„®m 18. Mai erschien im„Berliner Börsen-Courier'(5ir. 230)ein Artikel, der sich mit den Berhaltnissen der Warschau-W i euer Eisen bah nges ellschaft befaiztc. Von„best-informierter Seite" wollte das Vlatt gehört haben, daß mit dem1. Jnli erhöhte Kohlentarife in Kraft treten werden. Und nunwurde in völlig einseitiger Weise der Anteil deS ÄohlenverkehrSan dem gesamten Güterverkehr der Bahn dargestellt sowie dieZunahme der Personen- und Güterbeförderung seit dem Jahre 1898.Damit wollte das Blatt den Beweis erbringen, daß die Warschau-Wiener Eisenbahn„im Zeichen einer konsequent aufwärtsstrebendenVerkehrsentwickelung stehe". Das ist natürlftb richtig, kann aber fastvon jeder Eisenbahn behauptet werden. Vollkommcn verschwiegenhat der„Bürsen-Courier" jedoch, das; während dieser 1» Jähre derErtrag pro Passagier von 82,26 ans 74,36 Kopeken zurückgegangenist, dag ferner das Aktienkapital sich während diese« Dezenniumsverdoppelt hat, die Obligationen von SS, 47 auf 109,73 MillionenRubel gestiegen sind. Trotz dieser günstigen VerkehrSentwickelung hatnämlich die Warschau-Wiener Eisenbahn noch im Jahre 1907 463 700Rubel zur Tilgung von Aktien aus dem Reservefonds nehmen müssen.ESsoll durchaus nicht geleugnet werden, dag nach einer Reihe vonJahren die Verhältnisse der Warschau-Wiener Bahn sich bessernkönnen; vorläufig erwarten selbst Optimisten keine Dividende, selbstwenn die Wünsche der Gesellschaft auf eine Erhöhung der Tarifein Erfüllung gehen sollten. Davon ist aber bis jetzt noch nichteinmal die Rede; wohlweislich gibt das Blatt den Umfang der Tarif-erhöhung nicht an. Das; der„Berliner Börsen-Courier" so einseitigenInformationen Raum geioährt, ist aber namentlich deshalb»nterefiant, weil die Banlfirma Samuel Zielenziger einige Tagevor dem Erscheinen dieses Artikels Käufe in den Aktien derWarschau-Wiener Eisenbahn vornahm, und kurz nachher vonderselben Seite Verkäufe erfolgten. Ich behaupte nun(undbin gern bereit, hierfür den Wahrheitsbeweis zu führen), daßeinige H a n d e l s r e d a kt e u r e des„Berliner Börsen-Eouriers"(vor allem wieder Herr Salon, o n),mit derselben Firma in geschäftlichen Be-Ziehungen stehen, in Beziehungen, die schonnr ehrfach dahin?g es nhrt haben, daß die FirmaGläubigerin der Redakteure gewesen ist."Haussuchung.Die Polizei zeigt wieder einen großen Eifer in russischenAngelegenheiten. An» Freitagnachmittag hat sie dem Bureau-Vorsteher Wilhelm O., Prinzenallee 74.«Treppen, einen stunden-langen Besuch abgestattet und großes Interesse für seineKorrespondenzen bewiesen. Angeblich soll diese HanSsuchimgmit einer in Bremen stattgefundenen Verhaftung einesLetten in Verbindung stehen.Des Königs Rock in der Pfütze.Bei einer Exerzierübung der 4. Kompagnie des Pionierbataillonszu Magdeburg ließ der Unteroffizier Eduard Richter den PionierFriedrich Kiesche, der angeblich die Fußspitzen nicht genug nach untendrückte, auf dem schmutzigen Hof durch die von auftauendem Schneegebildeten Pfützen kriechen, befahl ihm, sich mehrmals nieder-zuwerfen und wieder aufzustehen und dergleichen niehr, so daß Kiescheüber und ülier beschmutzt und vollständig durchnäßt war. Er er-krankte infolgedessen und mußte eine Zeitlang d> S Betthüten.I» der Erregung über das Vorgehen des Unteroffiziers ließ(ich Kiesche zu der Bemerkung hinreißen:„Gott verdamm' mich!Solche Schweinerei