Die Vahle» des 21. Oktober. AuZ Baden schreibt man uns: Das badische Voll hat am Donnerstag ein vernichtendes Urteil iiber die Politik der Steuermacher gesprochen. Rückgang der bürgerlichen Parteien auf der ganzen Linie und Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen in Stadt und Land, das war die Signatur deS TageS. 10 Sitze fielen auf den ersten Hieb un-Z zu. darunter ein neuer, während die Nationalliberalen, die bisher herrschende Partei, es nur auf die bescheidene Ziffer von 4 Mandaten brachten, die Demokraten glücklich eines retteten, Freisinnige und Konservative überhaupt leer ausgingen. DaS Zentrum, das seine sämtlichen 23 Mandate vor vier Jahren im ersten Wahlgang erobert hatte, und an weiteren Gewinnen nur durch das bekannte Grofiblockabtommen(das Abkommen zlvischen den ver- einigten Liberalen und den Sozialdemokraten) verhindert wurde, hat es, trotzdem es überall die Unterstützung der Konservativen hatte, nur auf 23 Sitze gebracht. 8o Stichwahlen haben stattzufinden. Die Sozialdemokratie ist an 29 beteiligt, wobei sie in vielen Fällen als dritte Partei den Ausschlag gibt. Nach badischem Wahlrecht gelangt ja jeder Kandidat in die Stichwahl, der zum mindesten IS Proz. der abgegebenen Stimmen erhalten hat. So werden die Nationalliberalen und Demokraten völlig auf unsere Unterstützung angewiesen sein in den Städten Baden-Baden , Rastatt , Adelsheim Offen bürg, Kon stanz, Lahr -Land und anderen. Bei nüchterner Betrachtung und unter Berücksichtigung aller Umstände dürfen wir darauf rechnen, bei den Stichwahlen noch mehrere Mandate zu erobern, so dah die Sozialdemokratie im neuen Land« tage mit mehr als den bisherigen 12 Vertretern einziehen wird. Das Zentrum wird kaum seine alte Stärke behaupten können denn einige seiner Sitze, so die des Kammerpräsidenten Fahren Bach in Freiburg und des Amtsgerichtsdirektors G i e st l e r in Engen -Kostanz, sind stark gefährdet. Aber selbst wenn eS, was nicht wahrscheinlich ist. die Sitze behauptete, die es jetzt in der Stichwahl zu verteidigen hat. so hätte es immer noch einen Verlust, weil cS Karlsruhe-Land bekanntlich gleich im ersten Wahb gang an uns verloren hat. Biel mehr aber noch als diese Erscheinungen, zeigt der starke Rückgang der Stimmen des Zentrums namentlich in den ländlichen Kreisen, wie sehr es an Vertrauen in der Wählerschaft eingebüßt hat. In allen Kreisen, angefangen vom Bodensee bis herunter nach Hessen und Bayern , hat das Zentrum an Stimmen eingebüßt. In Baden-Bühl sank seine Stimmen zahl von 3llö auf 2631 und im benachbarten Kreise Bühl Baden von 3465 auf 2687, in Oberkirch -Achern von 2806 auf 2275 und in Offen bach-Land sogar von 3713 auf 2473 1 Die Sozialdemokratie aber hatte in diesen bisher vom Zentrum beherrschten Kreisen eine erhebliche Stimmenzunahme zu verzeichnen. In Achern -Bühl stiegen wir von 219 auf 830, in Oberkirch - A ch e r n von 175 auf 673, in B ü h l- B a d e n von 151 auf 674 und in Baden-Bühl von 981 auf 1647 Stimmen. In anderen Kreisen waren unsere Gewinne noch größer. In Emmendingen stiegen wir von 414 auf 1 249. in Lahr -Offenburg von 295 auf l?Z5, in Heidelberg -Eberbach von 516 auf lSOl Stimmen. Stimmenzuwachs hat die Sozialdemokratie über- Haupt in allen Kreisen, während der Verlust des Zentrums.in vielen Wahlkreisen 500—1000, in manchen sogar mehr als 2000 beträgt. In den fünf Mannheimer Kreisen stieg unsere Gesamtstimmenzahl von 7306 auf 11255. Die beiden städtischen Heidelberger Kreise müssen