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Wahl kommandiert. Drei Strahenbabner kamen ins Wahllokal, die noch nie gewählt hatten. Einer von ihnen ist Anhaltiner. Gefragt, weshalb er denn komme, verwies er auf die Kommandierung durch die Vorgesetzten. Solche und ähnliche Dinge sind zahlreich ge- schehen. Indes wird mit dem Jahre löll eine Wendung eintreten. In diesem Jahre geht der Ausnahmezustand, die Absonderung der Arbeiterquarsiere, zu Ende und ferner hat die Sozialdemokratie dies- mal 600 Stimmen mehr gewonnen als die Bürgerlichen zusammen. DaS gibt Gewähr für einen günstigen Wahlausfall im Jahre 1911. Die geistigen Waffen des Zentrums. DieKoblenzer B o l k s z e i t u n g", das Blatt des Reichs- tagsabgeordneten Dr. M a r c o u r, betreibt seit Jahren eine brutale Hetzerei gegen die Verteiler sozialdemokratischer Agitationsschriften. Betonders die Werbekalender haben'S dem Blatte angetan. In früheren Jahren hat eS geradeswegS aufgefordert, denroten" Kalenderverbreitern mitungebrannter Holzasche' zu begegnen. In einer späteren Nummer riet das Blatt einem Kalendervertsiler, wenn er noch mal komme, solle ersich dick kleiden', da ihm das von grohem Nutzen fein könne. Wo das Blatt überEinpfänge' berichtete, die den sozialdemokraii- scheu Landagiiatoren zuteil geworden waren, tat es dies stets in einer Weise, daß ein Blinder die Gutheifzuiig der Roheiten heraus­fühlen konnte. Dieses erbärmliche Treiben deS frommen BlaiteS ist bereits einmal vom Genossen Bebel von der Tribüne des Reichs- tages herunter gebrandmarkt worden. Der Erfolg bestand jedoch nicht etwa im Unterlassen der feigen Hetzerei, sondern das Blatt verfuhr nur weniger plump. So bringt eS auch jetzt wieder(in Nr. 676) einen Artikel, der geeignet ist, die Landbevölkerung gegen die sozialdemokratischen Kalenderverteilcr aufzuwiegeln. Das Blatt schreibt vom Westerwald : DerMärkische Landbote', ein sozialdemokratischer Kalender für ISlO, macht eben die Runde auf dem Laude. In Tausenden 4 i von Exemplaren wird er inwohlwollender Weise' überall gratis berteilt, meistens Sonntags während des Gottesdienstes. Wo er ' noch nicht ist, wird er bald kommen. Er nennt sichVolks- kalender', ein besserer Titel wäreHetzkalender'. Die Bewohner deS Westerwaldes, die helle genug sind, werden denMärkischen Landboten' schon zu geeignetem Zwecke benutzen, besonders für Ofcnzwecke, denn mehr ist diese verhetzende Schrift nicht wert.' Die Schulfrage im oldenburgischen Landtag. Der oldenburgische Ländtag hatte am Freitag einen sogenannten groben Tag'. Die so Heist umstrittene Schulgesetzreform lag zum dritten Male dem Landtag zur Beschlustfassung vor. Die Debatte drehte sich in der Hauptsache um den Antrag auf Ablehnung des Entwurfs im ganzen und dann um einen Antrag, der die Höhe des StaatSzuschnsieS für die Lehrcrbesoldungen und die sonstigen Aufwendungen festlegt. Während die Regierung den Staats- zuschuh erst eintreten lassen wollte, wenn die Ausgaben der Schulgemeinden die Höhe von 7S Proz. der Einkommen­steuer überschritten haben, forderte ein Teil deS VerwaliungS- auSfchusseS, dem die Vorlage zur Beratung oblag, diesen Zuschuh bereits bei 70 Proz., ein anderer Teil darunter die Sozialdemo­kraten schon bei 60 Proz. Die Sozialdemokraten gingen dabei von der Ansicht aus, datz es die erste Pflicht des Staates fei, für die Hebung der Volksschule Mittel zur Verfügung zu stellen. Hinler den Kulissen war zwischen einigen Abgeordneten und der Regierung vereinbart worden, den Staatszuschust auf 66'/3 Proz. festzuscysei. Diese Kubhandelei bildete die Grundlage der Plenorverhandlung. Nachdem Genosse Schulz die Ansicht der Sozialdemokraten mit aller Schärfe vertreten hatte, und der aus dem Pokerprozeh be- kannte Minister