8t. 150. 36. Jahrgang. 1. Keilme w Joniiitls" Krrlim Damlerstag, 1. Juli 1909. Reichstag » 271, Sitzung vom Mittwoch, den 30. Juni, nachmittags 1 Uhr. Am Bundesratstische: v. Bethmann-Hollweg . Auf der Tagesordnung steht folgende Interpellation der Abgg. Albrecht«. Gen.(Soz.). „Beabsichtigen die verbündeten Regierungen angesichts des durch die Teuerung der Lebensmittel verursachten Notstandes weiter Volks- kreise eine Gesctzesvorlae über eine zeitweilige Aufhebung der Gctreidezölle und der Zölle auf Futtermittel sowie des§ 11 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1S02 über die Erteilung von Einfuhrscheinen vorzulegen?" Staatssekretär v. Bethmann-Hollweg erklärt auf die Anfrage des Präsidenten, daß er bereit ist, die Interpellation sofort zu be- antworten. Zur Begründung der Interpellation <tryäit oas Wort Abg. Molkcnbuhr(Soz.): Anträge, die Getreidezölle aufzuheben, sind schon zu wieder- holten Malen an die Verbündeten Regierungen gestellt worden. Sobald wir exorbitant hohe Getreidepreise haben, leiden sehr viele unserer Staatsbürger, die ihre Lebenshaltung hcrabdrücken müssen, und daher ist es nicht zu ver wundern, daß ein Drängen danach entsteht, die Maßnahme zu be- seitigen, zufolge deren Deutschland höhere Getreidepreise hat als andere Länder. Die Getreidezölle haben ja direkt den Zweck, die Getreidepreise in die Höhe zu treiben, und wiederholt sind daher in den 90er Jahren auch von den Freisinnigen Anträge gestellt worden, sie zu beseitigen. Es liegt ja auf der Hand, daß der ein- zelne, der nur eine bestimmte Summe für seine Lebenshaltung zur Verfügung hat, durch höhere Getreidepreise erheblich benachteiligt wird. Aber verhängnisvoll sind derartige Preissteigerungen, wenn sie mit einer wirtichaftlichen Krisis zusammenfallen, wie wir sie gegenwärtig haaen. Schon seit 1907 haben wir Krisenerscheinungen, wie das Umsichgreifen der Arbeitslosigkeit. Wie aus dem„Reichs- arbeitsblatt" zu ersehen ist, war i« April d. I. die Zahl der beschäftigten Arbeiter noch erheblich niedriger als im April 1907 trotzdem der Zuwachs der Bevölkerung das Gegenteil sollte erwarten lassen. Wir können daher wohl sagen, daß wir seit Monaten mehr als eine Million Arbeitslose im Lande haben.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Fast jeder Arbeiter hat mit einer längeren oder kürzeren Arbeitslosigkeit zu kämpfen. dadurch wird sein Einkommen schon erheblich herabgedrückt. Aber auch direkt ist ein Mckgang der Löhne zu verzeichnen. Es zeigt sich das deutlich bei den Bergarbeitern, deren Lohne vierteljährlich im„ReichSanzeiger" veröffentlicht werden. Während im Oberbergamtsbezirk Dortmund 1907 der Jahresverdienst 1562 M. betrug, war er im Jahre 1908 auf 1494 M. gesunken. Such auf den königlichen Gruben gingen die Wochenlöhne um 3 M. zurück. Aber dieser Rückgang der Löhne war 1908 noch nicht zum Stillstand gekommen. In Dortmund wurde 1908 noch pro Schicht ein Lohn von 4,82 M. bezahlt, im Jahre 1909 nur von 4.56 M. Im Saarbriickener Bezirk sank im Jahre 1909 der Lohn um 4 Pf. pro Schicht, im Aachener Bezirk um 3 Pf. uro Schicht usw. Diese sinkenden Löhne haben natürlich auch einen starken Einfluß auf die Mittelstandsschichten, die kleinen Handel- und Gewerbetreibenden.