Nr. 118. 26. Jahrgang. 4. KeilM des„öoimärts" fotliiitt KIKsdiM Sonntag , 23. Mal t909. Dn fefniM der Frsm finde!«M, , i« de« dcfimlcir Lsksle« M Partei -?Zngelegenkeiten. Tchöneberg. Die Versammlung des sozialdemokratischen Wahldereins findet am Dienstag, den 25. d. M., abends 8 Uhr. in den Neuen Rathaussälen. Meininger Straße 3 statt. Auf der Tages- ordnung steht:„Der ViermandatSraub."' Referent: Landtagsabgeordneter Genosse H. S t r ö b e l. Arbeiter! Parteigenossen! Der schärfste Protest gegen diesen Raub besteht darin, in Massen in der Versammlung zu erscheinen. Obwohl wir noch nicht wissen, wie das Ergebnis unseres Protestes in unserem LaudtagswahlkreiS ausfallen wird, niüssen wir jetzt schon vorarbeiten. Der Vorstand. Charlottenburg . Der Leseabend für die 3. Gruppe findet am Dienstag, den 25., d. M., abends*/$ Uhr, bei Kirschkowsky, Beussel- straße 9 statt. Der Vorstand. Reiuickcndorf-Ost. Der Diskutier- und Leseabend findet am Montag, abends 8 Uhr, bei Gründer, Hoppestr. 24, statt. Es beginnt ein neuer Kursus. Referent: Schriftsteller Schütte. Wir empfehlen recht zahlreiche Beteiligung. Am Dienstag, abends 8 Uhr, findet bei Falk, HauSotter- firaße 43, die Mitgliederversammlung des Wahlvereins statt. Tages- ordnung:„Der Soldatenhandel deutscher Fürsten im Auslande'. Referentin: Genossin Friedländer. Bezirk Französisch-Buchholz und Umgegend. Heute nachmittag 4 Uhr findet bei Kähne, Berliner Str. 39, eine Mitgliederversamm- lnng statt. Tagesordnung: Vortrag über K. P. Reinders. Referent: Schriftsteller Max Schütte. Diskussion. Vereiusangelegeiiheilen. Gäste sind freundlichst eingeladen. Nieder-Schönhausen- Nordend. Am Dienstag, den 25. Mai. abends 8l!i Uhr, findet bei Schühler, Nordend, Blankenfelder Str. 19, die Mitgliederversammlung des Wahlvereins statt. Tagesordnung: 1. Neuwahl des Schriftführers. 2. Vortrag:„Jugendorganisation und Arbeiterbewegung'. Referent: Genosse Böttcher. Mittcnwalde und Umgegend. Arn Sonntag, den 23. Mai. nach- mittags 4 Uhr. findet eine öffentliche Versammlung im W. Kranich- schen Lokale statt. Friedenau . Am Mittwoch, den 26. er., abends 8Va Uhr: Mitgliederversammlung bei Schellhase, Steglitz , Ahornstr. 15s. Tagesordnung: Aufnahme neuer Mitglieder, Vortrag, Berichte, An- träge und Verschiedeues. Keiner darf fehlen. Der Vorstand. Groß-Lichtcrfclde. Die ordentliche Mitgliederversammlung des Wahlvereins findet am Dienstag, den 25. Mai, abends 8 Uhr, im «Kaiserhof' statt. Spandau . Den Mitgliedern des Wahlvereins, welche sich am Sonntag, den 23. Mai, an der Tour nach Cladow beteiligen, zur Kenntnisnahme, daß die Abfahrt des Motorbootes nachmittags Punkt IVa Uhr von Pichelsdorf(Scharfe Lanke) erfolgt. Zehlendorf . Dienstag, den 25. d. M., abends S'/a Uhr, im Lokal von B. Mickley, Potsdamerstr. 25: Mitgliederversammlung deS Wahlvereins. Auf der Tagesordnung steht ein Vortrag des Genossen Engelbert Graf: Wanderungen durch die Mark. Berliner JVacbrlcbten. Die Treptower Sternwarte im neuen Gewände. Die inneren Einrichtungen der Archenholdschen Stern- warte in.Treptow präsentieren sich nach dem Umbau völlig verändert. Alles ist luftiger, freier, übersichtlicher geworden. Die astronomischen Ausstellungsgegenstände, die bisher ist einem halben Dutzend winkeliger, lichtloser Zimmerchen der- streut waren, füllen jetzt einen einzigen hellen Saal. Den Laien fesseln hier besonders riesige, in Afrika gefallene Meteorsteine, eine astronomisch-technische Darstellung der Eni- stehung von Ebbe und Flut, ein Relief von der Mondoberstäche, vulkanische Gesteine vom Vesuv , eine Nachbildung der Erd- kugelbewegung mit sämtlichen Planeten, ein Zentrifugal- opparat, der die durch ihre schnelle Unidrehung ver- anlaßte Abplattung der Erde beweist. Fernrohrlinsen in allen Dimensionen und Schliffen, bewegliche Sternkarten, Bilder alter Astronomen, als Kuriosität auch ein echtes Stück vom Sarge des berühmten Himniclskundigcn Tycho de Brahe und vieles andere, das durchaus gemeinverständlich angeordnet ist. Allen modernen wissenschaftlichen und volksbildnerischcn An- sorderungen entspricht der neue große Vortragssaal.� In seinem unteren Räume können auf ansteigenden Sitzen 4M Personen, aus einer Galerie noch weitere 100 bequem Platz finden. Letztere ist besonders für Nachzügler bestimmt, damit das untere Audito- rium nicht gestört wird. Die Lichtbilder werden direkt auf die etwas vertiefte Mauerwand geworfen. Der Projektionsapparat ist nach einer ganz neuen Methode so konstruiert, daß er bcispiels- weise eine in den Reflektor eingelegte Taschenuhr auf der Wand mit beweglichem Zifferblatt zeigt. In einer Alinute kann der Saal auch bei hellstem Tageslicht auf elektrischem Wege durch geräuschlose Rollfenster völlig verdunkelt werden. Der Stolz des Gelehrten ist die 1000 Bände umfassende astronomische Bibliothek, die Schätze enthält, welche nicht mal im königlichen Institut zu finden sind. Besonders wertvoll sind die aus dem 13. Jahrhundert stammenden ersten Planetentafeln imd Zeichnungen Fontanas von der Mars- beobachtung im 17. Jahrhundert. Archenhold verleiht grund- sätzlich kein Buch nach Hause, stellt aber solchen Personen, die sich genügend legitimieren und ein besonderes Interesse für Weiterbildung bekunden, ob sie nun Astronomen, Studierende. Schriftsteller, Techniker oder wissensdursttge Arbeiter sind, alles innerhalb der Räume für unbeschränkte Zeit zur Verfügung. Mit diesem Prinzip will man vermeiden, daß Bücher, die zu Demonstrationen und Vorträgen nötig gebraucht werden, nicht zur Hand sind. Die Benutzung wird erleichtert durch einen Lesesaal, der bis 12 Uhr nachts und unter besonderen Umständen noch länger geöffnet ist. Das Interessanteste des ganzen Baues ist die umfang- reiche, einem Dachgarten ähnelnde, mit Tischen und Stühlen besetzte und abends elektrisch erleuchtete Plattform mit dem" Femrohr. Mit diesem Riesenteleskop, das nach Archenholds Plan nur 2M 000 Mark ge- kostet hat. während es nach der alten Methode 4 Millionen gekostet hätte, ist es möglich, in zwei Minuten von einem Punkte des Himmels zum anderen zu gelangen, ohne daß der Beobachter seinen Platz zu verlassen hat und erst eine Kuppel in horizontaler Richtung mitbewegt werden muß. Da liegt der Riese, der„Löcher in den Himmel sieht", einem Kruppschen Festungsgeschütz vergleichbar, nur in den Größenverhältuisseu noch mächtiger— 21 Meter lang, 70 Zentimeter Linsendmch- messer, bei den allerbesten Luftverhältnissen sechstausendfach vergrößernd. Drehpunkt, Sehpunkt und auch der Schiner- Punkt, letzterer durch Anbringung von entsprechenden Gegen- gewichten zu beiden Seiten, sind zusammengelegt— ein astronomisches Ei des Kolumbus! Bei der bis- herigcn Aufstellung großer Fernrohre ist das Rohr von einem Dome umgeben, der natürlich im Innern andere Temperatur hat als außen. Durch verschiedene Temperaturen werden indes Wallungen hervorgerufen, die ein Hin- und Herspriugcn des Sternes verursachen. Zum besseren und billigeren Ersatz der Kuppel ist daher hier in Treptow das Fernrohr mit einem Schutzzylinder aus dünnem Eisen- blech umgeben, der alle Unruhe der Luft im Fernrohr und vor dem Objektiv