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des Monats in die zweite Etatslesung einzutreten. Der Budget- kommission sind bekanntlich nur die wichtigen Teile des Etats und zwar in geringerem Umfange als früher überwiesen worden, so daß das Plenum, unabhängig von dem Fortschreiten der Kommissions- beratungen, an die zweite Etatslesung herantreten kann. ES ist die feste Absicht der Parteien, trotz des frühen Osterfestes, die Etatsberatungen bis Mitte März zu beenden. Inj Januar sollen ferner noch nach Erledigung der Lkommissionsvorberatnng der deutsch -portugiesische Handelsvertrag und der Kolonialnachtrags- etat mit den Forderungen für den Ausbau deS Kolonialeisenbahn- »etzes im Plenum zur Verabschiedung gelangen. Als Wünschens- wert betrachtet man außerden» die Einichaltung eines Schwerins- tages, um sich über die Frage der Veteranenbeihilfen, die bekannt- lich wegen des Fehlens von Deckungsmitteln immer noch nicht gelöst ist, schlüssig zu machen. Es sind die parlamentarischen Wünsche der Mehrheitsparteien, die hier dargelegt werden. Ob tatsächlich die Verhandlungen einen solchen Verlauf nehinen und das Arbeitspensum so schnell herunter- gehaspelt wird, ist ziemlich fraglich. Amüsante Widersprüche. Possierlich ist es, wie sich die Presse der Ritter und Heiligen mit dein Parteitag der preußischen Sozialdemokratie abfindet. Junker und Zentrum sind sich zwar einig in der Absicht, dem Volke seine Rechte so lange als möglich vor- zuenthalten; aber über die Bedeutung des P r e u ß e n t a g e s" gehen ihre Ansichten in der schnurrigsten Weise auseinander. So schreibt dieMark. Volksztg.", der Ableger derGermania ": DerPreußentag" der Sozialdemokraten nahm einen gemütlichen Verlauf: die Debatten sahen aus, als ob lauter alte Spießbürger zu einen, Frühschoppen zusammengekommen seien, wobei es immer auch einige gibt, die mit der Faust auf den Tisch schlagen. Daß eine Resolution in der Frage der Wahlrechtsreform Annahme fand, ist felbstverständ- lich, und daß in dieser das Zentrum verdächtigt wird, überrascht auch niemand. Erhöhte Beachtung verdient, daß die Genossen sich nun aus die Kreis- und Bezirksausschüsse werfen wollen, um dort ihren Einzug zu halten. Der ganzePreutzentag" wie ihn die Genossen nennen war nicht die Reisekosten wert, die er verursacht hat." Während sich hier das böse Gewissen hinter gekünstelter Geringschätzung verbirgt, schreit die Angst der agrarischen Schnapphähne bereits nach der Polizei. Zetert doch die Deutsche Tageszt g.": Man hat sich gehütet, in der Resolution die Teufel der Straßcndemonstratioiien und des Massenstreiks an die Wand zu malen. Wohl aber hat man in Aussicht gestellt, daß man, um das ollgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in Preußen zu erlämpfen, von allen, selbst den schärf st en Mitteln Gebrauch machen werde. Der sozialdemokratische Redner hob unter dem Beifall der Versammlung mit großer Entschieden« heit hervor, daß die Sozialdemokratie ernsthaft ent- schlössen sei, alle denkbaren und möglichen Mittel anzuwenden und daß sie sich vorbehalte, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die Anwendung dieser Mittel erfolgen solle. Damit werden die bürgerlichen Parteien und die maßgebenden Kreise unbedingt zu rechnen haben. ES wäre kurzsichtig und töricht, wenn man nicht auf. alleS gefaßt sein wollte. Zunächst werden wohl die Herren einen allgemeinen Massenstreik nicht wagen, und sie werden auch mit den Demonstrationen etwas vorsichtig sein. Jedenfalls werden sie aber ihre Leute im Feuer exerzieren. Deshalb ist es die unabweisbare Pflicht der verantwortlichen Behörden, dafür zu sorgen, daß diese Exerzierübungen in ihren Anfängen überwacht und möglichst gehindert werden. Nnr wenn revolutionäre Kundgebungen und Maßnahmen im Keime erstickt werden, bleiben sie ungefährlich. Schwächliche Duldsamkeit fördert lediglich die Gefahr." Was soll nun die brave Polizei glauben? Große Reinigung. Bei der Besprechung der Werftinterpellation im Reichstage hat der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, v. Tirpitz, mehr «ls einmal versichert, daß er mit eisernem Besen Auskehr vor- nehmen werde. Den Anfang damit scheint er nun gemacht zu haben. Wenigstens wird amtlich verkündet:Durch Kabinetts- order vom 4. Januar