I' Weil Kiesche, der sein Gewehr in der Handhielt, sich dabei schüttelte und da» Wasser aus den Rockärmeln laufenließ, zeigte ihn der Unteroffizier obendrein noch wegen Bedrohunganl Das Kriegsgericht verurteilte ihn zu 21 Tagen Mittel-arrest, während der Unteroffizier wegen vorschriftswidriger Be-Handlung— eine Woche Mittelarrest bekam.Der Gerichtshcrr und der Unteroffizier legten gegen daS UrteilBerufung ein. Das OberkricgSgcricht des 4. Armeekorps zu Magde-bürg erkannte am Sonnabend gegen deu Unteroffizier wieder aufeine Woche Mittelarrest, gegen Kiesche aber auf 21 Tagest r e n g e n Arrest..Die Disziplin ist also gerettet.Ein Duelluiordfand vor dem Kriegsgericht Erfurt seine„Sühne'. Am 29. Aprilschoß der Oberleutnant der Reserve, Generalagent Stier ausErfurt, den Referendar Kuhn, Sohn de? Geheimen FinanzratesKuhn a. D. in Weimar, in den dortigen.Ratttannen' nieder.Kuhn war noch nicht zum Schuß gekommen, als er vonseinem Gegner die tödliche Kugel erhielt. Die Ursacke soll, soverlautete damals, darin bestanden haben, daß sich beide Duellantenbeim Kartenspiel geohrfeigt haben. Das Kriegsgericht per-urteilte den Stier zu 2 Jahren 1 Monat Festungshaft; es gingalso un, eine Wenigkeit über das Strafmindestmaß hinaus. DenVerurteilten der„Gnade des Königs zu empfehlen", wie es derVerteidiger wünschte, lehnte der Gerichtshof ab.franfcrdeb.Der Gedenktag der Kommune.Paris, 23. Mai. Bei der heute, wie alljährlich, von denSozialisten auf den, Kirchhofe Pöre Lachaise zum An-denken an die 1371 erschossenen Kommunardenveranstalteten Kundgebung kain es zu einem Z u-sammen stoße mit der Polizei, wobei mehrerePolizeibeamte verletzt wurden.Dazu meldet mts ein Privattelegramm unseresKorrespondenten:Die heutige!lnndgebung an der Mauer der Föderiertennahm infolge der polizeilichen Schikanen einen rechtheftigen Charakter an. Offenbar im Vollgefühl ihresjüngsten über das Proletariat errungenen Sieges hatte dieRegierung das im vorigen Jahre aufgehobene Rede-verbot wiederhergestellt. Als Genosse Vaillant an derManer eine Ansprache halten wollte, untersagte ihm ein Kom-niissar dies. Die Manifestanten, die etwa in der Zahl vonZehntausend dem Ruf der Seine-Föderation gefolgt, wurdenauch durch die Manöver gereizt, womit die in ungeheurenMassen aufgebotene Polizei alle geschlossen marschierendenTrupps auseinander sprengte. Am Ausgang des Friedhofeskam eS zu Zusammenstößen, bei denen die Polizei und dierepublikanische Garde rücksichtslos cinhieb. Sie„eroberte"auch die roten Fahnen zweier Parteiscktionen. Die werdenwohl in ein vaterländisches Museum kommen.Eine Anklage gegen die Regierung.Paris, 24. Mai. Der Verband der Post- und Tele-graphenangestellten ließ heute nacht Anschlagzettel ver«breiten, in denen die Regiermig beschuldigt wird, ihr Versprechennicht gehalten zu haben in der Abficht, einen neuen Aus-stand hervorzurufen, um massenhafte Entlassungenvornehmen zu können.