(Sehr richtig! bei den Sozial- d-mokraten.) Und gerade in einem solchen Moment sehen wir steigende Getreidepreise, die eine Höhe erreichen, wie wir sie fast noch nie erlebt habe»; sie gehen selbst über das Maß hinaus, das seiner- zeit Graf Kanitz in seinem Antrage von 1894 verlangte. Graf Kanitz verlangte damals für Weizen einen Preis von 215 M., für Roggen von 165 M. Statt dessen haben wir jetzt Preise von 291 M. für Weizen und 190 bis 192 M. für Roggen! Und die Preisbewegung nach oben ist noch nicht zum Stillstand gekommen. Am 25. Juni wurde Weizen in Berlin für die Ab- nähme im September auf 258 notiert, gestern bereits auf 260,26 M. l Man sieht die Preissteigerung als nicht für eine vorübergehende Erscheinung an, sondern rechnet damit, daß sie sich hält. Wenn derartig hohe Preise vorhanden sind, so ist es sehr an der Zeit, einmal zu fragen, was die verbündeten Regierungen zu run gedenken, um dem ein Ende zu machen. Man steht also vor zwei Fragen: Entweder suchen die verbündeten Regierungen Mittel und Wege, um die Preise zu ermäßigen, oder um das Einkommen der Arbeiter zu erhöhen. Die Preise sind nicht durch unsere Getreidezölle allein verursacht, sondern wir haben es auch mit hohen Preisen auf dem Weltmarkte zu tun. Die„Deutsche Tageszeitung" hat ja mit Rücksicht auf die heute zu besprechende Interpellation auf die hohen Preise an anderen Orten hingewiesen und gefragt, welche theoretische Bedeutung die Aushebung der Getreidezölle dann noch habe. Theoretisch mag das richtig sein. praktisch sieht eS aber ganz anders aus. In der Tat sind ja die Weltmarktpreise hoch. Wenn aber die Welt- Marktpreise s o hoch sind, so hat ja jeder Getreidezoll auch jeden Schein von Recht verloren.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozial- demokraten.) Seinerzeit hat ja auch Graf Kanitz in seinem zweiten Antrage von 1895 das Fortbestehen der Getreidezölle nicht haben wollen, wenn die Weltmarktpreise eine gewisse Höhe erreicht hätten. In der Begründung des Antrages war das ausdrücklich ausgesprochen. Als aber bei der Beratung des Zolltarifes der Antrag eingebracht wurde, eine Bestimmung aufzunehmen, daß die Zölle herabgesetzt werden sollen, wenn die Getreidepreise eine gewisse Höhe erreicht hätten, da hat die ganze Rechte, das Zentrum und auch die Nationalliberalen diesen Antrag bekämpft I Sie wollten also die künftige Verteuerung auch dann beibehalten, wenn der Weltmarkt- preis eine geradezu schwindelhaste Höhe erreichte. Im Jahre 1895 waren eben die Agrarier noch nicht zu der Macht gekommen, die sie gegenwärtig haben; sie traten noch wesentlich bescheidener auf l Nun sagt man, von der Erhöhung der Getreidepreise habe die Landwirtschaft garnichts, sondern nur die Händler; denn die hohen Getreidepreise sollen erst dann eintreten, wenn die Landwirtschaft nicht mehr über Getreide verfügt. Demgegenüber ist festzustellen, daß sowohl 1907 wie 1908 die Getreidepreise in den Monaten September bis Dezember, also in den Monaten, in denen die Landwirte ihr Getreide verkaufen, höher waren als der gesamte Jahresdurchschnittspreis betrug I(Hört! hört! bei den Sozialdcmo- kraten.) Fragt man nun nach den Ursachen der ausnahmSweis hohen Getreidepreise, so könnte man zunächst annehmen, daß eine Miß- ernte vorgelegen hat. Aber die Ernteziffern des Jahres 1903 zeigen, daß wir in Roggen geradezu eine Rekordernte gehabt haben von einem Umfange, wie wir sie in Deutschland noch nicht erlebt haben. Und trotzdem fängt das Getreide bereits an knapp zu werden. Darauf haben sogar Zentrumsblätter wie die.Köllnische Volkztg." schon im Mai aufmerksam gemacht. Die„Kölnische Volks- zeitung" wies damals darauf hin, daß infolge der Einsuhrschcine so viel Getreide ins Ausland gegangen ist,' daß vom Beginn des Frühjahrs ab Getreidevorräte in Deutschland kaum noch vorhanden waren; innerhalb von 7 Monaten seien fast lO'/e Millionen Doppelzentner Getreide aus Deutschland ins Ausland gegange»! (Hört I Hört I bei den Sozialdemokraten.) Die„Kölnische Volks- zeitung" wies darauf hin, daß durch diese Ausfuhr im Inland eine Art künstliche Himger-Znot hervorgerufen werde, daß Mühlen feiern müßten, weil ihnen der Rohstoff zur Ver- arbeitung fehle usw.