Ruhstrat versucht hatte, die Stellung unserer Ge- nosien in Gegensatz zu der Stellung der Genossen in Württemberg zu bringen, wurde der Kompromistantrag von Wrjn Proz. in nament­licher Abstiinnlung mit 24 gegen 18 Stimmen und alsdann das ganze Gesetz mit 24 gegen 17 Stimmen angenommen. Damit gehen die Schulverbände auf die politischen Gemeinden über. Der ilharakrer der Schule ist nach wie vor streng konfessionell. Ebenso hat der Geistliche eine bevorzugte Stellung im Schulvor- stände. Gegen das Gesetz stimmten auster den Sozialdemokraten die Freisinnigen mit Ausnahme des Abgeordneten Tantzen. DaS Geld muh alle werden. Zur Beurteilung der Art, wie die Marineverwaltung gewohnt äst. mit den auf dem Wege des ZollwucherS und der indirekten Steuern aufgebrachten Groschen der armen Leute zu wirtschaften, bietet der nachstehende aus Jena berichtete Fall ein treffliches Beispiel: Vor zwei Jahren hatten die Zeistwerke in Jena von der Marine ieinen Auftrag zur Herstellung einer bestimmten Anzahl von Signal» lampen zu einem festgesetzten Preise erhalten. Die erste Sendung wurde zu dem bestimmten Preise nach Schema P ausgeführt, ge° liefert und abgenommen. Der zweite Auftrag wurde mit der gleichen Präzision ausgeführt, stieß aber bei der Abnahme auf Widerstand. Und der Grund? War die Arbeit schlecht ausgeführt? Nein, so etwas gibt's bei den Zeistwerken nicht I Oder war die Rechnung höher geworden? Nein, nichts von alledem. An den Lampen waren einige KrmstruktionSverbesserungen vorgenommen worden, die eine Verbilligung der Lieferung im Gefolge hatte. Und diese Verbilligung hatte eS dem abnehmenden Marin» Vertreter angetan.Um Himmeiswillen", rief er aus.daS geht nicht. Das Geld ist bewilligt und muh verausgabt werden.' Da war nun guter Rat teuer. Neue Signallampen anzufertigen in der alten Konstruktion, das war zu teuer, und doch mutzte das bewilligte Geld draufgehen. Schliehlich half man in den Zeistwerken der grast- lichen Not dadurch ab, dast man die Verfandkisten der Lampen, 64 Stück an der Zahl, fein säuberlich mit Oelsarbe anstrich. Wohl ijEtn, der sich in der Not zu helfen weist. frankreick. Eine Eiseobahner-Kitttdgebiing. Paris , 11. Dezember. Kabinettschef Briand gestattete die für morgen geplante große Kundgebung der Eisenbahner. Sie werden sich in drei Gruppen nach den Bureaus der Eisenbahngesellschaften begeben und dort ihre Wünsche vorbringen. Italien . DaS neue Ministerium. Rom , 11. Dezember. (Pnvatdepesche desVorwärts.") Das Ministerium S o n n i n o ist in der gemeldeten Zusammen- setzung endlich zustande gekommen. DerAvanti" be- zeichnet das Ministerium als st o ck k o n s e r v a t i v; es spiegle alle schlechten Seiten des Ministeriums Giolitti wider. So wie dieses vermeide eS jedes bestimmte politische Programm und entbehre jeder repräsentativen Persönlichkeit. Sein un- fruchtbarer Konservatiismus sichere ihm die Unterstützung der Klerikalen, bedinge aber die Opposition der äußersten Linken. Auch der bürgerlich-radikaleMessagero" kündigt die Opposition seiner Gruppe an. Sonnino rechnet hauptsächlich auf die Unterstützung der Rechten und eines Teiles der früheren Majorität Giolittis. Die Langwierigkeit der Krise, die nicht auf die Schwierig- keit unter einer Ueberzahl von Aspiranten zu wählen, zurück- zuführen ist, verkündet, wenn nicht alles trügt, eine geringe Lebenstüchtigkeit des neuen Kabinetts. Viele Ministerien haben lange regiert mit Kammern, die ihre Vor- gängcr aus der Taufe gehoben hatten. Aber diese Vorgänger waren eben keine Giolittis, der ein Parlament hinterläßt, das allzusehr für seinen Privatbedarf zugestutzt war. um noch für für ein anderes Ministerium brauchbar zu fein. Ueber das Dilemma:«entweder eine neue Kammer oder zurück zu Giolitti" wird