Nr. 235. 26. Iahlgang. 3. WIM des, Ärmels" Wim IsMiitt. Freitag. 8, Oktober 1906. Berliner J�acbricbtem In der Markthalle. Es ist vier Uhr morgens. Ein feiner Regen rieselt her- nieder. Die fahlen Lichter der Straßenlaternen spiegeln sich in den Wasserpfützen. Hier und dort zieht ein Bäcker schon seine Rolläden hoch. Einige Menschen eilen mit hoch- geschlagenem Rockkragen dahin. Schon beginnt sich das Leben in der Großstadt für den heranbrechenden Tag zu regen. Wagen mit hochanfgetürmten Gemüsekörben bewegen sich den Markthallen zu. Hier herrscht ein reges Treiben. Auf der Straße drängt sich Wagen an Wagen, die zu entladen einige„Abträger" keuchend bemüht sind. Wir treten in die erleuchteten Räume der Halle ein. Welch ein Lärmen und Hasten I— Lange, hochbeladene zweirädrige Wagen vor sich herschiebend oder im Eilschritt mächtige Körbe auf den Schultern tragend, bahnen sich die Arbeiter unter fortwährenden Warnungsrufen ihren Weg durch die feilschende Menge. Dazwischen drängen sich Schlächter mit blutigen Fleischstücken, Fischer, aus deren dicht gefüllten Netzen, die sie auf dem Rücken heranschleppen, noch reichlich Wasser herausquillt. „Platz da I"„Vorsehen!" ertönt's von allen Seiten. Dort wird ein Korb mit Obst umgestoßen, und man muß vorsichtig gehen, um auf den von allen möglichen Abfällen bedeckten Fliesen nicht auszugleiten. Die vorhandenen Käufer sind in der Mehrzahl kleinere Grünkramhändler. Straßenhändler und dann zuletzt jene Aermsten, die mit dem Handclskorb am Arm den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein in Fabriken, Werkstellen und Wirtshäusern Rettiche, Radieschen und anderes feilbieten. Alle halten zuerst Umschau, wieviel von den Waren, die sie suchen, vorhanden ist. Danach richtet sich auch hier der Preis. Und so mancher der genau rechnen muß, eilt im Sturmschritt von einer Halle zur anderen, um nur möglichst billig einzu- kaufen. Nachdem man einige Male die Ware musternd vor- überging wird der Verkäufer so obenhin nach dem Preis ge° fragt. Der schlägt natürlich auf. Und nun beginnt ein raffi- wertes Feilschen. Wie wird nicht die Ware herausgeputzt. In den Obstkörben prangen oben die besten Stücke, um Käufer heranzulocken. Eine wahre Wut befällt den Verkäufer, wenn der Käufer die Ware umschütten will, um zu sehen, wie sie in der Mitte und unten ist. Mit den Sprotten und Bück- lingskisten ist es nicht anders; die oberen und unteren Lagen sind gut und in der Mitte ist öfters minderwertigere Ware hineingeschmuggelt. Endlich ist man handelseinig. Alles vor- handcne Geld wird zusamniengesucht, noch beim Zahlen wird versucht, einen oder mehrere Groschen abzuhandeln. Auf mit- gebrachte Wagen jeder Art, bis zum Kinderwagen hinunter, fahren sie nun die Waren nach Hause. Wird man sie schnell genug los werden? Ist sie zu teuer eingekauft? Bange Fragen. — Eine alte Hausiererin, die einem behäbigen Bauern Verwürfe macht, daß er ihr holzige und madige Rettige verkauft hat. lacht man aus. �.Na da haben Sie ja bessere Rettige, warum verkoofen Sie mir denn die nich?"„Nee. lassen Sie man, die sind schon bestellt; die kommen nach'n Westen. Ihre Arbeeter haben gute Zähne und sie klagen ja immer über Fleeschmangel. Wat woll'n se denn noch?" Die Uhr zeigt schon stark auf sieben. Nach sieben Uhr beginnt der Detailhandel , bis dahin müssen auch die Stände geräumt werden. Jetzt treten die Straßenhändler in Aktion. Hat ein Verkäufer noch viel Ware auf dem Halse, so ver- einigen sich mehrere Händler, um ihm seinen ganzen Vorrat, natürlich zu bedeutend ermäßigtem Preis abzukaufen; zum größten Aerger der