«Wir sind besiegt,' heißt eS dann weiter;„durch die Schuld derjenigen, die ihre Solidaritätspflicht nicht er-füllt haben, sind 600 der Uusrigen abgesetzt und an 2000 Menschenins Elend gestürzt worden. Wir sind besiegt, aber nicht entmutigt."Der Verband hat eine Hilfsaktion für die abgesetzten Postbeamteneingeleitet.Die streikenden Seeleute.Paris, 23. Mai. In M a r f e i l l e hat das Syndikat derS e e le ut e und F is ch e r beschlossen, sich mit den Ausständigenin Dilukirchen, St. Nazaire und Algier solidarisch zu erklären.In D ü n k i r ch e n haben die eingeschriebenen SeeleuteWiederaufnahme der Arbeit beschlossen.Der Generalstreik beschlossen.Marseille, 24. Mai. Die eingeschriebenen Seeleute hieltenbeute die angekündigte Versammlung in der Arbeitöbörse ab,um über den Generalstreik zu beschließen. Der SyndikatSselretärR e s u, welcher als Delegierter nach dem Pariser Kongreß entsandtworden war. befürwortete den sofortigen Ausstand im Zu-sanimenhang mit der Solidarität der übrigen Häfen. DerSekretär der Matrosen. ebenfalls ein Delegierter desPariser Kongresses, erklärte, der Ausstand in diesemAugenblicke stehe im Widerspruch mit den Beschlüssendes Pariser Kongresses. Nach längerer Debatte wurde schließlichder Generalstreik verfügt. Der Ausstand soll solangedauern, bis die SchiffahrtSgesellschasten die Forderungen der See-leute betr. die Regelung der Arbeitszeit an Bord der Schiffe gc-währt haben werden. Die Mannschaften der Dampfer„Jsly" und„Bugesud", welche heute naiibmitiag abdampfen sollen, erklärten,daß sie sich nicht an Bord der Schiffe begeben würden. Ein perma-neittes Streikkomitee ist in der Arbeitsbörse versammelt.Nachwahlen.Paris, 23. Mai. Bei der heute hier im 12. Arrondissementstattgehabten Wahl zur Devutiertenkammer wurde L e f o y e r(s o z.«radikal) gewählt an Stelle de? verstorbenen„unabhängigen"Sozialisten Paschal Gronsset. Nach Bekanntwerden des Wahl-ergebnisics kam eS zu Kundgebungen. Der gewählte Ab-geordnete mußte unter polizeilicher Bedeckung nachseinem Hause begleitet werden, gefolgt von einer 200köpfigeii Menge,die Pereatrufe gegen ihn ausstieß. Die Polizei wurde ebenfallsausgepfiffen. Es kam dabei zu Zusammen st ößen, wobei dreiVerhaftungen vorgenommen wurden.Auch in A v i I l o n im Departement Donne siegte der Sozialistischradikale G a l o t. Durch diese Wahl gewinnen die Sozialistisch-radikalen einen neuen Kammcrsitz.Bürgerliche Hetzereien.Paris, 23. Mai. Aus B r e st wird mehreren Blätterngerüchlweise gemeldet, daß der Mißerfolg des Stapel«laufs deS Panzerschiffes„Danton' einem bös-willigen Anschlag zuzuschreiben sei. Da«„Journalde» DebatS' weist darauf hin, daß das sozialistischeBlatt„Eaalitaire" bereits gestern nachmittag in einem Artikelhämisch gefragt habe, ob das Panzerschiff„Danton", welcheszum Mordwerkzeuge bestimmt sei. sich wohl auch entschließenwerde, den Stapel zu verlassen. Ferner erfährt dasBlatt, daß die Arbeiter, die mit der Einführung derStützen beschästigt waren, die Internationale und einanarchistisches Lied(wie daß dumme Blatt die Carmagnole nennt)sangen, sowie daß der Generalsekretär der Arbeitsbörse, welcher un-besugterweise dem Stapellauf beiwohnte, von den Gendarmen fort-gewiesen werden mutzte. Man habe den Eindruck, daß ein wohlvorbereiteter revolutionärer Plans!) vorliege.Demgegenüber meldet die„Agence Havas" aus Brest, daß vonzuständiger Seite wiederholt erklärt wird, der Mißerfolg desStapellaufes deS„Danton" sei darauf zurückzuführen, daß dieMatzregeln für den Stapellauf schlecht getroffengewesen seien.Italien.Kugeln statt Brot.Sinopoli(Reggio di Calabria), 24. Mai. Etwa 2600 Personenversammelten sich gestern abend auf der Piazza, verlangten dieVerteilung von Lebensmitteln seitens der Stadtbehördenund