keine Kombinationsfähigkeit und keine Geschick- lichkeit auf die Dauer himveghelfen. Die Kammer ist für den 16. Dezember einberufen worden. Dänemark . Herabsetzung der Militär- und Erhöhung der KnltnrauSgaben. Die radikale Regierung hat dem Finanzmisschust des Folkettiings Abänderungen zu dem von der vorigen Regierung aufgestellien Budget vorgelegt. Die Militärausgaben sollen danach um 5 900 000 Kronen herabgesetzt, die Ausgaben für das Eisenbahn- Wesen um zwei Millionen erhöhl werden. Diese Erhöhung der Ausgaben ist auch deswegen von besonderem Wert, weil sonst die Waggonfabriken Arbeitet entlassen hätten müssen. Aus den Vor- 'chlägen ergibt sich also eine Ersparnis von fast vier Millionen, was bei der elenden Finanzlage deS Landes immerhin ins Gewicht fällt. KuiZlancl. Die Greuel im Lukjanoff-GefängniS in Kijew. Als Ergänzung unserer Mitteilung über den Hunger- streik im Lnkjanoff- Gefängnis bringen wir folgendes Telegramm, das der bulgarische Untertan W. Seminarow an den Dumaabgeordneten, Gen. Geoetschkori richtete:Mein Bruder und noch 80 Gefangene im Lukjanoff Gefängnis be- finden sich seit 22 Tagen in Karzerhaft, mit Schmutz­kübeln und ohne Betten. Sie erhalten am Tage 2 Pfund Brot und ungekochtes Wasser." Orkel. Ministerkrise? Konstantinopel , 11. Dezember. Die Kammer beschäftigte sich heute mit der Jiiterpellation über die Schiffahrt in Meso- p o t a m i e n. Der Grohwesir erklärte, die Regierung sei gesetzlich nicht verpflichtet, die Konvention über die Konzessionierung der anglo-ottomanischen Gesellschaft der Kammer vorzulegen, da der Staat durch diese Konvention nicht belastet werde. Der Führer der Jungtürken H a l i l erkannte, die guten Absichten der Re- gierung an, beantragte jedoch die Vorlegung der Konvention. Der Antrag wurde unter großer Beivegung angenommen und die Sitzung sodann unterbrochen. DaS Kabinett trat darauf zu einem Ministerrat zusammen. Man befürchtet die Demission deS Gesamtkabinetts. Hus der Partei. Parteiliteratur. Im Verlag von Kaden u. Co.(Verlag der»Dresdener VolkSzeitung') zu Dresden erschien soeben: N. Trotzkl), Rußland in der Revolution. 368 Seiten gr. 8° mit zahlreichen Abbildungen. Preis 6 M. Der bekannte russische Genosse will in diesem Werk lein GeschlchtS- werk geben, weil die Zeit zu einer erschöpfenden geschichtlichen Wertung der russischen Revolution noch nicht gekommen ist, sondern die Schilderung eines Augenzeugen und Mitbeteiligten, aus den Er- eignissen heraus empfunden und geschrieben, beleuchtet vom Partei- standpunkt des Verfassers. Das umfangreiche, gut ausgestattete Buch gibt zunächst in einer Einleitung eine Darstellung der sozialen EntWickelung Ruh- lands und eine kurze Charakteristik der russischen Revolution. Dann folgt die Schilderung der Revolution selbst in ihren Haupt- Phasen. Trotzky hat sich im wesentlichen auf die Vorgänge im Brennpunkt der Bewegung in Petersburg beschränkt, er verlätzt den Boden der Residenz nur soweit, als die Revolution selbst ihren Haupttummelplatz an die Küste deS Schwarzen Meeres verlegte (Die rotc Flotte), aufs flachs Land(Der Bauer rebelliert) oder nach Moskau (Der Dezember). Die Geschichte des Niederganges der Revolution folgt. Den größten Raum nimmt darin die Gerichtsverhandlung gegen den Arbeiterdelegiertenbund ein. Den Schlutz machen die Schilderung der Verbannung des Verfassers nach Sibirien und seine Flucht aus. Unter den gut ausgeführten Illustrationen sind interessante Bleistiftskizzen und Federzeichnungen, die von Kämpfern selbst in bedeutsamen Augenblicken des Kampfes hingeworfen wurden. Sozialdemokratie und Schmutzliteratur. Das Wirken der Sozialdemokratie gegen die Schund- und Schmutzliteratur ist kürzlich von dem Dresdener Ober- bürgermeister ausdrücklich