ausgleicht. Der Beobachter wird geschützt durch den sogenannten Wagen, welcher nichts weiter ist als ein mit Linoleum überspanntes, auf Rädern laufendes Ge- rüst. Die Linse des Refraktors kostete fünfzigtausend Mark. Die Eisenteile des Teleskops haben ein Gewicht von 2iM) Zentnern. Es steht auf einem Zcmeutblock, der alle Erschütterungen abhält. Der Hauptbewegungsmechanismus liegt imJnuern des Fundaments, hat daher auch immer eine gleiche Temperatur. Die Feinbewegung des Fernrohrs besorgt ein elektrischer Motor von V« Pferdckraft, das Heben des mächtigen Rohres ein solcher von 6V3 Pferdekraft. Wohl ein Dutzend kleinerer Fernrohre, die leicht transportabel sind, können beliebig be- nutzt werden. Auf den Treppen, Podien und Rundbühnen sind für das Publikum alle erforderlichen Vorsichtsmaßregeln getroffen. Selbst für Kinder ist die Besichtigung ohne jede Gefahr. Von der Plattform, die reichlich 500 Personen faßt, hat man einen hübschen Ausblick auf Treptower Land und Leute. Ob mal von hier aus der rastlos denkende Menschen- geist mit den vermuteten Bewohnern anderer Planeten Fühlung nehmen wird? Die Hoffnung ist zu schön, als daß man an ihre Erfüllung glauben könnte. » Um der Treptower Sternwarte materiell zu nützen und zugleich den Arbeitern und Parteigenoffen zu berhältnißmäßig billigen Preisen die Einrichtungen des genannten Instituts sowie die von Herrn Archenhold gehaltenen populären Vorträge zugänglich zu machen, haben Gewertschaftcn und Partei eine größere Anzahl Billetts übernommen. Wir möchten bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß Doppelbilletts, die zu den Vorträgen wie zur Be- sichtigung des Riesenfernrohrs berechtigen, zum Preise von 89 Pf. bei den Bezirks sühreru zu haben sind. Für den Wcitcrbau der Untergrundbahn Spittelmarkt- Alexanderplatz sind die Vorarbeiten in vollem Gange. Die Pläne für Verlegung der Kanäle und Rohrleitungen, welche dem Bahn- tunnel weichen müssen, sind nahezu vollendet. Gegenwärtig werden noch die schwierigsten Projekte dieser Strecke bearbeitet, das sind die sehr tief liegende Bähuhofsanlage in der Jnselstraße, woselbst sich die Bahn zur Spreeunterfahrung senkt, und der Spreetunnel selbst. Die Spree ist hier, westlich der Waisenbrücke, in schräger Linie zu unterfahren; das unter dein Flußbett liegende Tunnel- stück wird daher über hundert Meter lang sein müssen. Es liegen nun verschiedene Vorschläge vor, in welcher Weise der Tunnel unter die Spreesohle einzubringen wäre; er muß mit seiner Oberkante mindestens einen Meter unter dem Flußbett liegen, gut mit Eisen armiert und mit einem Steinwall umgeben sein, damit schleifende Schiffsanker usw. ihm keinen Schaden zufügen können. Das Ideal einfacher und praktischer Ausführung wäre der Tagesbau, d. h. wenn es gelänge, die Spree in zwei oder drei Abteilungen durch Fang- dämme abzudämmen, die abgedichteten Baugruben auszu- heben und den Tunnel, wie in den Straßen, einzubauen. Tief- bohrungen haben ergeben, daß der Untergrund der Spree� unterhalb des schlammigen Bettes aus gutem Sandboden besteht, wenigstens ist man auf gefährliche, wasserführende Tonschichten nicht gestoßen. Sollte dies sich nicht als ausführbar erweisen, so würde man zur Druckluft- Fundierung greifen müssen, bei welcher der Wasserspiegel künstlich durch Preßluft gesenkt wird, damit die Tunnelarbeiten im Trockenen ausgeführt werden können. Aeußersten Falles müßte endlich zum Caissonbau gegriffen werden, wie man ihn neuerdings z. B. beim Bau des Pariser Metropolitains mit Erfolg angewendet hat. Dies würde hier etwa in der Weise