die Nationalliberalen, was für sie ganz besonders niederdrückend ist, gegen uns in der Stichwahl verteidigen. Im Kreise Schwetzingen , wo das Zentrum den bauern- bündler'tchen evangelischen Pfarrer Karl tatkräftig unterstützte, ist es hemngefallen, denn es hat nicht einmal die Stimmenzahl be- haupten können, die es vor zwei Jahren auf seinen Kandidaten allein vereinigte. Unser Kandidat, Genosse Kahn, hat dort gute Chancen. Wie sehr das Verdikt deS Volles eingeschlagen bat, zeigt die bürgerliche Presse, die völlig ratlos ist. Der Mannheimer „Generalanzeiger ", das Organ Bassermanns, schreibt in seiner Wahlbetrachtung ganz zerknirscht: „Ein so enorm rapides Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen, wie es sich in jedem einzelnen Wahlresultat ausdrückt, ist nirgends erwartet, auch wohl auf sozialdemokratischer Seite nicht erwartet worden.... Der Liberalismus hat bei diesen Wahlen eine Niederlage erlitten, die freilich von der des Zentrums noch um ein weniges überflügelt wird. Den Sieg des gestrigen Wahltages hat die Sozialdemokratie, hat der Radikalismus davongetragen.... ... Gerade dort, wo es am wenigsten zu erwarten tst, a u f dem Lande find die Wähler vonden bürgerlichen Parteien abgeströmt und haben sich zur Sozialdemokratie geschlagen. Aus dem Zuwachs der wahlsähigen Bevölkerung und aus der Partei der Nichtivähler allein kann sich die Sozialdemokratie unmöglich in dieser Stärke rekrutiert haben, hier müssen also bisher bürgerliche Wähler in Rechnung gesetzt werden. »_«> Nach einer vorläufigen Zusammenstellung, die Anspruch auf Genauigkeit erheben kann, sind bei der Wahl 86184 Stimmen auf die Sozialdemokratie, 117 102 Stimmen auf den klerikal-kouservativen Block, 97 333 auf Nationalliberale, De- mokraten und Freisinnige gefallen. Der schwarzblaue Block hat gegen die letzte Landtagswahl um 19 500 Stimmen, das sind rund 14 Proz., der liberale Block um rund 8500, daS sind rund 8 Proz., abgenommen; die Sozialdemokraten haben sich seit vier Jahren um 35 753 Stimmen, das sind 71 Proz. vermehrt. Die Wahlkreise, in denen die Sozialdemokratie in Stich- wähl steht, sind: Säckingen-Schopfhetni. Stadt Lörrach . Land Lörrach , Schopfheim -Schönau , Freiburg I, II, III, Emmendmgen, Lahr -Stadt, Triberg-Billingen-Wolfach. Lahr -Offenburg , Offen- burg-Stadt, Baden-Stadt, Rastatt -Stadt. Karlsruhe -Land, Karlsruhe II. III, Durlach - Ettlingen - Pforzheim , Bretten - Bruchsal , Heidelberg - Wiesloch . Schwetzingen , Stadt Mann- heim IV, Stadt Heidelberg I, II. Eppingen -SinSheim , Heidcl- iberg-Eberbach, Mosbach . An Stimmenergebnissen auS den Stichwahlkretsen geben wir die folgenden: Karlsruhe III: 2046 Sozialdemokraten, 1343 Freifinnige. 314 Mittelständler...„„„„„.... Durlach -Ettlingen : 1806 Sozialdemokraten, 1879 Konservative, 687 Nntionalliberale... Bruchsal -Turlach: 2363 Sozialdemokraten, 1613 Konservative. 754 Demokraten. 430 Nationalliberale. Hrldrlbcrg-Wiesloch : 2215 Sozialdemokraten, 1776 National» liberale, 1672 Konservative. Schwetzingen : 1975 Sozialdemokraten, 1636 Konservative, 645 Demokraten. 