bewarfen drei Karabiniere, welche die Ruhe wiederherstellenwollten, mit Steinen. Ein Karabiniere, der von einem Steinwurfgetroffen war, gab Feuer, sodann entwaffneten ihn die Mani-festanten und feuerten ihrerseits auf die Karabinieri. Nunmehrgaben sämtliche Karabinieri Feuer, töteten vier und verwundetensechs Manifestanten. Später stellte Militär die Ordnung wieder her.Englancl.Gegen die Flottenpanik.London, 22. Mai. Handelsminister Churchill Hielt inManchester eine Rede über die Panik, die man durch Gerüchteüber Kriegsschiffe, Luftfahrzeuge und andere Popanze mehr her«vorrufen wolle. Je mehr die Panikmacher Geschrei machten, umso größer seü die Ruhe und Verachtung, womit die Masseder Nation ihre Enthüllungen aufnehme. Was die Flotteanlange, so könne er ein Anwachsen des Flottenbudgets um dreiMillionen rechtfertigen, aber er sei kein Betvunderer jener Poli-tiker, die die Muße fänden, eine prahlerische und sensa-tionelle Politik der Rüstungsausgaben zu befür-Worte«. Die Regierung sei zu VerteidigungSmaßnahmen entschlossen. DaS Land solle sich von seinen verantwortlichen Mi-nistern Vorschriften geben lassen, nicht aber durch eine Gesellschaftvon derartigen Politikern und sensationslüsternen Journalisten.Die Regierung gegen die Alarmisten.London, 24. Mai. Im Unterhause stellte heute L o w n e.d a l e(kons.) die Frage, ob die Rmierung entschlossen sei, im lau.senden Finanzjahr acht Schlachtschiffe ersten Ranges aufStapel zu legen. Premierminister Asquith antwortete: Ichhabe den früheren Erklärungen zurzeit nichts hinzuzufü-gen. Vor einigen Tagen hatte Sir John Bar low(liberal) anKriegsminister öaldane eine Anfrage über die von Provinzblätterngebrachte Nachricht, daß sich 66 000 ausgebildete deutsche Soldatenin England befinden und daß in einem Keller unweit des Sharingcroh-Bahnhofes Mausergewehre und eine halbe Million dazu ge-hörige Patronen lagern. In einer schriftlichen Antwort hatte derKriegsminister diese Nachricht als eine außerordentlichtörichte gekennzeichnet. Nun stellte B a r l o w in der heutigenSitzung dieselbe Frage, die Haldane folgendermaßen beantwortete:Sir John Barlow hat recht daran getan, dieses Beispiel einerSorte von A l a r m n a ch r i ch t e n, denen von gedankcn-losen Personen allzu häufig Glauben geschenkt wird, demHause zu unterbreiten. Für jedweden, der auch nur eine blasseAhnung von den Erfordernissen einer Mobilmachung hat. ist dieseUnterstellung lächerlich(Beifall und Heiterkeit). Diese Nachrichtensind dazu angetan, den Ruf unseres gesunden Men-schenvcrstandes im Auslände zu schädigen. Barlow hat sichdaher ein Verdienst erworben, wenn er die Unterstellung der gc-bührenden Lächerlichkeit preisgibt.finnlanci.Die Wahlen.Aus HelsingforS wird uns geschrieben: Nachdem schon kurz telegraphisch gemeldeten Nesultak derLandtagSwahlen sind gewählt: 84 Sozialdemokraten,48 Alifinnen, 28 Jungfinuen, 25 Svekomanen(Schweden),13 Agrarverbändler und 2 christliche Arbeiter. Stimmen er-hielten: Sozialdemokraten 336671, Altfinnen 193688,Jungfinncn 121 004, Svekomanen 104 010, Agrarverbändler 66 649,christliche Arbeiter 23 619. Das Fazit der Wahlen: ein großerS i e g d e r Sozialdemokratie, Stärkung der'Opposition gegen Rußland und Zurückdrängender Altfinttcn.Vor allem fesselt das allgemeine Interesse der großartigeWahlerfolg der finnischen Sozialdemokratie. 