anerkannt worden. In der Diözesan - Versammlung der Ephorie Dresden l wurde nach einem Re- ferat: Wider die Schund- und Schmutzliteratur von Dr. Phil . Heber eine Resolution angenommen, in der die zkirchenvorstände aufgefordert werden, die Bäter und Mütter zu veranlassen, den Lescstofs ihrer Kinder zu kontrollieren, und in der ferner der Rat zu Dresden er- sucht wird, nach dem Beispiel anderer Städte energisch gegen die Verbreitung der Schundliteratur vorzugehen. Dazu bemerkte Oberbürgermeister Beutler: Sie fordern in der soeben angenommenen Resolution auch den Rat der Stadt auf, gegen die Verbreitung der Schundliteratur Mastnahmen zu treffen. Der Rat ist hierin aber nicht allein an« ständig, sondern die Sittenpolizei, die unter der Polizeidirektion steht. DaS wird uns aber nicht abhalten, der Angelegenheit, die ich für ein« sehr ernste halte, die größte Aufmcrksamleit zu widmen. Ich erklärte schon heute, datz ich die Frage der Bekämpfung der Schundliteratur in einer der nächsten Sitzungen unserem sozialen Ausschutz unterbreiten werde. Ich glaube, datz wir ans die Kreise, um die es sich in der Hauptsache handelt, um so besser einwirken, wenn auch die Führer der Arbeiterschaft für diesen K a m p f g e w o n n e n w er d e n. Ich kann mit Freuden konstatieren, datz wir bei unseren Matznahmen, weite VolkSkreise mit guter Lektüre zu versorgen, die größte Unter- stützung bei den Leitungen der Gewerkschaften und, sagen wir es nur gerade heraus, der So- zialdemokratie, gefunden haben. Wenn wir diese Herren auf die Gefahren aufmerksain machen werden, die ihren Kindern drohen, werden wir sie als Milkämpfer gewinnen. Darauf- hin werde ich mein Bestreben ganz besonders richten.' Dazu bemerkt unser Dresdener Parteiblatt, dieDresdener Volkszeitimg':Wir quittieren für die Anerkennung, die hier vom Oberbürgermeister den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ge- zollt wird. Wir möchten nur wünschen, datz bei anderen Gelegen- heiten, wo eS etwas mehr kostet als schöne Worte, diese Anerkennung auch zutage tritt. Bon einer.Gewinnung' der Führer der Arbeiterschaft für diesen Kampf kann aber keine Rede sein, weil wir mit Stolz behaupten können. datz unsere Partei praktisch auf diesem Gebiete schon viel mehr leistete, als man sich in der erlauchten Versammlimg vor- genommen hat. Wenn etwas EefprietzlicheS geschehen soll, dann mutz durch eine durchgreifende Schulrcfonn für eine kräftige Hebung des Bildungsgrades gesorgt werden, denn in den meisten Fällen können die Eltern wegen ihrer mangelhaften Schulbildung und ihres täa. lichen harten Kampfes ums Dasein nicht so einschreiten, wie eS nötig wäre. Geistlichkeit und Polizei aber sind machtlos'. Fortschritt im ManSfeldischen. Herr Vogelsang hat mit dem Heranholen deS Militärs und der Maschinengewehre einen Erfolg für unsere Sache eingeleitet, der in seinem ganzen Ilmfange noch gar nicht zu übersehen ist. Schon vor einigen Tagen konnten wir über die Aufnahme von 500 neuen Parteimitgliedern, weiblichen und männlichen, im Streikrevier berichten. Nachdem nun die erste Versammlungsserie beendet ist, stellt sich der Zuwachs an Parteimitglieder imreich?- treuen' ManSjelder Lande auf nicht wenizer als 16001 Die 18 Agiiationsverfammlungen waren sämtlich überfüllt und von einer Begeisterung beseelt, wie man sie selten findet. Die Partei- presse hat gleichfalls mächtig gewonnen, namentlich auch die Gleichheit". Unsere Toten. In Hamburg starb ein Veteran der Arbeiterbewegung, der Arbeitsinvalide I. P. W. M a r c u S. Er ist 86 Jahre alt geworden und war das älteste Mitglied der Hamburger Partei- organisation. Seit den Anfängen der Arbeiterbewegung hat er in Reih und Glied gestanden; noch im hohen Alter beteiligte er sich, wie