(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Die „Köln . Volksztg." sollte aber ihren eigenen Parteigenossen den Vor- Wurf machen, daß sie solche Zustände herbeigeführt haben.(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)— Herr Rösicke sagte in einer früheren Debatte: Wie kann man Einfuhrscheme Liebesgaben nennen? Er sagte, es seien gcldwertige Dokumente und dem Lande lverde da- mit„ein Dienst erwiesen" I Das kann allerdings nur sagen, wer es für ein nationales Unglück hält, daß Brotgetreide noch im Lande bleibt.(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) In der Tat ermöglichen es diese Einfuhrscheine den Agrariern, zinsfreie Anleihen beim Reiche zu machen. Derartigen Luxus kann sich das Reich nur gestatten, wenn es im Ueberfluß schwimmt.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Wie widersprechend unsere ganze Politik ist, das geht klar und deutlich aus den Begründungen hervor, die die Verbündeten Regierungen regelmäßig unseren Flottenvorlagen gegeben haben. In diesen Be- griindungen heißt eS immer wieder, daß Deutschland die kolossalen Aufwendungen für die Flotte machen müsse, weil es nicht so viel Lebensmittel produziert, als es braucht(Hört! hört! bei den Sozial- demokraten); es müßten im Falle eines Krieges die Handelsstraßen freigehalten werden, damit Lebensmittel eingeführt werden können. Also einmal geben wir ungeheure Summen für Kriegsschiffe aus, die die Handelsstraßen freihalten sollen, und dann geben wir auch mitten iiw Frieden Millionen und Abermillionen aus, nur damit inländisches Getreide ins Ausland geschickt werden kann.(Lebhaftes Hört l hört l bei den Sozialdemokraten.) Das ist eine widerspruchsvolle Politik ohne gleichen. Ich muß auch verweisen auf die enormen Schädigungen, die unseren Finanzen durch die Einfuhrscheine geschlagen werden: Von den Zöllen, die 1907 entrichtet werden mußten, wurden 49 749 000 Mark durch Einfuhrscheme beglichen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) 1908 stieg diese Summe auf 90 706 000 Mark, und jetzt— in den ersten fünf Mo naten dieses Jahres— beträgt die Summe bereits 42 875 000 Mark gegenüber 28 500 000 Mark im Vorjahre I(Hört hört! bei den Sozialdemokraten.) Wir sehen, daß die Summe fort- gesetzt steigt und daß selbst ein Blatt wie die„Berliner Neuesten Nachrichten" schon anfängt, gegen dieses System der Einfuhrscheine sich zu wehren. Und dann noch eins: Bei der Verabschiedung des Zolltarif- gesetzes im Jahre 1902 wurde auf Antrag des Zentrums beschlossen, daß die Mehrerträge aus den Getreidezöllen für Witwen und Waisen zurückgelegt werden sollten. Der Abg. Trimborn rechnete uns vor, daß jährlich 90 Millionen Mark herauskommen würden. Wir haben damals schon starke Zweifel geäußert. Aber die„Germania " erklärte uns, es würden nach Abzug aller Unkosten jährlich immer noch 72 Millionen Mark herauskommen!— Die„Germania " fügte hin- zu: Wenn die Sozialdemokratie sachlich prüfen wollte, würde sie zu der Erkenntnis kommen, daß durch den Zentrumsantrag ein voll- ständiger Ausgleich für die durch die Zollerhöhung verursachte Lebensmittelverteuerung den arbeitenden Klassen gewährt würde.... Ich möchte jetzt den Abg. Trimborn und das gesamte Zentrum fragen: Wo sind die Millionen, die er uns damals vorgerechnet hat? (Sehr gut I bei den Sozialdemokraten.) Irgendwo müssen sie doch verborgen sein. Aber sie sind eben nicht vorhanden, sie sind durch dir Politik der Einfuhrscheine verloren gegangen! Eins ist für mich sicher: wenn einmal auf der ganze» Erde eine große Mißernte eintritt, wenn Hungersnöte ausbrechen, dann wäre Deutschland dasjenige Land, welches am fchärfstcn gc- troffen würde.