336 671Stimmen(gegen 310 043 voriges Jahr) von 841 784 im ganzen—das sind rund 49 Proz. aller im Lande abgegebenen Stimmen!Einen so hohen Prozentsatz sozialdemokratischer Stimmen kannkein anderes Land in Europa aufweisen. Man würde aber fehl-gehen, wollte man das kolossale Wachstum der finnischen Sozial-dcmokratie als momentanen Zufallssieg erklären. In Finnlandgehen Parteiveränderungen überhaupt äußerst langsam vor sich.Wenn man die bei den vorigen Wahlen(1907 und 1903) ab-gegebenen Stimmenziffern aller Parteien bergleicht, so sieht man,daß hier keine jähen, unerwarteten Sprünge vorkommen, sondernein normales Vordringen oder Zurückgehen der einzelnen Parteienstattfindet. Der Entwickelungsgang der finnischen Sozialdemo-kratie ist durch folgende Zahlen gekennzeichnet: Bei den Wahlenzum ersten Landtage erhielten die Sozialdemokraten 329 946 oder37 Proz. aller Stimmen, darauf im Jahre 1903(beim allgemeinenRückgange aller Stimmen) 310 048 oder 33,4 Proz. und jetzt336 671 oder 40 Proz. aller Stimmen.Der Kapitalismus in Finnland ist noch recht schwach ent-'wickelt. Es gibt nur einzelne größere Industriestädte(HelsingforS,Tammerfors, Abo); die Zahl der in den verschiedenen Fabrikenund Etablissements beschäftigten Arbeiter beträgt über 100 000und von diesen hat die Sozialdemokratie etwa 80 Proz. für sichgewonnen. Das Gros der sozialdemokratischen Wähler bilden dieländlichen proletarischen und halbproletarischen Massen, die geradeunter der ungenügenden EntWickelung des Kapitalismus leiden,größtenteils als Landarbeiter für den Sommer und als Wald-arbeiter für den Winter sich verdingen und ihren Arbeitslohnhauptsächlich in natura empfangen. DaS RevolutionLjahr 1906und die Wahlen von 1903 führten diese«T o r p p a r i"(Häusler)der Sozialdemokratie zu und seitdem ergchen sich die bürgerlichenBlätter in Prophezeiungen, daß sie nur zu bald von der Parteiabschwenken werden. Die folgenden Wahlen haben aber nur be-wiesen, daß die Sozialdemokratie es verstanden hat, diese Be»Völkerungsschichten bleibend an ihre Fahne zu fesseln. Vor allemhat die finnische Sozialdemokratie in den letzten vier Jahren einekolossale OrganisationS- und Agitationsarbeit entwickelt: dasNetz der Parteiorganisation umspinnt daS ganze Land, jedeProvinz besitzt ihre Preßorgane, in jeder Stadt und fast in jedemFlecken hat die Arbeiterschaft ihre eigenen Volkshäuser. In derAgitation hat die Sozialdemokratie beständig den entschiedenenKlassenkampf betont und hat es verschmäht, durch allerlei Vor-spicgelungen und Ausreden Stimmenfang zu treiben. Und geradedarum haben die ländlichen Bevölkerungsmassen die Vertretungihrer Interessen der Sozialdemokratie übertragen, weil sie zu derUeberzeugung gekommen find, daß hier im Lande keine anderePartei imstande ist, radikale Reformen durchzuführen und sie ausihrem Elend zu befreien. Und so kommt eS, daß die Sozialdemokratie hier in Stadt und Land so feste Wurzeln gefaßt hat.—Am 1. Juni tritt der finnische Landtag zusammen. Ein Konflikt mit der zaristischen Regierung erscheint unausbleiblich undwahrscheinlich schmiedet man schon in Petersburg Pläne, wie diedemokratische Verfassung Finnlands umzustoßen ist. Doch wasauch die Zukunft bringen mag, in den vergangenen Wahlen hat dasfinnische Volk seinen festen und unerschütterlichen Willen bekundet.Cörhd.Ein Vertrauensvotum.Konftantinopel, 24. Mai. Die Kammer sprach nach er.regier Debatte mit 191 gegen 6 Stimmen dem Kabinett daSVertrauen aus. Im Senat Verla» der Minister deS Innern,Ferid Pascha, das Programm der Regierung. Der Senat sprachder Regierung einstimmig das Vertrauen aus.