Gemüsehändler, deren kleinlicher Konkurrenz- «cid ein geschlossenes Vorgehen unterbindet. Bei den Blumenständen ist ein altes verhutzeltes Mämi- lein beschäftigt, den Inhalt seines großen Tragkorbes aus- zubreiten: Farrenwedel. Da diese in der Blumen- und Kranz- binderet gern verwendet werden, finden sich dafür auch immer Abnehmer. Zur Abwickelung seines Handels brauchts nicht vieler Worte. Den Alten hat die Einsamkeit„seiner" Wälder. auS denen er sich schon seit Jahrzehnten sein Material holt, wortkarg gemacht. Früher fand er's näher, doch jetzt muß er weitere Strecken mit der Bahn fahren; oft bis nach Oder- bera. Die Abholzung und Lichtung der Wälder, besonders in der nächsten Umgebung Berlins , tragen Schuld daran. In den Wäldern von Chorin bis nach Oderberg bedeckt das Farren- kraut in Massen den feuchten Waldboden, durch seine graziösen, palmenartigen Wedel eine märchenhafte, intime Stimmung verbreitend. Es ist nach sieben Uhr. Die Markthalle wird gereinigt und dem Publikum geöffnet. Die Engroshändler rüsten zur Heimfahrt. Vorher wird noch ein gutes Frühstück ein- genommen. Die Gastwirte kennen ihr Publikum und sorgen für einen guten Happen. Draußen zwischen den Wagen bewegen sich einige von jenen Unglücklichen, die außer den dürftigen Lumpen, die sie auf dem Leibe tragen, nichts ihr eigen nennen. Mit gieriger Hand revidieren sie die fortgeworfenen, verfaulten Obstrcste aus dem Straßenschmutz, um sie zu verzehren.„Daß mir die Bande bloß nicht noch bei die Pflaumen geht, eifert ein dicker Bauer, ich habe ein paar Kiepen übrig behalten; ehe ich sie unter dem Preis verkaufe, nehme ich sie lieber mit nach Hause und futter die Schweine mit!" Vom Geist der Volksschule. Eine Dienstanweisung für d i e Lehrer und Lehrerinnen der Gemeindeschulen Berlins ist in neuer Fassung von der Schuldeputation aufgestellt worden und hat die Genehmigung des Provinzialschulkollegiums gefunden. Die Schuldepuiation hat sie jetzt durch das„Gemeindeblatt" ver- öffentlicht, das Opus ist daher auch dem profanen Auge des Laien zugänglich geworden. Vom Geist der Volksschule ver- spürt man einen Hauch, wenn man diese Paragraphen durchliest. Sogleich aus dem§ l weht er uns kraftvoll entgegen. Es heißt da: „Die Eemeindcschulen sollen lebendige Gottesfurcht und Vaterlandsliebe in die Herzen der Kinder pflanzen, den Sinn für das Gute, Edle und Wohlanständige in ihnen wecken, ihre geistigen und leiblichen Kräfte entwickeln und ihnen die Kennt- nisse und Fähigkeiten mitteilen, die jedem gesunden Gliede unseres Volkes unentbehrlich sind. Die Erreichung dieses Zweckes sollen alle Lehrer durch ihr eigenes vorbildliches Ver- halten und durch gewissenhafte, treue Erfüllung ihrer Obliegen- Mteu Wich hfym Wissen UÄ> KölWN zu tördern bMüht sein." Gottesfurcht ist das Erste und Vaterlandsliebe das Zweite, was die Volksschule in die Herzen der Kinder pflanzen soll. Das Letzte aber ist die Entwickelung der geistigen und leib- lichen Kräfte samt den Kenntnissen und Fertigkeiten, die man fürs Leben braucht. So ist's richtig? Richtig ist's auch, daß alle Lehrer(die Dienstanweisung versteht unter„Lehrern" stets alle Lehrenden männlichen oder weiblichen Geschlechts) durch ihr eigenes Vorbild die Erreichung der Volksschulzwecke zu fördern suchen, also zu allererst selber Gottesfurcht und Vaterlandsliebe bekunden. Die Sonderstellung, die dem Volksschullehrer in seinen Beziehungen zu den vorgesetzten Behörden wie zum ganzen Staats- Wesen angewiesen wird, erklärt sich aus der Sonderaufgabe, die der Volksschule, der Schule für die Kinder der besitzlosen Klasse, in der bürgerlichen