ist Vizeadmiral Breusing, Direktor des Werftdepartements des Reichsmarineamtes, in Genehmigung seines Abschiedsgesuches mit der gesetzlichen Pension zur Disposition ge- stellt unter gleichzeitiger Verleihung des Charakters als Admiral." Weitere Personalveränderungen sollen bevorstehen. Als ob «S damit getan wäre. Wenn die Werften rationell arbeiten sollen, ldann muß mit dem seitherigen System gebrochen werden. So aber kommen neue Männer und das System bleibt das alte. Dem Herrn v. Tirpitz wird der Wunsch des Reichstages noch etwas deutlicher auseinandergesetzt werden müssen. Kommunale Wahlrechtsverschlechterung. Gegen die am 17. Dezember von beiden städtischen Kollegien in Oelsnitz i. V. beschlossene Wahlrechtsänderung hatten die drei sozialdemokratischen Stadtverordneten rechtzeitig Rekurs bei der Kreishauptmannschaft eingelegt. Begründet wurde der Rekurs damit.daß die gemeinschaftliche Sitzung beider Kollegien entgegen den Bestimmungen der Geschäftsordnung einberufen worden ist. und daß die Vorlage vor die gemeinschaftliche Sitzung gebracht worden ist, ohne daß der nach dem Ortsgesetz eingesetzte Ver- fassungsausschuß gehört worden wäre. Die Kreisbanptmannschaft Zwickau hat die Beschwerde VW - warfen mit der Begründung, daß nach den Auslassungen des Stadt- rats(!) die Einberufung der Sitzung ordnungsgemäß auf An- regung aus der Mitte der Stadtverordneten erfolgt sei, und daß es ganz im Willen des Stadtrats liege, ob er eine Gesetzesvorlage vorher dem Verfassungsausschuß überweisen wolle oder nicht. In welcher Weise der Stadtrat der Kreishauptmannschaft berichtet hat, ergibt sich daraus, daß gar keine Stadtverordnetensitzung statt- gefunden hat, in welcher angeregt worden ist, eine gemeinschaftliche Sitzung beider Kollegien einzuberufen. Die Beschwerdeführer werden den Entscheid des Oberverwal- kungsgerichteS anrufen. Der Wahlkamf� in Mülheim-Gummersbach-Wipperfürth hat gleich nach Neujahr mit einer allgemeinen Flugblattverbreitung und mehreren Versammlungen eingesetzt. Mehrfach sind, wie sich das in stockultramontanen Gefilden von selbst versteht, die Flugblatt- Verbreiter beschimpft und bedroht worden. Dafür hatten wir die Genugtuung, in einer recht schwarzen Gegend, in der eS nur ver- streute Häusergruppen und Gehöfte gibt, eine überaus gut besuchte und günstig verlaufene Versannnlung abzuhalten, in der unser Kandidat, Genosse Erdmann-Köln redete. 6600 Mann waren, zum Teil aus weiter Entfernung, herbeigeeilt, um daS ungewohnte Schauspiel einer politischen Versammlung zu erleben, denn das Zentrum kümmert sich um seine Wähler nicht, wo eS ihrer sicher zu sein glaubt. Welcher Art in dem schwärzesten Teil unseres Wahlkreises, im Kreise Wipperfürth , das Zentrum ist. zeigt ein Artikel der.Wipper« fürther Zeitung", der fich in rechter Scharfmacher« und Reichsberbandsmanier mit dem NeujahrSartikel desVorwärts" be- schäftigt. Darin heißt es zum Schluß: Wir meinen, diesem Standpunkt, der unter allen Umständen nur Krieg und Niederwerfung des Gegners will, das ganze Leben vergiftet und schließlich ein Chaos, den Ruin, bringen würde dem müßten der Staat und die bürgerliche Gesellschaft gebührend Rechnung rragen, so lange sie es genügend können. Und da muß ihre Ausgabe, wohl oder übel, trotz aller schönen sozialpolitischen Experimente und Arbeiterfreundlichkeit, in der Hauptsache in energischer Abwehr be- stehe n." Diese Worte können, wenn sie einen Sinn haben sollen, doch wohl nur als Aufforderung zu Ausnahmegesetzen und Gelvalt- maßregeln gegen die Sozialdemokratie angesehen werden. Diese Auffassung ist umso gerechtfertigter, als dieWipperfürther Zeitung" dasselbe Blatt ist, das, wie derVorwärts" berichtete, den Knüppel als geistige Waffe gegen sozialdemokratische Flugblattverbreiter empfahl. Eine derartige Roheit verträgt sich sehr gut mit dem salbungsvollen Ton des Blattes, das den Kandidaten des Zentrums mit dem frommen Seufzer: DaS walte Gott ! empfiehlt. Polizei gegen Kinderchor. Aus Köln wird gemeldet: Der ArbeitergesangvereinLyra " hatte einen Kinderchor gebildet, dem zurzeit etwa SO Kinder im Alter von 816 Jahren angehören. Nachdem polizeilicherseits fest­gestellt, daß Mitglieder der s o z i a l i st i s ch e n P a r t e i an- gehören, hat der Dezernent des Schulwesens die Rektoren im Auf- trage der königlichen Regierung ersucht, den Schulkindern fernerhin die Teilnahme an G e s a n g S ü b u n g e n des Kinderchors des betreffenden Gesangvereins strengstens zu verbieten! 