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Und das ist die Folge Ihrer(nach rechts) Politik. Manche Kreise haben das vorausgesehen, und so erklärt sich der Antrag Kanitz vom 13. März 1895. In diesem Antrag hieß es, daß die Uebcrschüsse aus den Getreidezöllen zur Ansammlung von Vor- räten für außerordentliche Bedürfnisse bereit gestellt werden sollen. Damals wollte man also Vorräte sammeln, heute aber betreibt man eine Politik, die das Gegenteil darstellt I— Wenn die Getreidezölle Ihnen nicht finanzielle Vorteile bringen sollen, weshalb haben Sie dann damals unseren Antrag abgelehnt, nach dem die Zölle außer Kraft gesetzt werden sollten für den Fall, daß die Getreidepreise eine gewisse Höhe er- reicht haben? Dann würden auch die �Einfuhrscheme wegfallen, und dann würde auch deutsches Getreide nicht mehr ins Ausland verschickt. Aber Sie haben unseren Antrag abgelehnt! Sie haben dem Kohlenshndikat die bittersten Borwürfe darüber gemacht, daß es die Kohle ins Ausland billiger verkauft als nach dem In- lande. Ich will das weder beschönigen noch verteidigen. Aber das eine mutz man dem Kohlensyndikat zubilligen, daß es diese Preis- Politik nur durchführen kann auf Grund seiner kräftigen Organisation. Sie jedoch verkaufen deutsches Getreide nach dem Auslande billiger auf Kosten der Steuerzahler, aus deren Taschen Sie sich das Geld geben lassen!(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wie kommt es, daß eine derartige Volksfeind- liche Politik bei uns betrieben werden kann? Man geht immer noch von der Ansicht aus, daß Deutschland ein Agrarstaat sei und daß deshalb alles getan werden müsse, was die Agrarier verlangen. Auch der Kanzler nennt sich agrarischer Kanzler und treibt eine Politik lediglich für die Teile der Bevölkerung, die sich Agrarier nennen.(Sehr richtig I links.) Die Behauptung, daß Deutschland ein Agrarstaat sei, wird nun aber auf das jämmer- lichste zerstört durch die Ergebnisse der letzten Berufs- und Geweriezählung. Nach dieser Zählung ernähren sich in Deutschland von der Land- Wirtschaft und den verwandten Gewerben insgesamt 10>/g Millionen Menschen, während von Handel, Industrie und Verkehr 34 Millionen Menschen leben I(Hört I hört I links.) Auf die Landwirtschaft ent- fallen nur 23 Proz. der Bevölkerung, auf Handel. Industrie und Verkehr aber 56 Proz. Gerade ans der fixen Idee, daß Deutsch- land ein Agrarstaat sei, gründet sich die ganze Junkerherrschaft. Auch in Preußen regieren die Junker, trotzdem Preußen ebensolvenig Agrarstaat ist wie Deutschland . In Preußen entfallen auf die Land- Wirtschaft sogar nur 28,59 Proz. der Bevölkerung, gegen 28,65 Proz. als Reichsdurchschnitt. Also sechshundertstel Prozent macht die Land- Wirtschaft in Preußen noch weniger aus als im Reich, und trotzdem herrschen dort die Junker unumschränkt. Ich frage erneut: wie ist es möglich, daß in Deutschland eine derartige, die gesamte Be- völkerung schädigende Politik auf die Dauer getrieben werden kann? Wir haben es mit Institutionen zu tun, die die Herren auf der Rechten sich zu schaffen verstanden haben und die mächtig genug find, überall die Herrschaft an sich zu reißen. Der Bund der Lanndwirte ist allmählich zu einer politischen Macht geworden, die Deutschland beherrscht. Was war es denn anders, als 1902 die Nationalliberalen für den Zolltarif stimmten, als ein Sich-Beugen unter die Macht des Bundes der Landwirte?(Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) Lasselbe sehen wir auch bei der Regierung. Der Bund der Land- Wirte trat gegen die Handelsverträge auf, die man eine„rettende Tat" nannte, und der Reichskanzler Caprivi mußte sehr bald iveichen. Er war das erste Opfer, das man der organisierten Macht der Land- Wirte brachte.