Gesellschaft gestellt ist. Und auch die Gering- schätzuirg, mit der der Volksschullehrer sich allenthalben behandelt sieht, wurzelt darin, daß der Gegenstand seiner Berufstätigkeit. der proletarische Nachwuchs, der besitzenden Klasse ein Gegenstand der Verachtung ist. Ueber den Schulbetrieb finden sich sodann in der Dienst- anweisung eine Reihe Bestimmungen, die für weitere Kreise wenig Interesse bieten. Der Lehrerschaft werden sie ihre Ge- bundenheit und Demutspflicht aufs neue zum Bewußtsein bringen. Den Eltern wollen wir zu besonderer Beachtung denjenigen Paragraphen empfehlen, der sich auf die Schulzucht gegen- über den Kindern bezieht.§ 9 sagt: „Der Lehrer ist verpflichtet, dahin zu wirken, daß in seiner Klasse Zucht und Ordnung herrscht. Er möge im Verkehr mit seinen Schülern Ernst und Liebe walten lassen und, soviel an ihm ist, dahin wirken, daß die Kinder gern zur Schule kommen und die Schule eine Stätte freudiger Arbeit ist. Durch an- regenden Unterricht soll er das Interesse seiner Schüler zu wecken und wachzuhalten bemüht sein. Wegen der körperlichen Züchtigungen wird auf die Ministerialerlasse vom 3. April 1888, vom 22. Oktober 1888 und vom 19. Januar 1999 ver- wiesen. Die Strafe des Nachbleibens darf nur verhängt werden, wenn ausreichende Aufsicht über die Nachbleibenden gewähr- leistet ist und nachdem die Eltern benachrichtigt sind. Boten- gänge dürfen den Kindern niemals übertragen werden. Auch auf das Verhalten seiner Schulkinder außerhalb der Schule soll der Lehrer nach Möglichkeit einwirken, vor allem sie anhalten, daß sie ruhig nach Hause gehen, auf der Straße keinen Unfug treiben und sich an Bescheidenheit und Höflichkeit gegen jeder- mann gewöhnen." Der Ministerialerlaß vom 3. April 1888 hob alle Regierungs- Verfügungen auf, die dem Züchtigungsrecht der Lehrer bezüglich Maß oder Art der Ausführung engere Grenzen zogen, als die Gesetze es tun, mahnte aber, von der gewährten Freiheit den rechten Gebrauch zu machen, und bedrohte Mißgriffe mit bis ziplinarischer Ahndung. Der Ministerialerlaß vom 19. Januar 1999 brachte in Erinnerung, daß Ueberschreitungen oder un- angemessene Anwendung des Züchtigungsrechtes auf milde Be urteilung nicht zu rechnen haben, daß Schulaufsicht und Schul leitung auf maßvolle Handhabung des„nur für Ausnahmefälle bestimmten" Züchtigungsrechtes achten sollen, und daß jede Züchtigung mit Begründung in ein Strafverzeichnis einzutragen ist. Doch in der„Praxis" des Prügelns geht's anders zu. Ueber da? Verhältnis zwischen Schule und Haus sagt§ 11: „In seiner Erziehungsarbeit wird der Lehrer erst dann rechten Erfolg haben, wenn er die häuslichen Verhältnisse seiner Schulkinder kennt und erreicht, daß im Hause der Kinder seine erzieherischen Bestrebungen Unterstützung finden. Der Lehrer möge deshalb jede Gelegenheit benutzen, um mit den Eltern seiner Schüler Fühlung zu gewinnen. Die von den Eltern ge- wünschten Auskünfte über das Verhalten und die Fortschritte ihrer Kinder sind außerhalb der Schulstunden bereitwilligst zu erteilen und jede gewünschte Rücksprache ist, sobald ein be- zügliches Gesuch in angemessener Form vorgetragen wird, zu getvähren. Andererseits werden die städtische Schuldeputation sowie die anderen Schulaufsichtsbehörden jederzeit bereit sein, den Lehrer gegen etwaige Beleidigungen der Eltern zu schützen." Lehrer gegen Beleidigungen zu schützen, würde unseres Er- achtens sehr viel seltener nötig sein, wenn das leidige Prügel- recht der Schule, das nur zu oft die Beziehungen zwischen Schule und HauS trübt, völlig beseitigt würde. Aber daS Prügelrecht gehört freilich