für das Ar mengesetz Mit- teiluygen über einen Gesetzentwurf, den er morgen im Hause einbringen wird, und der die Einrichtung eines Arbeits- b örsens y stems bezweckt. Der Minister wies daraufhin, daß nicht nur in England allgemeine Uebereiustimmung über die Zweck- Mäßigkeit eines solchen Systems bestehe, sondern daß auch Beweise vorlägen sür seine erfolgreiche Durchführung in Deutsch - l a n d, dem größten Jndustriestaate des Kontingents, und für seine fortschreitende AusdeSmmg auf fast alle anderen Festlands- staaten. Die Arbeitsbörsen würden zwar nicht mehr Arbeits- gelegen heit schaffen, aber die Beschäftigung der Erwerbstätigen organisieren. DaS vorgeschlagene System würde eiuheitlich und national sein, aber nicht obligatorisch. Das Land würde in zehn Bezirke eingeteilt und in London eine Zentralstelle eingerichtet werden. Er hoffe, daß die Arbeitsbörse in jeder Stadt das industrielle Zentrum bilden werde. Wenn das Gesetz durchgehe, würde mit der Organisation zu Anfang deS nächsten JahreS begonnen werden. Die Kosten der Durchführung des Planes würden 200 000 Pfund Sterling jährlich nicht über» schreiten. Der Handelsminister machte ferner Angaben über ein ArbeitSlosenversicherungSshstem. dessen Einführung die Regierung in Verbivdung mit dem Arbeitsbörsensystem für das nächste Jahr beabsichtige. Eine allgemeine Berfiche- rung fei nicht durchführbar: die Regierung bringe deshalb ein System der Zwangsversicherung für das Gewerbe in Vorschlag, bei dem sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer Beiträge zu leisten und der Staat eine ange« messene Beihilfe zu gewähren hätte. Unter den Gewerben, auf die das System zuerst Anwendung finden solle, seien das Maschinenbau- und SchiffZbaugcwerbe. Das deutsche Beispiel der Berfiche rungSlarten oder-bücher würde befolgt werden. Das deutsche Borbild. London , 20. Mai. Unterhaus. In der heutigen Sitzung richtete M o n e y(liberal) an den Schatzkanzler Lloyd George die Anfrage, ob cr darauf aufmerksam geworden sei. daß die zurzeit der Finanzkommission des deutschen Reichstages vor- liegenden Anträge über eine W e r tz u w a ch s st e u e r sich nicht nur auf unbewegliches Eigentum erstrecken, sondern die Ein- fiihrung dieser Steuer auch für bewegliches Eigentum vorsehen, und ob der Schatzlanzler eine Erweiterung seiner eigenen Vorschläge bezüglich einer Wertzuwachssteuer erwägen werde, um eine gleichmäßige Besteuerung jeder Art von Vermögen herbeizuführen. Schatzsekretär Hobhouse erwiderte kurz, daß diese Anregung zur Kenntnis des Schatzkanzlers gebracht worden sei, Daraufhin fragte Kapitän C r a i g(liberal), ob die ganze liberale Ge- setzgebungdem deutschen Vorbild angepaßt werden solle.(Heiterkeit.) Cürkci. Eidesleistung und Thronrede. Der Sultan hat heute in der Kammer vom Präsidenknsitz hcrab den Eid auf die Verfassung geleistet. Dieser hat folgenden Wortlaut:Ich habe geschworen, das Scheda und die Verfassung voll zu beobachten und mich nicht von den Rechten der Nation und den Interessen des Vaterlandes zu entfernen." Tarauf leisteten die Abgeordneten in Gegenwart deS Sultans gleichfalls den Ver- fassungseid. Nach dem Eid des Sultans verlas der Großwesir die Thronred«. Es heißt darin unter anderem: Heute fühle ich mein Herz erzittern bon dem Gefühl der Freude und des Stolzes, da ich mich inmitten der Senatoren und Abgeordneten sehe, die unsere große ottomanische Nation ver- körpern. Ich bin gewiß, daß mein Volk mit mir die Ueberzeugung teilt, daß das Heil und Glück unseres teueren Vaterlandes und seine fortschreitende EntWickelung von der stetigen und ernsten Anwendung deS verfassungsmäßigen Regimes abhängen, von dem ich hier nicht auseinanderzusetzen brauche, in wie hohem Maße es mit dem Scheriagesetze und den Grundsätzen der Zivilisation übereinstimmt,... Die Nachricht von den Unruhen in Adana hat mich tief be- wegt. Diese Unruhen sind schon unterdrückt, und es ist be- schloffen worden, die Beteiligten zu bestrafen und mit ausreichenden Hilfsmitteln diejenigen zu unterstützen, die unter jenen Ueber- griffen gelitten haben. Die Regierung wird alle Maßregeln ergreifen, die wirksam und geeignet sind, die Wiederkehr derartiger Vorfälle zu verhindern, überall Ovd- nung und Sicherheit wiederherzustellen und das gute Einvernehmen zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung wieder zu be- festigen. Höchst notwendig ist, die Reformen in der Verwal- tung, im Gerichts- und Finanzwesen des Staates durchzuführen, das, was zur Vervollkommnung unserer Streitkräfte zu Waffer und zu Lande notwendig ist, aufs nachdrücklichste zu fördern, das Unter- richtswefen zu verbreiten und die öffentlichen Arbeiten zu ver- mehren und auszudehnen. Um dieses Ziel zu erlangen, nehme ich die Unterstützung und die Hilfe der beiden ehrenwerten gesetz- gebenden Körperschaften in Anspruch." Bei der Eidesleistung der Senatoren und Abgeordneten kam es zu einigen Zwischenfällen. Zunächst legte der Senats- Präsident Said den Eid nach der Formel ab: Ich schwöre, dem Sultan treu zu bleiben, solange cr die Verfassung beachtet. Von mehreren Seiten des Hauses wurde gegen diesen Wortlaut Widerspruch erhoben. Der Großwesir und die beiden Präsidenten hielten eine kurze Beratung ab; schließlich wurde der Eidesleistung folgende Formel zugrunde gelegt: Ich schwöre, daß ich dem Sultan, dem Vaterlcmde, der Nation, der Verfassung und den mir auferlegten Pflichten treu bleiben werde. Da einige Ab- geordnete von dieser Schwurformel abwichen, kam es loieder zu Zwischenfällen. Die H o d s ch a S machten religiöse Zusätze und der Grieche Bossios weigerte sich, mehr zu sagen als: Ich schwöre. Zeitweise herrschte im Saale lebhafte Erregung, während der Sultan in der Loge interessiert den Vorgängen folgte. Nachdem alle Senatoren und Abgeordneten den Eid ge- leistet hatten, übernahm Kammerpräsident Achmed Riza das Prä- sidium und bat den Sultan, den Verhandlungen der Kammer bei- zuwohnen. Das Haus verhandelte sodann über einen Artikel des Preßgesetzes. worauf der Sultan das Parlament verließ. Abdul Hamids Schätzt. Koustantinopel, 21. Mai...Tanin" zufolge ergaben die Recherchen im Uildiz, daß Abdul Hamid 1 10 00 0 0 Pfund in Banken deponiert habe. Sabah will aus authentischer Quelle aus Saloniki erfahren haben, daß Abdul Hamid bereits als erste Zahlung an den Staat einen Scheck von einer Million Pfund auf eine fremde Bank gegeben hat. peHleu. Die russische Intervention und die Parteien. Die russische Bourgeoisie war vom Anfang der Einmischung der russischen Regierung in die persische Revolution für ein energisches Eingreifen. Die Eroberung NordpersienS war für sie ein greifbarerer Gewinn als das Hineinstürzen in die Balkan - wirren, in denen man einem gefährlicheren Feind gegenüberstehen würde, als eS die persischen Revolutionäre sind. Um die Unter- stützung deS Bürgertums für die Regierung in der persischen An- gelegenheit zu gewinnen, stellte dieRossija " nach der Statistik der persischen Handelsbeziehungen, die alljährlich zu Teheran von der belgischen Zolladministration ausgegeben wird, fest, daß die Revolution, die Jntereffen des russischen Kapitals schädigt. Im Jahre 1906/07 betrug der persische Handel mit dem Ausland 156 883 322 Rubel. Der russische Import betrug 44 480 750 Rubel, der englische 26 246 702 Rubel; der russische Export 45 075 933 Rubel, der englische 7 325 819 Rubel. Nach einem Jahr der Wirren, vom März 1907 bis März 1908 betrug der persische Handel 145 102 989 Rubel. Der russische Import betrug 38 234 375 Rubel; er verminderte sich also um 6 246 375 Rubel, der e n g l i s che betrug 83 813 070 Rubel, cr wuchs also um 7 352 668 Rubel. Dieser Unterschied in den Verlusten de? russischen und englischen Kapitals, der nicht ohne Einfluß ist auf die ruhigere Haltung Englands, läßt sich dadurch erklaren, daß die englische Einflußsphäre, Südpersien, von der Revolution verschont war. deren Schauplatz zum größten Teil Nordpersien ist. Die russische Bourgeoisie braucht nicht erst von der Regierung aufgemuntert zu werden. Ihr ist die Aktion der russischen Truppen in Persien zu langsam. DaS OktobristenblattGoloS MoSkwy" ruft nach greifbaren Resultaten. Kühler ist die Haltung der Kadetten, der Partei der reichen Intelligenz. Die Bankrot. teure deS Liberalismus, die die Hoffnung hegten, daß ein pan- flawistifcher Rummel am Balkan , wobei die Regierung an das Vertrauen derGesellschaft" appellieren werde müssen, sie wieder in den Sattel heben wird, können so etwas von der Intervention in Persien nicht erhoffen. Auch die Zurückhaltung Englands, von dem sie das Heil für den Leichnam des rufsifchen Liberalismus