dasHamburger Echo" mitteilt, an jeder Flugblattver- breitung. Als die Leiden des Alters ihn in seiner Erwerbsfähig- keit beschränkten und er keine Beiträge mehr leisten konnte, er- nannte die Parteiorganisation deS 1. Hamburger Wahlkreises ihn zu ihrem Ehrenmitglied._ Soziales» Ein Aerztekrieg steht zum 1. Januar 1910 in Bocholt bevor. Von dort wird uns geschrieben: Hier befinden sich die Kassenärzte zurzeit sind eS 8 seit Jahr und Tag im Kriegszustände mit den Krankenkassen, die wohl hohe Acrztehonorare zahlen dürfen(80 90 000 M. pro Jahr) aber anscheinend weiternix to seggen" haben sollen. Bisher sind die Aerzte stets siegreich geivesen, aber schließlich ritz den Krankenkassenvorständen, sich im Laufe der Zeit zur Abwehr deS ärztlichen Terrorismus zu einem Krankenkassenverband zusammen- schlössen, denn doch der Geduldsfaden. Und so erlebte man denn hier das seltene Schanspiel, daß Tausende von Kassenmitgliedern (meist christlich organisierte) gegen das 8köpfigs Organisatiönchen der Aerzte denKriegspfad" beschritten. Da man auf friedliche Weise offenbar mit den Aerzten, die jeden ärztlichen Zuzug fern- zuhalten wußten, nicht auszukommen vermochte, stellte man dem Aerzteverein, mit dem man auch bisher die Verhandlungen ge- pflogen hatte, am 1. Juli die Kündigung zum 1. Januar 1910 zu. Hiervon wollten nun aber die Aerzte, unter denen sich auch der Vorsitzende der hiesigen ZentrumSorganisatio» befindet, nichts wissen. Sie bestritten die RechtLgültigkeit der Kündigung, weil diese jedem einzelnen Arzt vor dem 1. Juli hätte zugestellt werden müssen. Daraufhin brach der Krankenkassenverband die Verhand- lungen mit den Aerzten ab und suchte in auswärtigen Zeitungen andere Kassenärzte. Inzwischen entschied das Landgericht Münster den dort anhängig gemachten Prozeß zugunsten deS Krankenkassen- Verbandes. Run wurde ganz im stillen eine Anzahl christlicher Krankenkaflenvertretcr von christlichen Gewerkschaftsführern und christlichen Gewerkschaftsprotcktoren zugunsten der bisherigen Kassenärzte bearbeitet. Infolgedessen wurde in einer am 27. No» vember stattgefundenen Versammlung beschlossen, wiederum Ver- Handlungen mit den bisherigen Kassenärzten anzuknüpfen. Letztere fühlten sich sofort wieder als Sieger und schraubten ihre Forde- rungen demgemäß in die Höhe. Zunächst wurde ihnen nun daS Honorar pro Kassenmitglied um 60 Pf.(auf 9 SR.) erhöht; hierfür leisteten sie allerdings auf die bisherigen ergiebigen Kilometer« gelder Verzicht. Dagegen stellten sie der Forderung betr. An- stellung einiger Spezialärzte entschiedenen Widerstand entgegen und suchten in jeder Weise die Verhandlungen zu verschleppen. Zwei Vorstandsmitglieder(ein Fabrikant und ein Bauunter- nehmer), die sich um das Krankenkassenwesen große Verdienste er- warben hatten, legten infolge deS unbegreiflichen Verhaltens der christlichen Krankenkassenvertreter ihre Aemter nieder und inner- halb des Kreises der Kassenmitglieder selbst erhob sich eine scharfe Opposition gegen die Vertreter, welche anscheinend bereit waren, die Krankenkassenmitglieder den Aerzten aus Gnade und Ungnade zu übergeben. Auch auf feiten der Arbeitgeber fand daS Ver- halten der Aerzte und ihrer Getreuen schärfste Verurteilung, sintemalen die Krankenkassen nicht nurblc-,...", sondern auch einige Rechte haben müssen. Am 2. Dezember wurde nun unter diesem unverkennbaren Druck der öffentlichen Meinung eine Ver- sammlung nach derRotenburg " einberufen. Hier wurde ein- stimmig beschlossen, die Verhandlungen mit den hiesigen Aerzten wieder abzubrechen. Die Aerzte hatten nämlich erklärt, die An- stellung eines Spczialarztes nicht bedingungslos annehmen zu können und ferner die Forderung deS KrankcnkassenvorstandeS, datz der jährliche Urlaub der