zu den Grundpfeilern, auf denen die Volksschule ruht. Gottesfurcht und Stockhiebe sind zwei Haupt- mittel, mit denen der Nachwuchs des arbeitenden Volkes zur demutvollen Gefügigkeit erzogen werden soll. „Bettlerfrechheit." Unter dieser Spitzmarke schreibt Herr Hugo Baumbach, Vorstandsmitglied der Ortsgruppe B c r l i n des Riesen- gebirgsvereins, an die„Vossifche Zeitung" folgendes: „Seit langen Jahren bin ich bemüht, Belästigungen den Be« suchern unseres so schönen heimischen Gebirges fernzuhalten und jedem den Aufenthalt dort so angenehm wie möglich zu ge- stalten.... Im Ricsengebirge treiben sich zahlreiche Bettler, Leiermänner, Blinde, Lahme, ja sogar arbeits- fcheue Kinder, Knaben wie Mädchen(Karten- und Veilchenstein- Verkäufer) h e r u m; 28 derartige Wegelagerer haben sich in diesem Jahre den Touristen dort lästig gemacht. Besserung dieser Zustände kann nur das Publikum selbst schaffen. Jeder Tourist mutz sich zum Gesetz machen, dem Gesindel nichts zu geben." Wir glauben es sehr gern, daß es jenen mit Glücksgütern ge- segneten Menschen, die im Vollen sitzen Und im Riesengebirge die Langeweile vertroiben, nicht immer angenehm ist, durch den Anblick ärmster Leute an den Kontrast zwischen deren Not und ihrem eigenen Ueberfluh erinnert zu werden. Wenn Herr Hugo Baum - dach, der offenbar mit dem Inhaber des in der Warteirburgstr. 23 zu Berlin betriebenen Agentur- und Kommissionsgeschäfts identisch ist. es sich mit zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Almosen heischende oder Reiseangedenken verkaufende Armut aus den be- suchtesten Teilen des Riesengebirges zu vertreiben, so beneiden wir ihn nicht um diesen sozialen Trieb. Als Großstädter sollte der Herr von der Not des Lebens, die ihm selbst höchstwahrscheinlich stets ferngeblieben ist, doch etwas mehr Ahnung haben. Und als Mitglied des Niesengebirgsvcreins müßte ihm eigentlich bekannt sein, daß gerade unter der Dorfbevölkerung des Riesengebirges mit ihrer bis auf die letzte Kraft für Hungerlöhne ausgesogenen Heim- arbeit jahraus jahrein schwere Not herrscht. Ist es da so ver- wunderlich, daß manche Gebirgsbewohner, deren mit 28 angegebene Zahl im Verhältnis zur Sach« doch sehr niedrig ist. sich auf den Stratzenbettel und den Straßenhandel legen? Es mag sein, daß ganz vereinzelt einer dieser Aermsten sich ungehörig benommen hat. Die äußerste Not ist nicht imnier demütig. Aber es geht zu weit, deshalb auch die Gebirgsstraßenhändler einfach als„Wege- lagerer" und„Gesindel" und die sich am Handel aus Familiennot beteiligenden Kinder als„arbeitsscheu" zu bezeichnen. Herr Baum- dach scheint freilich der Meinung zu sein, daß auf diese Weise die Kinder, die zur gewerbsmäßigen Mitarbeit überhaupt nicht da sein sollen, der Heimarbeit entzogen werden und daß dadurch der Ver- dienst des ausbeutenden Arbeitgebers geschmälert wird. Der tvgsch- echte UnternchmerMndPuMl" Wie Berliner Bürger um ihr Wahlrecht rommeu. Verschiedeinn Personen, die gegen die Rickitigkeit der Landtags- Wählerliste Einspruch erhoben haben, ist die Mitteilung zugegangen, daß sie deshalb nicht in der Liste verzeichnet sind, weil sie nicht sechs Monate in Berlin wohnten. Uns sind verschiedene Fälle bekannt, in denen diese Behauptung nicht stimmte. Unter diesen Leuten befand sich auch ein Ingenieur P., der seit dem 31. März hier Wohnt. P. besorgte sich auf dem Polizeirevier eine abgestempelte Meldung und reichte sie dem Wahlburean ein mit dem nochmaligen Antrage auf Aufnahme in die Wählerliste. Daraufhin erhielt P. folgende vom 1. Oktober datierte Antwort: „Nach der eingesandten, auf dem 