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Und was man dann alles in der Periode von 1894 ab getan hat, um die Agrarier zu versöhnen, will ich nicht aufzählen. Sie sind aber nie zu versöhnen, sondern verlangen einfach Unterwerfung. Das ist auch die Politik, die wir in den letzten Tagen erlebt haben. Fürst Bülow war immer ein Agrarier. In seiner ersten Rede als Reichskanzler sagte er, daß die Regierung dem Gemeinwohl um so besser diene, je höher sie sich über die verschiedenen Interessengruppen und Parteien stelle. Aber in derselben Rede kam, als wir ihn unterbrachen, auch schon der andere Satz vor: „Sie wissen ja noch gar nicht, wie der Hase läuft." In dem Moment, wo wir wußten, daß Fürst Bülow sich den Hasen zum Vorbild nimmt, wußten wir auch: es loar ein agrarischer Hase! (Heiterkeit.) Der agrarische Kanzler, der auf seinem Leichenstein die Worte haben will:„Hier ruht ein agrarischer. Kanzler" war derselbe Herr, der ja auch den schönen Traum der Blockpolitik inauguriert hat. Damals sagte er, es müßten solche Fragen zurückgestellt werden, über die eine Verständigung in absehbarer Zeit nicht möglich sei. Das ist der naivste Satz, den jemals ein Staatsmann ausgesprochen hat. Wie kann ein Staatsmann davon sprechen, Fragen zurückzustellen? Die Fragen drängen sich eben auf!(Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) Warum hat denn Fürst Bülow dann auch nicht die S t e u e r f r a g e n zurückgestellt, um die der ganze Streit entstanden ist?(Sehr gut I bei den Sozialdemokraten.) Wir sehen, daß die Regierung und die Agrarier einen Zustand geschaffen haben, der für das Demsche Reich von recht unangenehmer Wirkung ist. Sie haben Steuern geschaffen, durch welche die Grund- besitzer den Brotesser besteuern, so daß ein erheblicher Teil der Steuern nicht in die Reichskasse fließt, sondern in dir Taschen der Agrarier. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Im Jahre 1907 betrug die deutsche Ernte an Brotgetreide 3465 Tonnen. Durch dew Zoll wurde dieses Getreide um 697 Millionen verteuert. Rechnet man auf den Verbrauch der landwirtschaftlichen Bevölkerung 23 Proz., so bleiben immer noch 502 Millionen Mark, die allein von der Brotverteucrung in die Taschen der Agrarier ge- flössen sind.(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Und dazu kommt noch die Fleischvcrtcnernng! Freilich sagen die Herren, diese agrarischen Maßnahmen feien im Interesse der Landwirtschaft notwendig; sie liegen aber nicht im allgemeinen Interesse der Landwirtschaft, sondern doch lediglich im Interesse der Grundbesitzer, also im Interesse von etwa 21/ä Millionen Personen in Deutschland , von denen die Hälfte eine so geringe Fläche besitzt, daß sie gar keinen Nutzen von den Zöllen hat. Also für die Jntcrcsscu von fünf Viertel Millioneu Grundbesitzern wird diese Politik gemacht. IVz Millionen Landarbeiter haben noch nicht einmal ein Stück Kartoffelland, sondern müssen alles kaufen, und die teuren Preise ebenfalls zahlen. Dieselben Leute, welche die Massen ausplündern und die Lage der Land- arbeiter verschlechtern, sind eS auch, die den Landarbeitern das Koalitionsrecht verweigern, die Landarbeiter von der Krankengesetz- gebung ausschließen und, wo die Landarbeiter versichert sind, be- wirken, daß sie in den niedrigsten Klassen versichert sind l Die Löhne der Landarbeiter kann man ja au§ den Renten berechnen, welche die Witwen der ver- unglückten Arbeiter beziehen. In Ostpreußen erhält eine solche land- wirtschaftliche Witwe 72 Mark! Das entspricht einem Lohne von 360 Mark, den der Mann als ganzen JahreSverdicnst erhalten hat! (Hört! hörtl bei den Sozialdemokraten.) In Westpreußen ist die Witwenrente 73 Mark, der Jahresverdienst des ManneS also 365 Mark. In Schlesien beträgt die Rente 69,76 Mark, der Jahresverdienst des Arbeiters also 348 Mark. Im ganzen Reiche ist der Jahresverdienst des Land- arbciters 433 M., im Westen steht auch der Landarbeiter etwas besser als in den ostelbischen Provinzen. Da sieht nian die ganze Arbeiter- freundlichkeit gerade derjenigen Leute, welche verlangen, daß sie selbst sich auf Kosten der Arbeiter bereichern.