geschehen, daß man drei Tunnelstücke von zirka 30 Meter Länge auf Prahmen fertig aus Eisen montiert, das wasserdicht abgeschlossene Eisengerippe zwischen eingerammten Pfählen, welche die Gradführung ermöglichen, in die Bahnlinie befördert und durch entsprechende Belastung zum Sinken bringt. Die Belastung kann dadurch geschehen, daß man die hohlen Wände des Caissons mit Beton ausfüllt, daß man ihn oben mit Erde oder Steinen belastet oder den Jnnenraum voll Wasser laufen läßt, das später wieder ausgepumpt wird. Haben die scharfen Kanten des Eisenkastens sich genügend tief in das Spreebett gebohrt, so können die Arbeiter, die sich von 4 zu 4 Stunden ablösen muffen, durch eine Druckluftschleuse hinabsteigen und den Boden, der infolge des Luftdruckes(bezw. Auspumpens des Hohlraumes unterhalb des Caissons) trocken gemacht ist, an den scharfen Außenkanten des eisernen Kastens ausheilen, so daß dieser allmählich bis auf die gewünschte Tiefe sinkt. Diese Bauart ist natürlich sehr schwierig, zeitraubend und teuer und man wird sie daher vermeiden, wenn, wie zu hoffen steht, der Tag es bau sich irgendwie wird ermög- lichen lassen. Voraussichtlich wird mit der Bauausführung noch in diesem Jahre begonnen werden können. Die Verpachtung der städtischen Grundstücke an Schausteller und Karussrllbesitzer führte in einer Versammlung der Haus- und Grund- besitzer der Wedding - und Oranienburger Vorstadt zu einer längeren Besprechung. Ein Redner bezeichnete eS als beschämend, daß die Flächen von der Stadt zu„Rummelplätzen" hergegeben werden, wo die guten Sitten untergraben würden. Die Stadt solle, so wurde verlangt, diese Plätze der Schuljugend überlassen. Bänke aufstellen und durch Anfahre» größerer Sandhaufen auch den ganz Kleinen ein billiges Spielvergniigen schaffen. Diese Verwendung der städtischen Grundstücke wiege den geringen Vorteil der Verpachtung tausendmal auf. ES wurde einstimmig beschloffen, in diesem Sinne eine Petition an die Grundstücksdeputation des Magistrats zu richten. Wir können im vorliegenden Falle den obigen Darlegungen nur zustimmen. Gegen baS Verhängen der Schaufenster an den Sonntagen hat am Freitagabend eine Delegiertenversammlung der kaufmännischen Verbände,"der gewerblichen Vereinigungen und Innungen Protest eingelegt. Als Vertreter der Regierung wohnten den Verhand- lungen Oberpräsidialrat von Bitterfeld und Regierungsrat Felch bei. Das Mitglied der Handelskammer, Kaufmann Grünfeld, referierte über die Notwendigkeit, das Verhängen der Schaufenster an den Sonntagen zu beseitigen. Er verwies dabei auf das Bei- spiel anderer Städte, wo diese Maßregel längst durchgeführt sei. Ter Rcgierungsvertrctcr erklärte, daß die Regierung sich der Trag- weite der Frage wohlbewußt sei. Es seien aber große Jnterepen- kreise, besonders die Handlungsgehilfenverbände. die das Ber - hängen des Schavfenstes on tun Spnntagen wünschten. In eines einstimmig angenommenen Resolution wird von den zustandigen Behörden mit Entschiedenheit die Gewährung der Schaufenster- freiheit verlangt. Die Versammlung, so heißt es in der Resolution, rechnet um so bestimmter darauf, als in einer großen Anzahl deutscher Bundesstaaten und preußischen Provinzen die den Ber - linern vorenthaltene Schaufensterfreiheit längst gewährt worden ist. Die Behauptung des Regierungsvertreters, die Handlungs- gehilfenverbäade wünschten die Verhängung der Schaufenster an Sonntagen, ist nur teilweise richtig und bezieht sich im wesentlichen auf den Deutschnationalen Verband. Der Zentralverband der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen ist dagegen der Meinung, daß keinerlei Nachteile für die Gehilfenschaft bei der Nichtverhängung der Schaufenster an Sonntagen ersichtlich sind. Aus der Irrenanstalt Herzbcrge wird uns wieder ein sehr sonderbares Vorkommnis bekannt. Dort befand sich ein 18jähriges Mädchen Luise P., das nervenkrank war. Am Besuchstag 6. Mai wurde die Mutier nicht vorgelassen, weil der Zustand ungünstiger geworden sei. Am 9. Mai früh wurde sie durch einen Brief der Direktion vom 8. Mai benachrichtigt, es sei„eine plötzliche Ver- schlechterung eingetreten". Der Zusatz:„Besuch auch außerhalb der Besuchsstunde wird anheimgestellt," ließ Schlimmstes befürchten. Frau P. fuhr sofort nach Herzberge und erfuhr dort zu ihrem Schrecken, daß Luise inzwischen schon gestorben sei. Man konnte sie nur noch an die Leiche der Tochter führen. Die Mutter wurde im Bureau sogleich gefragt, ob sie die Tote auf Kosten der Stadt be- erdigen lassen werde. Sie mußte das bejahen, weil sie in dürftigen Verhältnissen lebt. Von einem Beamten wurde der Zeitpunkt der Beerdigung mit ihr verabredet und ihr ein Zettel eingehändigt mit dem Vermerk:„12. 5., Wz vorm., vom Zentralfriedhof in Friedrichs- felde aus."(Diesen Zettel und die übrigen Schriftstücke hat Frau P. uns übergeben.) Frau P. bereitete sich vor, die Tochter zu Grabe zu geleiten, da traf am 11. Mai früh ein Schreiben der Direktion bei ihr ein:„Sie wollen die zu einer eventuellen Eni- laffung der Kranken Luise P.... fehlenden Kleidungsstücke hier niederlegen, und zwar: 1 Kleid, 1 Paar Schuhe und 1 Umhang." Frau P. war fassungslos als sie das las. Ihr erster Gedanke war, daß Luise' nur scheintot gewesen sei. Offenbar hatte man noch am 5. Mai baldige Genesung erwartet, doch schon am 6. Mai war eine Wendung zum Schlechteren eingetreten. Warum aber war dieser vor der Verschlimmerung geschriebene Brief hinterher— so fragte sich die Mutter— doch noch abgeschickt worden? Denn die Außenseite zeigte einen Stempel vom Zentralbureau des Magistrats mit deni Datum„10. Mai 09" und einen vom Postamt Berlin C. 2 mit dem Datum„10. 5. 09". Die Nachricht war. das geht hieraus hervor, erst am 10. Mai durch das Zentralbureau zur Post gegeben worden. Hatte man— diese Frage stieg jetzt der Frau P. auf>— den beiseite gelegten Brief nachträglich abgeschickt, weil das Mädchen ins Leben zurückgerufen worden war? Das Unmöglichste erscheint möglich einer Mutter, die so jäh die Tochter verlor! Zwischen Hoffnung und Zweifel hin. und hergeriffen, eilte Frau P. nach Herz- berge hinaus, aber nur zu rasch wurde ihr Gewißheit, daß die Hoff- nung getrogen hatte. Die Bureaubeamten sahen verlegen einander an und suchten dann der Mutter klarzumachen, wie es gekommen war, daß sie noch nach dem Tode der Tochter diesen Brief erhielt. Uns ist es nicht möglich gewesen, mit Sicherheit festzustellen, was man der Frau P. als Ursache angegeben hat. Sie selber ist aus den Reden der Beamten nicht klug geworden. Ist ihr gesagt worden, man habe sich in der Person geirrt? Wahrscheinlich nicht. Hat man ihr erzählt, daß solche Briefe zunächst nach Berlin an das Zentralbureau gehen, hier noch einige Tage liegen und dann erst zur Post gegeben werden? Möglich; aber Frau P. begriff eS nicht. Mit ihr wird noch mancher andere solche Art der Be forde- rung wichtigerBriefe nicht recht begreiflich finden. Als sie nicht einsehen wollte, daß die Sache„sehr einfach" sei, riß einem der Beamten die Geduld. In eineni Ton. den sie als sehr verletzend empfand, sagte er ihr» das Geld für die Fahrt hätte sie sich sparen können, im Brief stehe doch„5. Mai", sie habe wohl— so verstand Frau P.