694 NationaUiberale. Atannheim IV: 1866 Sozialdemokraten, 2466 NatlonaMberale, 665 Zentrum. Lahr - S t a 193 Zentrum. Di« Ltntsliberale» für den Großblock. Karlsruhe , 23. Oltober. Nach Einzelbesprechungen der links liberalen Parteivertretungen fand heute nachmittag eine aus dem ganzen Lande stark besuchte Versammlung der Demokraten, Freisinnigen und Nationalsozialen behufs Stellungnahme zu den Landtagsstichwahlen statt. Es wurde eine gemeinsame Kommission auS zwei Demokraten, zwei Freisinnigen und einem Nationalsozialen gebildet, die solidarisch die weiteren Verhandlungen mit dem Endziel des Großblocks für die Stichwahlen führen sollen. Die Stellung der Natimialliberalen ist noch nicht bekannt I Sachsen. Von den 53 Kreisen, in denen die Sozialdemo kratie in Stich wähl steht, heben wir die folgenden 10 heraus. Die Wahlresultate lauten dort: 1. ländlicher Wahlkreis Zittau : Uhlig(Soz.) 3780 Held(k.) 2090. Ringehan(irs.) 1833. Müller(natl.) 1509 St. 2. ländlicher Wahlkreis Ebersbach-Groß-Schöuan: Riem (Soz.) 5814, Rückert(natl.) 4072. Rah»(frs.) 3532 St. 6. ländlicher Wahlkreis Schirgiswalde : Linke(Soz.! 4169, Förster(k). 2566, S-bäfer(natl.) 2184 St. 35. ländlicher Kreis Schwarzenberg: Schreiber(Soz.) 3944, Brodauf(frs.) 2097. Schubart(k.) 1770. Langer(natl.) 705 St. 42. ländlicher Kreis Eibenstock : Zimmer(Soz.) 5917, Edler von Ouerfurth(k.) 4782, Täschner(frs.) 1757 Stimmen. 48. ländlicher Kreis Mylau : Rödel(Soz.) 3242, Singer(natl.) 2848, Schwabe<k.) 1806 Stimmen. 14. st ä d t i s ch e r Kreis Limbach-Meerane : Stolle(Soz.) 8315, Posern(natl.) 6883, Tiebel(Mittelst.) 1839 Stimmen. 15. städtischer Kreis Glauchau-Lichteustein: Wilde(Soz.) 5261, Brink(natl.) 3271, Seidel(Mittelst.) 1820, Bahner(frs.) 1622 Stimmen. 17. st ä d t i s ch e r Kreis Lüßnitz-Stolberg: Temmler(Soz.) 4884, Vorwerk (natl.) 2929. Löscher(k.) 2502 Stimmen. 7. st ä d t i s ch e r Kreis Lomiuatzsch-Mcißen: Schmidt(Soz. 6120, Hofmann(k.) 5687. Müller(natl.) 2347, Barge(srs.) 193: Stimmen.______ Die bayerische keglening für den Zarismus gegen die Kammer. »Fast möchte ich die deutsch-russische Freundschaft eine ata v i st i s ch e nennen"— diese Worte des Fürsten B ü l o w kommen einem unwillkürlich in den Sinn, angesichts de» Hexentanzes in dem größten Teile der deutschen bürgerlichen Presse und des servilen Entschuldigungsgestammels der Offiziösen aus Anlaß des»takt- losen" Beschlusses der bayerischen Abgeordnetenkammer, den bayerisch -russischcn Auslieferungsvertrages zu kündigen. Es steht jetzt bereits fest, daß die bayerische Regierung, nachdem sie mit Berliner maßgebenden Kreisen einen Met- nungsaustausch gepflogen hat, nicht daran denkt, dem Willen des Parlament» nachzukommen. Sie hat im Gegenteil offiziös erklären lassen, daß sich die Kammer eine lieber» schreitung ihrer Kompetenz hat zuschulden kommen lassen. In demselben Sinne hat sich der Geschäftsträger der Petersburger bayerischen Gesandtschaft, Baron v. Hofmann. einem Mitarbeiter der»Nowoje Wremja" gegenüber geäußert und dabei erklärt, er lege der Sache keine politische Wich- ti gleit bei. Die Nachricht des offiziösen»Rußki Invalid", daß die russische Regierung ihren Münchener Gesandten abberufen wolle, scheint den Herren von der Regierung so in die Glieder gefahren zu sein, daß sie in aller Form vor der russischen Regierung Abbitte leisten und den Kosakenftiefel küssen, der sie eben noch mit unsanften Stößen traktiert hat. Die Erörterungen, die sich in der Presse an den Beschluß der bayerischen Kammer knüpften, bieten ein getreues Abbild der jammervollen politischen Zustände im deutschen Reiche. Das Organ der russischen Bureaukratie,„Nowoje Wremja", daS namentlich in Fragen der auswärtigen Politik die vorherrschende Stimmung in den Regierungskreisen widerspiegelt, hat die bayerische Kammer, und indirekt die deutsche Regierung, auf die unflätigste