(Zustimmung bei den Sozial- demolraten.) Nun, dem Bund der Landwirte haben die Freisinnigen bei den letzten Wahlen noch Wahlhilfe geleistet und so selbst die gegen- wärtige Mehrheit geschaffen.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Der schöne Blocktraum ist jetzt wohl vorüber. Das deutsche Volk aber wird unter den Zuständen noch länger zu leiden haben. Die gegenwärtige Höhe der Futterpreise verursacht ja auch im nächsten Jahre noch hohe Fleijchpreise.(Sehr wahrl bei den Sozial- demokraten.) Die hohen Preise hatten an, und da fragt es sich doch, ob die Regierung nicht Mittel und Wege suchen will, um Er- Mäßigungen der Preise zu erreichen. Bemerke» will ich noch, daß dieselben Leute, welche heute niedrigere Einkommen und höhere Brot'- preise haben, auch noch 400 Millionen Mark neuer Verbrauchssteuern auferlegt bekommen sollen.(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ein Teil der Arbeiter, zum Beispiel die Tabakarbeiter, sollen ja außerdem noch ganz besonders herangezogen werden. Was kann nun die Regierung tun? Wir wissen ja, daß die Gesetzgebung ihr gegenwärtig nicht die Mittel an die Hand gibt, die Zölle ohne weiteres aufzuheben. Dem hat man seinerzeit einen Riegel vorgeschoben. Höchstens bei den Einfuhrscheinen, bei denen eine Minimalfristbestimnumg nicht vor- banden ist, könnte die Regierung die Frist ans etwa eine Stunde estsetzen und sie dadurch ziemlich wertlos machen. Aber das wäre keineswegs genug. Es muß vielmehr eine Acndcruug der Zollgcsctze herbeigeführt werden, obwohl ich glaube, daß die gegenwärtige Mehrheit solche Gesetze genau so vernichten würde, wie sie die ErbschaftS - und Nachlaßsteuer vernichtet hat. Es muß aber doch zu einem offenen Kampf mit den Agrariern kommen!(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Daß dieser Kampf nicht überraschend kommt, möchte ich den Herren sagen, die glauben, daß solche Anträge von gestern auf heute kommen. Mit Vorliebe rufen Sie uns ja den Namen Schippe! zu. Lesen Sie die Rede Schippeis vom 5. Mai 1898, in der er über dasselbe Thema sprach. Damals sagte auch Schippe!; es muß mit den Agrariern einmal zu einem offenen Konflikt kommens; stvar wisse er, daß eS schwer sei, die Liberalen in Bewegung zu etzen, aber die Agrarier treiben es dahin, und derartige Konflikte werden kommen. Wenn die Einfuhrscheine beseitigt und die Zölle aufgehoben werden, so wird die Landwirtschast keineswegs ge- chädigt. Ich behaupte vielmehr, daß sie außerordentlich prosperiert, und berufe mich dafür auf Mitteilungen des deutschen Landwirtschaftstages. Bei der Beratung der Fleischnot im Jahre 1905 lag eine Denkschrift des deutschen Landwirtschasts- tages vor, in welcher der Wert der deutschen Fleisch- Produktion auf über ö'/z. der Milchproduktion auf mehr als eine Milliarde angegeben war, zusammen auf fast fünf Milliarden. Würde man den Wert der Produktion m den übrigen Zweigen der Landwirtschaft hinzurechnen, so würde das Ergebnis 'ein, daß der Wert der landwirtschaftlichen Produktion mit der Wert- zunähme der industriellen Produktion gleichen Schritt gehalten habe. Das wurde 1905 gesagt, vor dem Inkrafttreten des neneu Zolltarifs. Wenn bei Konstantbleiben der Arbeiterzahl die landwirt - schaftlichen Werte einen solchen Aufschwung genommen haben, f»
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