45. Polizeirevier vom 28. September abgestempelten Meldung wohnen Sie seit dem 31. März 1999 in Berlin , während Sie nach dem Aktenmaterial erst seit 31. Mai er. hier gemeldet sind. Eine Nachtragung in die Liste ist jedoch nicht mehr angängig, da die Listen bereits ab- geschlossen sind. Der ablehnende Bescheid ist Ihnen am 18. d. M. zugestellt, es war somit Gelegenheit gegeben, rechtzeitig den Nach- weis zu erbringen." Nach diesem Bescheid muß das Aktenmaterial des WahlbureauZ in einem sonderbaren Zustande sein. Polizeilich gemeldet ist T. am 31. März, in den Akten des Magistrats steht als Meldung der 31. Mai. Deshalb legt man dem P. die Pflicht des Nachweises auf und weil der Protesterhcber nicht gleich am anderen Tage diesen Nachweis beschafft, kommt er um sein Wahlrecht. Das Achtklassensystem der Berliner Gemeindeschule soll, so wird jetzt gemeldet, noch nicht am 1. Oktober 1919 auf ein S i e b e n k l a s se n s h st e m zurückgeschraubt werden. Noch nicht! Daß die Angabe dieses überraschend frühen Zeitpunktes mit einigem Zweifel aufzunehmen sei, hatten wir von vornherein gemeint. Aber die Absicht, das Achtklasscnsystcm möglichst bald wieder zu be- seitigen, besteht nach wie vor. Und dem Berliner Stadtsreisinn darf man es leider nur zu sehr zutrauen, daß er sie ausführen wird, noch ehe die Frage der Bewährung des Achtklassenflistems sicher entschieden werden kann. Das Kultusministerium soll bisher noch keine Stellung zu dem Plan genomnien haben und das auch in diesem Augenblick noch nicht für ratsam halten. Das sieht fast so aus, wie wenn das Kultusministerium dem übereifrigen Stadtfrcisinn habe abwinken und ihn auf später vertrösten müssen. Auch die Schuldeputation soll offiziell noch nicht Stellung genommen haben— was aber diese Körperschaft nicht hindern wird, das sofort zu tun und dem Plan zuzustimmen, wenn sie die Zeit für günstiger erachten wird. Schließlich wird noch aus Rathaus- kreisen gemeldet, Stadtschulrat Fischer sei„unter kein&i Umständen dafür zu haben, daß in Berlin die Schullinder, die sieben Klaffen durchgemacht haben und noch ein achtes Jahr auf der Schule bleiben müssen oder können, in diesem letzten Jahr der Möglichkeit, sich weiterzubilden, beraubt werden". Es scheint jetzt den Herrn Stadtschulrat doch einigermaßen zu genieren, daß e r es war, der mit seinen abfälligen Aeußerungcn über das Achtklassen- siistem denen um Cassel den Weg ebnete, auf dem sie wieder zum Siebenklassenshstem gelangen zu können meinten. Flugblattverbreitung durch Schulkinder. So oft Wahlen zum Reichstag, zum Landtag, zur Stadtbek- ordnetenversammlung, zu den kirchlichen Körperschaften bevorstehen, muß man sich immer wieder darauf gefaßt machen, daß d i e bürgerlichen Parteien die Kinderarbeit in den Dienst ihrer Sache stellen. Immer wieder erfahren wir. daß sie Kinder dazu mißbrauchen, sie Zirkulare abschreiben zu lassen, Flugblätter austragen zu lassen usw. Geradezu unbegreiflich ist es uns, daß sogar die Schule sich nicht scheut, diesen Leuten die Hilfskräfte noch schulpflichtigen Alter? zu besorgen, die ihnen die Agitation erleichtern und verbilligen. Wiederholt hat im „Vorwärts" der Unfug gerügt werden müssen, daß ein Lehrer oder ein Rektor den ihm anvertrauten Kindern derartige Arbeiten über- tragen hatte. Und auch jetzt wieder gelangt an uns eine Be- schwerde über einen Gemcindeschullehrer, der im Dienste de? Kirchcnliberalismus die Agitation zu den Kirchen» Wahlen mit Hilfe eines Schulkindes betricl'en habe. Dieser neueste Fall wird uns gemeldet aus der Schön- hauser Vorstadt, wo ja die Liberalen der Kirche diesmal