Weise be» 'chimpft:„Apachen, Tynamitardcn. Kannibalen. Idioten, Halunken",— das waren die Worte, die da» russische Schandblatt gebrauchte. Und was war die Antwort der deutschen bürgerlichen Presse? Mit geringen Ausnahmen drückte sie ihr unverhohlenes Mißvergnügen aus, daß die„Taktlosigkeit" des bayerischen Land- tages die guten Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland tören könne. Die konservative Presse war vollends aus dem Häuschen und gebürdete sich so, als ob die Existenz deS Reiche» durch den Beschluß der bayerischen Kammer gefährdet sei. Und die Offiziösen de» Reichskanzler» lieferten den Text zu diesem Spektakel, indem sie der bayerischen Kammer und selbst Herrn v. Podewil» die Leviten lasen, weil sie dem»Deutschenhaß der Panslawisten" Nahrung gegeben hätten! Es war aber nicht bloß die„atavistische" Neigung der preu- zisch-deutschen Reaktion für Rußland , die in diesen Erörterungen grell zum Ausdruck gelangte. Der Beschluß der bayerischen Ab- geordnetenkammer legte die Axt an die Wurzeln des Russenkurses, der von Bismarck proklamiert worden war. Bekanntlich ist der bayerische Auslieferungsvertrag von 1885 auf da» Drängen Bismarcks abgeschloffen worden, der für Preußen einen fast gleichlautenden Vertrag mit Rußland abgeschlossen hat.„Der preußische und der bayerische Vertrag— schreibt die„Rhein . Wests. Zeitung"— sind bisher auch die einzigen im internationalen Strafrechts- und Rechtshilfsverkehr geblieben, die eine Ausnahme eststellten, und Theorie und Praxis haben eS mit seltener Ein- müttgkeit abgelehnt, diese Ausnahme zur Regel werden zu lassen." Die von Bismarck inaugurierte Praxis hatte für Preußen und Bayern den schmachvollen Zustand geschaffen, daß das Prinzip der NichtauSlieferung politischer Verbrecher hier als null und nichtig erklärt und für das Tretben der russischen Geheim. Polizei Tür und Tor geöffnet wurde. Der bayerische Landtag hat nun auf den Antrag der Sozialdemokratie hin diesem System moralisch den Rücken gebrochen. Daher die Entrüstung der reaktionären Presse, die in ihrer Verlegenheit selbst ein Mittel empfiehlt, das seinerzeit von Bismarck als untauglich verworfen würde,— die Auslieferungsfrage nicht in den Landtagen, sondern im Reichstage zu regeln, natürlich unter der Voraussetzung, daß die preußische Russenpolitik die Vertragspolitik de» Reiche» be» herrschen sollte. Wir hätten übrigen» nicht viel dagegen, wenn diese Frage im Reichstage geregelt werden würde. Wollen die Herren den Tanz riskieren, wir werden ihnen gerne aufspielen! rdt: 974 Sozialdemokraten, 905 Nationalliberale, Polftilcbe CUbcrHcbt. Berlin , den 23. Oktober 1009. Der Sieg von Kobnrg Unser Sieg in Thüringen tst noch weit glänzender. als ihn unser gestriges unvollständiges Resultat erscheinen ließ. Es wird heute telegraphiert: Koburg . 23. Oktober. Da» vollständige Ergebnis der Reichs- tagS-Stichwahl ist folgendes: Zietsch(Soz.) 7060» Ouarck (natl.) 6646 Stimmen. Zietsch ist somit gewählt. Genosse Zietsch ist also mit einer Mehrheit von 414 Stimmen gewählt. Im ersten Wahlgange erhielt er 6183, die National- liberalen und Freisinnigen hatten zusammen 6483 Stimmen. Es sind also bei der Stichwahl noch 1035 Stimmen mehr als bei der Hauptwahl abgegeben worden. Der bürgerlich� Gegen kandidat hat im zweiten Wahlgange nicht bloß alle Stimmen erhalten, die Nationalliberale und Freisinnige im ersten Wahl gange hatten, sondern noch 158 Stimmen nichr— die Sozial demokratie aber hat trotzdem ihre