— eine schwache Auffassungsgabe. Weinend ver- ließ sie die Anstalt. Am anderen Tage, dem für die Beerdigung fest- gesetzten, fuhr sie zu Wz Uhr nach dem Friedhof bei Friedrichsfelde . Aber hier gab es eine neue Bestürzung: niemand wußte etwas von einer Luise P., eine Leiche unter diesem Namen war nicht ein- geliefert worden. Der Inspektor telephonierte nach Herzberge, wo die Leiche bleibe. Frau P. und die in ihrer Begleitung befindlichen Frauen liefen selber noch nach Herzberge hinüber. Im Bureau wurden sie unfreundlich empfangen, die Begleiterinnen wurden schroff hinausgewiesen, Frau P. bekam die kurze Antwort» die Leiche sei jetzt schon unterwegs. In der Leichenhalle der Anstalt wurde ihr das bestätigt und ihr eine Anweisung gezeigt, die den„13. Mai als Beerdigungstag nannte. Frau P. eilte nach FriedrichSfelde zurück, wo inzwischen die Leiche eingetroffen war. Auch hier zeigte man ihr jetzt einen beigcgebenen Zettel, der die Beerdigung erst zum „13. Mai" anordnete. Das Friedhofspersonal war aber einsichtig genug, die hin- und hergehetzte Mutter nicht nochmals nach Hause zu schicken. Ohne Verzug wurde die Tote in ihrem schlichten Sarg zu Grabe getragen und der Erde übergeben. Mancher wird diese Kette von Irrungen als skandalöse Bummelei bezeichnen wollen. Wir raten, das nicht zu tun, sondern sie in geziemender Demut hinzunehmen als eine anscheinend unabänderliche Eigentümlichkeit unserer Gemeindeverwaltung. Die Beamten der freisinnig verwalteten Stadt Berlin , die besoldeten wie die unbesoldeten, fühlen sich sehr rasch beleidigt. An den leiten- den Stellen ist man auch schnell bereit, dafür zu sorgen, daß ihnen in solchen Fällen der besondere Schutz zuteil wird, den das Gesetz den Beamten gewährt. Einem gewöhnlichen Sterblichen aber, der sich einmal durch einen dieser Beamten beleidigt fühlt, kann es passieren, daß er lange warten mutz, bis ihm Genugtuung wird. Auch Frau P. braucht nicht darauf zu rechnen, daß im Rathaus irgend jemand so bald das Bedürfnis verspüren wird, ihr ein Wort der Entschuldigung zu schicken. Die Aufklärung deS UeberfallS auf de« Gelddrieftriger Eulen- bürg schreitet weiter vorwärts. Der Kriminalpolizei kommt dabei zu statten, daß der wegen einer anderen Tat verhaftete Schneider Drechsler sich selbst angegeben hat und nun die Tat in allen Einzel- heiten schildert. Es hat auch bereits eine Gegenüberstellung mit dem noch schwer leidenden Briefträger stattgefunden, auch sind bei der Geliebten des Drechsler, einer Prostituierten, Ulster und Sport- mütze, wovon soviel die Rede war, gesunden worden. Auch daS Beil, mit dem die Tat nach Angaben des D. verübt worden sein soll, ist bei dem ebenfalls verhafteten Handlungsgehilfen Kayser, der in der Fruchtstratze in einem Buttergeschäft angestellt war, gefunden worden, lieber seine Festnahme schien sich Kayser gar nicht zu wundern. Er fragte auch mit keinem Wort nach der Veranlassung. Die weiteren Ermittelungen ergaben, daß Kayser gern die Rennbahn besuchte und viel mit leichtsinnigen Mädchen verkehrte. Sein Einkommen entsprach keineswegs seiner Lebens- weise. Drechsler zu kennen, bestreitet er immer noch. Dieser da- gegen behauptet, daß er viermal niit ihm unterhandelt habe, einmal haben auch Zeugen ein derartiges Beisammensein der beiden beobachtet. Die erste Begegnung geschah zufällig im Tiergarten, wo Kayser mit einem Mädchen dein Drechsler begegnete. Nach einer flüchtigen Bekanntschast nahm Kayser den Drechsler auf
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