einen ganz besonderen Eifer entfalten und auch die Arbeiterbevölke- rung für ihre Sache zu interessieren suchen. In der Sonnenburger Straße erschien bei einem Gastwirt R. ein noch s ch u l p f l i ch> tiges Mädchen und überreichte ihm in seinem Lokal ein auf die Kirchenwahlen bezügliches Flugblatt, mit dem sich die Liberalen speziell an die Gastwirte wenden. Herrn R. fiel auf, daß das Kind ein ganzes Paket solcher Blätter bei sich hatte. Da er mit Flugblattverbreitung Bescheid weiß, so konnte er die Zahl auf 399 bis 499 schätzen. Weil er nun meinte, daß eine solche Be- schäftigung doch wohl für ein Schulmädchen nicht recht geeignet sei, so fragte er nach dem Auftraggeber und manchem, was ihm sonst noch wissenswert schien. Die Kleine nannte ihren Namen, gab ihr Alter auf noch nicht 13 Jahre an und erzählte, sie sei mit dieser Arbeit betraut worden von ihrem Lehrer Bauer, der an der 25 9. Mädchen-Gemeindeschule(Wattstraße) eine Klasse II leitet. In ihrer Begleitung war ein anderes, noch jünger aussehendes Mädchen, das aber wohl nur zum Zeitvertreib mitging. Wie lange mag das Kind, durch das der Herr Bauer Flugblätter verteilen ließ, umhergelaufen sein, bis die Verteilung beendet war? R. hat leider nicht festzustellen versucht, wie lange die Kleine schon umherlief, als sie zu ihm selber kam. Anscheinend verteilte sie nicht nach einem Adressenverzeichnis, sondern mußte überall in den Straßen nach Gastwirtschaften ousschauen und in jedem Lokal ein Blatt abgeben. Sie teilte Herrn R. auch mit, daß sie von Herrn Bauer bezahlt werde. R. unterließ leider zu fragen, wie hoch der Lohn war. Es kennzeichnet die zur Kirche haltenden Gesellschaftskreise, daß gerade sie eö sich ersparen, erwachsene Arbeiter zu beschäftigen, von denen doch wahrlich genug auf der Straße liegen und Beschäftigung suchen. Gerade sie halten es für unbedenklich, in den Dienst ihrer Agitation die Kinderarbeit zu stellen, die ihnen die Agitationskosten verringert. Was hätten übrigens dieser Lehrer und dieses Kind, obwohl beide zur Schule in der Wattstraße gehören, mit der Schön- hauser Vorstadt zu tun? Herr Bauer wohnt in der Schönhauser Vorstadt und spielt dort bei den Liberalen der Kirche eine Rolle. er nahm aber das Laufmädchen aus den Kindern, die ihm in seinem Amt erreichbar sind, aus den Mädchen der weit abliegenden Schule in der Wattstraße. Er selber war keineswegs der Meinung, daß das nicht eine Arbeit für Schulkinder sei. Als das Kind ihm über die Unterredung mit dem Gastwirt berichtete, hatte er sogar den Mut, persönlich in das Lokal zu gehen und R. wegen der Befragung des Kindes zur Rede zu stellen. Er tat das in einer Form, die R. als durchaus ungehörig empfand. Der Herr Lehrer soll ihm angc- kündigt haben, daß R., wenn er sich so etwas noch mal erlaube, sehen werde, was ihm passiere. Fehlt nur noch, daß B. seine Be« Hörde um„Schutz" bittet. Herrn Lehrer Bauer kann selbstverständlich nichts passieren. Wir müssen annehmen, daß die Lehrer, die ihre Schulkinder in den Dienst der Wahlagitation stellen, überzeugt sind, für ihr Tun die Zustimmung der Schulverwaltung zu haben. ES drängt sich hier uns die Frage auf, ob die Scknilverwaltung im Hin- blick ans die schon früher durch den„Vorwärts" veröffentlichten Fälle, die zweifellos so zu ihrer Kenntnis gelangt sind, amtlich etwas„veranlaßt" hat. Die Wiederholung des Unfugs, Schulkinder mit Arbeiten zur Förderung der Wahlagitation zu lieschäftigen. mutz den Verdacht wecken, daß die Schulverwaltung hat verlauten lgsscn. sie finde darin nichtK TadelnSwerleH,
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