Aerzte vier Wochen nicht übersteigen und vorher dem VcrbandSvorstande Mitteilung zu machen sei, als standesunwürdig bezeichnet. Das war desGuten' denn doch zu viel, hat aber doch das eine Gute gezeitigt, datz jetzt vor- aussichtlich eine ausreichende Anzahl Aerzte hier angestellt werden wird. Man wird sich hier also auf einen Aerztekrieg gefaßt machen müssen._ Keine Arbeitslosenversicherung in Nürnberg ! In Nürnberg sollte sich am 10. Dezember der Stadtmagistrat mit dem Entwurf für eine Arbeitslosenversicherung befassen, den ein hierzu eingesetzter Ausschutz aufgestellt hat und der eine Ver- bindung des Berner Unterstützungskassensystems mit dem Genter System empfiehlt. Mit dieser Frage befaßt man sich nun schon seit einem vollen Jahre. Nach wiederholten Beratungen einigte sich der Ausschutz über den Entwurf, auf dessen Annahme im Plenum sicher zu rechnen sein schien. Am Freitag aber ergab sich, datz inzwischen ein vollkommener Umschwung, in den Anschau- ungen eingetreten war. Von allen Seiten erhob sich Widerstand dagegen, überhaupt in die Beratung einzutreten; selbst die Herren, die im Ausschutz für den Entwurf eingetreten waren, traten nun- mehr als Gegner auf. Als Verteidiger stand der Sozialdemokrat Genosse Treu allein auf weiter Flur. Die freisinnigen Herren hatten auf einmal allerlei Bedenken: die Sache sei noch nicht genügendbereift", man kenne die finanziellen Folgen nicht, man solle warten, bis der Staat zur Frage Stellung nimmt usw. Eine freisinnige Leuchte war indessen so unvorsichtig, den wirklichen Grund auszuplaudern, ihm paßt eS nicht, datz auch die gewerk- schaftlich organisierten Arbeitslosen unterstützt werden sollen. Er beantragte, die Sacheauf ein paar Jahre" zu vertagen, waö soviel bedeutet, als sie auf Nimmerwiedersehen in den Papierkorb zu versenken. Zum Schlutz wurde ein VermittelungSantrag an- genommen, die Beratung bis Oktober 1910 zu vertagen. Bis dahin wird man wieder neue Ausreden gefunden haben. Es ist zweifei- los, datz die organisierten Unternehmer, denen jede Arbeitslosen- fürsorge ein Greuel ist, den freisinnigen Stadtvätern aufS Dach gestiegen sind und sie zu diesem Umsall veranlaßt haben. Die Zigarcttenfabrikanten und die Heimindustrie. In Dresden tagte eine Versammlung der Zigarettenfabri- kanten, die Heimarbeiter beschäftigen. Den Gegenstand der Be» ratungen bildeten die in der letzten Zeit verschiedentlich vcröffent- lichten Gesetzentwürfe über die Siegelung der Heimarbeit. Im Anschluß hieran wurde über die von der Zigarettcnindustric sowie der Braunschweigcr Konservenindustrie eingerichtete Selbst- kontrolle der Heimarbeit berichtet. Diese besteht darin, datz die von den einzelnen Betrieben beschäftigten Heimarbeiter von hierzu besonders engagierten Beamtinnen und Beamten beaufsichtigt werden, um aus diese Weise eine richtige und saubere Behandlung des Materials und der Fabrikate durchzuführen. Diese durch die Industrie vorgenommene Selbstkontrolle der Heimarbeit wurde als eine zur weiteren Durchführung der gesamten Hausindustrie sehr empfehlenswerte Maßregel begrützt und der Wunsch auSge- sprachen, datz diese zunächst nur in kleineren Kreisen durchgeführte Maßnahme auch für andere Industriezweige nutzbringend auS- gestaltet werden möchte. Es wurde beschlossen, diese Anregungen dem Gesamtvorstand des Verbandes sächsischer Industrieller zur Beachtung und eventuellen weiteren Verfolgung zu übergeben. Damit könnte vielleicht den groben gesundheitlichen Aus- wüchsen, die die Heimarbeiterfabrikate für die Konsumenten haben, in etwas beigekommen werden, sonst aber muh solche private Kon- trolle, namentlich von den Unternehmern ausgeübt, zur Aeseitt- gung der zahlreichen Mißstände in der Heimindustrie in ihrer Wirkung versagen.