—Nebcrbürdcte KrieaSaerichte.Sonstantinopel, 24. Mai. Mit Rücksicht auf die Ueber»bürdung der beiden Kriegsgerichte ist ein dritteseingesetzt worden.—_Die Metzeleien in Adana.Koustautinopel, 24. Mai. Der Gouverneur von Kerkuk, welcherdie Metzeleien in Adana, Marosch und Umgegend an-gestiftet hatte, sowie der Militär, und Gendarmerie-kommandant von Kaissarieh wurden verhaftet.PerHen.DaS englische Blaubuch,London, 26. Mai. I(Eig. Ber.)! Auf Verlangen des Unter-hauseS veröffentlichte die Regierung vor wenigen Tagen ein ziem-lich umfangreiches Blaubuch, das einen Teil der diplomatischenKorrespondenz über die persischen Angelegenheiten vom Dezember1966 bis November 1968 enthält(Lorresponckence rsspecting tfte.Akkairs of Persia. No. 1. 1909). ES bringt 326 Depeschen. Berichte und Einlagen, die zwischen den britischen Vertretern inTeheran und Petersburg und den britischen, persischen und russischenStaatssekretären und Ministern gewechselt wurden. Es bringtebenfalls Abschriften der persischen Verfassung, deS Standrechts-erlasses und anderer Manifeste und Verträge. Das Blaubuch istlehrreich und wird stets als eine der Quellen der Verfassungs-kämpfe Persiens der letzten Jahre benutzt werden. Wir könnenhier nur auf einige wichtige Punkte hiniveisen: die Tätigkeit derbritischen und russischen Vertreter in Teheran und auf einige Vor»gänge der persischen VerfassungSkämpfc.>Die Haltung der britischen Vertreter und der britischen Regie,rung war im ganzen eine liberale. Sie war stets vom Gedankengeleitet, dem persischen Volke einen Anteil an der Regierung desLandes zu sichern. Dagegen war die Haltung des russischen Ge-sandten Herrn v. Hartwig darauf gerichtet, den neuen Schahzu schützen. Die britische Regierung, getrieben von der öffentlichenMeinung Großbritanniens, bemühte sich, ihren Einfluß in Peters-bürg gegen jedes militärische Eingreifen Rußlands geltend zumachen, und es ist sicher, daß Persicn nur diesem Einflüsse zudanken hat, daß cL bor dem Schlimmsten bewahrt worden ist. SirEdward Grey stellte der russischen Regierung den Antrag, dieRevolutionäre in der Provinz Aserbaidschan(mit der Haupt-stadt Töbris) als die e i g e n t l i che Behörde anzuerkennenund ihnen die Aufrechterhaltung der Ordnung in jener Gegendanzuvertrauen. Die englischen GcsandtschaftS- und Konsulats-gebäude haben einer großen Zahl von persischen Reformern dasLeben gerettet. Nach der Zerstörung des MedschliS im Juni 1998fand auch u. a. der Redakteur des„Habl-ul-Matin", einer derheftigsten Feinde Englands, seine Zuflucht in der britischen Gc-sandtschaft in Teheran. Der Präsident des MedschliS flüchtete sichins französische Gcsandtschaftsgebäude. Zu Ende deS Jahres 1996,unmittelbar vor der Einführung der Konstitution, befanden sich iinGarten der englischen Gesandtschast in Teheran nicht weniger als14 000 Perser, die dort unter englischem Schutze lebten.Die Lage der Reformer war im ersten Halbjahre 1903 einegünstige. Nur fehlte ihnen die Entschlossenheit und die Einsicht,sie auszunutzen. Der Schah war verzweifelt und seine Wilitär,