Stimmenzahl gegen die tauptwahl noch um 877 vermehren können. Diese 877 neuen uziigler müssen fast ausnahmslos aus den Reihen derer stammen, die im ersten Wahlgange nicht gewählt hatten— von den bürgerlichen Wählern können nur einzelne zur äußersten Linken abgeschwenkt sein. Wie aus dem Kreise berichtet wird, ist denn auch der Freisinn nahezu geschlossen für den Nationalliberalen ein- getreten. Freisinnige Redner haben für die Nationalliberalcu Versammlungen abgehalten, der Abgeordnete Müller-Meiningcn erließ noch in den letzten Tagen einen Austuf für den national- liberalen Kandidaten. Nur in Neustadt stimmten zirka 150 Frei- sinnige für den Sozialdemokraten; in einigen unbedeutenden Landorten blieben einige Freisinnige der Wahl fern. Der Wahlkampf wurde in den letzten Tagen von den„Nationalen" mit größter Gehässigkeit geführt. Die Nationalliberalen über- boten sich in persönlicher Beschimpfung und Verunglimpfung der Sozialdemokratie und ihres Kandidaten. Am Wahltage selbst wurde der letzte Mann von ihnen an die Wahlurne geschleppt. Es hat ihnen alles nichts geholfen. Zur Reichstagsersahwahl in Halle. Der Bund der Handwerker hat sich also doch bewegen lassen, die Kandidatur des Klempnermeistcrs Zweck zurück- zuziehen, und damit stehen sich— wie vorher— nur noch Genosse Fritz Kunert und der Berliner „Asphaltliberale" Reimann gegenüber. In der die Aufstellung der Kandidatur zurücknehmenden Resolution heißt es, daß die Kandidatur den Sozialdemokraten keinen Vorteil, sondern im Gegenteil viele unzufriedene und säumige Wähler an die Wahlurne gebracht hätte. Um aber die Nichtigkeit der eigenen Ansichten zu be- weisen, wolle man die Kandidatur zurückziehen I— Angefügt ist noch eine Kriegserklärung an die Konservativen, ivorin aber höchstens eine Rückzugskanonade zu erblicken ist. Jnzwis�en läßt der„freisinnige" Kandidat Reimann, um sich populär>. machen, seine intelligente Persönlichkeit von den bürgerlic. Zeitungen im Bilde vorführen, was all- gemeines GeK«ter hervorruft. Um diese Art„Agitation" noch wirksamer zu gestalten, läßt er sich nach dem Rezept: Bitte recht freundlich l auf Postwrten verewigen, die aber erst später in Massen verbreitet werden sollen. Das ist freisinnige Angstagitatton I Unseren Genossen bereiten diese harmlosen Mätzchen viel Vergnügen, ohne daß sie sich dadurch von der ernsten AufktärungS- arbeit abhalten lassen. Am Sonntag bereits wird das zweite die Worte und Taten des Freisinns schildernde Flugblatt in zehntausenden Exemplaren verbreitet. Damit geht Hand in Hand eine treffliche Resultate zeugende Versaminlungs- agitation. Genosse Kunert sprach in Orten, wo die Freisinnigen keine hundert Besucher in ihren Versammlungen hatten, vor mehr als tausend Personen I Vielfach müssen unsere Versammlungen unter freiem Himmel abgehalten werden, da alles in Bewegung gesetzt wird, um uns die Lokale abzutreiben. In Wörmlitz, einem kleinen Ort bei Halle, fand eine olche Versammlung statt, die sechshundert Besucher zählte. Der Hof/ in dein sie tagte, war viel zu klein, um die Teilnehmer zu fassen. Diese wußten sich aber zu helfen, indem sie Stall- und Wohnhausdächer erkletterten, um von dort die Rede unseres Kandidaten anzuhören. Besonders erfreulich ist es, öaß die Frauen so zahlreich in die Versammlungen kommen und lebhaftestes Interesse bekunden. Der Anfang unserer Agitation ist vielversprechend; der Eifer unserer Genossen und Genossinnen wird sie noch intensiver und erfolgreicher zu ge- stalten wissen._ Eine leichtgläubige Seele. Der Landrat G r o l m a n n hat im amtlichen Teile des Militscher KreisblatteS" erklärt, daß durch die neue Tabalsteuer die Mehrbelastung einer Zigarre von 5 bis 12 Pf. Verkaufs- wert nur>/« bis 4/io Pf- betrage. Die Veröffentlichung dieser landrätlichen Weisheit hat einen BreSlauer Zigarren- Händler veranlaßt, sich an den Landrat mit der Bitte zu wenden, ihm da» Material zu überlassen, da» er seiner Berechnung zu- gründe gelegt hat. Der Zigarrenhändler behauptete, daß er, der schon seit langen Jahren seinem Berufe obliege, trotz eifriger Reck!- nung nicht zu einem so günstigen Resultat kommen könne. Weil nun aber mit dem höheren Verkaufspreise der Zigarre der Konsum zurückgehe, er aber eine solche Geschäft»schädtgung verhüten möchte, müsse er nach der Veröffentlichung deS LandratS annehmen, daß er sich in seinen Berechnungen getäuscht habe. Der Landrat hat keine Antwort gegeben, weShalb ihm der Zigarrenfabrikant schrieb: „Sir müssen doch von der Richtigkeit Ihrer Kalkulationen völlig durchdrungen und überzeugt gewesen sein, sonst halten Sie. noch dazu in Ihrer Stellung al» Landrat, sich nicht veranlaßt gefühlt, das Resultat derselben zu veröffentlichen." Der BreSlauer Zigarrenhändler scheint die Psyche preußischer LandrSte noch nicht genügend zu kennen. Uns ist völlig klar, wie der Herr Landrat zu seinem seltsamen Ausspruch gekommen ist. Sc hat daS schöne konservative Flugblatt„Ein Wort der Sufllärung an das deutsche Voll" gelesen, daS»om Hauptverein der Deutsch- Konservativen in Berlin herausgegeben worden ist, und die darin angegebenen Steuer- und Preisberechnungen für richtig gehalten. In diesem kuriosen Machwerk wird nämlich tatsächlich behauptet, die neue Steuer auf Zigarren betrage je nach der Qualität nur Vio bis Vio Pf. Allerdings trifft den Herrn Landrat insofern ein Vor- Wurf, daß er geglaubt hat, diese Behauptung wäre richtig. Da er jedenfalls selbst konservativ ist, hätte er wissen müssen, daß konservative Flugblätter gewöhnlich Unsinn enthalten. Die Strafrechtsnovelle. Der Lorentwurf, den die„große" Sachverständigen- kommission zum neuen ReichSstrafgcsetzbuch auszuarbeiten hatte. ist heute herausgekommen. Der Entwurf zählt 310 Para- graphen(das bisherige Strafgesetzbuch 370). Die Todes» strafe wird— selbstverständlich— beibehalten, die be» dingte Verurteilung ins Strafgesetzbuch aufgenommen, die Strafmündigkeit auf das vollendete 14.(bisher 12.) Lebens- jähr gesetzt u. dergl. mehr. Dem Entwurf sind zwei dicke Begründungsbände bei- gegeben. Die Debatte über die Arbeit der Sachverständigen- kommission wird nunmehr zu beginnen haben. Faule Ausreden. In ihrem Bestreben, die gegen die Steuerpolitik der Zentrums» fraktion de» Reichstage« gerichteten Angriffe abzuwehren und für die Belastung der ärmeren Volksschichten durch neue indirekte Steuern Entschuldigungsgründe zu finden, greift die Zentrumspresse zu den kuriosesten Mitteln. Zuerst erklärte sie, im Interesse des Zentrums und der katholischen Kirche wäre eS nötig gewesen. Bülow zu stürzen und den konservativ- liberalen Block zu brechen. Dann begründet sie die Haltung der ZentrnniSpartei bei der Beratung der Reichsfinanzreform mit der Behauptung, der Ar- beiter verspüre im ganzen die Belastung seines Lebensunterhalts durch die neuen Verbrauchssteuern nur sehr wenig, und überdies Wäre er. wenn der liberal-konservative Block die Sache gemacht
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