6nglanck. Gewerkschaften und Politik. London , 3. Januar. (Eig. 95er.) Infolge des Entscheides der Lordrichter traten die Vertreter des Parlamentarischen Komitees des Trade-UnionskongresseS, des Allgemeinen Ver- bandes der Gewerkschaften und der Arbeiterpartei zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen, um über die neugeschaffene Lage zu beraten. Das Ergebnis der Beratungen war die Abfassung des folgenden Rundschreibens an die organisierten Arbeiter: Wir sind beauftragt. Ihnen zu empfehlen, im gegen- wältigen Wahlkampfe folgende Frage an die Kandidaten zu stellen: Sind Sie bereit, ein Amendement zu den Trade-Unions« gesehen(157l 76) zu nnterstützen,»m die Gewerkschaften zu be- fähigen, ihre politische Tätigkeit fortzusetzen, in die sie seit dem Jahre 1868 eingetreten sind? Es ist wahrscheinlich, daß auf Gnmd des Entscheides der Lordrichter den Gewerkschaften verboten werden könnte, die Gewerkschaftskartelle zu unterstützen; und es ist zweifelhaft, ob die Ausgaben für politische Deputationen und ftir den Trade-Unionskongreß(insofern dieser sich mit Politik be- schäftigt) gesetzlich gestattet sind. Der Entscheid der Lord - richter trifft also nicht nur die parlamentarische Arbeiter- Vertretung, sondern das GewerkschaftSwesen überhaupt. Wir hoffen, Sie werden nun die Tragweite des Entscheides der Lords würdigen können...." Das Rundschreiben gibt sodann einen kurzen historischen Rückblick auf die enge Verbindung zwischen Trade-Unionismus und Politik seit 1868 und weist unwiderleglich nach, daß bei Erlaß der Trade- Unionsgesetze(187176) die Gewerkschaften sich der parlamentarischen Aktion bedienten und bis vor ivenigen Wochen als eine der legalisierten Methoden des Trade-Unionismus betrachtet wurde. Die Arbeiterfraktion wird im nächsten Parlament eine Novelle zum Tradc-Unionsgesetze einbringen zum Zwecke der ausdrücklichen Legalisierung der gewerkschaftlichen Ausgaben für parlamentarische Zwecke. Der Generalsekretär der Eisenbahner, Mr. Richard Bell, ist von seinem Posten zurückgetreten, den er zwölf Jahre innehatte. Der Ursprung der Differenzen zwischen ihm und dem Vorstande der Eisenbahner ist politischer Natur. Bell ist bekanntlich gegen die Arbeiterpartei. Infolge der Parlamentswahlen ist der Jahres- k o n g r e ß der Arbeiterpartei, der am 10. d. M. stattfinden sollte, auf den 9. Februar verschoben worden. Im Anschluß an den Kongreß wird eine Parteikonferenz über die durch den Lordsentscheid geschaffene Lage abgehalten werden. Der Kongreß ist nach Newport einberufen. BalfourS Wahldemagogie. London , 6. Januar. B a I f o u r äußerte sich gestern in Hanleh in einer Rede über Englands Seemachtstellung und er- klärte: Ich bin ein großer Bewunderer Deutschlands , dem die Welt großen Dank schuldet für seine Arbeiten auf Wissenschaft« lichen Gebieten. Wir haben in manchen Beziehungen viel von Deutschland zu lernen, besonders die Art, wie es de» Tatsachen die Ssirn bietet. Wenn man die Staatsmänner und Diplomaten kleinerer Mächte befragt, so wird man durchweg die Meinung hören, daß ein Zusammen stoß zwischen uns und Deutsch - land früher oder später unvermeidlich sei. Ich stimme ihrer Ansicht nicht zu, aber eS ist ihre Meinung, und sie sind zu dem Schluß gekominen, daß nichts uns aufrülreln könne, unsere Lage zu erkennen, und daß eS deshalb unser Schicksal sei, in einem großen Kampfe zu unterliegen. Was die Veranlassung zu diesem Kampfe gebe» werde, könne niemand voraussehen bei einem Lande, welches den Tatsachen ins Auge blickt, wenig spricht und viel handelt. So weit ist die geringschätzige Anschaumig von der Kraft und Mannhafligkeit Englands gegangen, daß ich Deutsche nicht Männer der Regierung, aber Leute an der Spitze bedeutender Unternehmungen kennen gelernt habe, die tatsächlich sagten: Glaubt Ihr, daß wir je zulassen werden, daß England eine Tarisreform annimmt V Ich glaube, daß alle diese Propheten erkennen werden, daß sie sich im Irrtum befinden. Aber während ich Ihnen ein Warnungszeichen in Form auswärtiger Kritiken gebe, lassen Sie mich darauf hin- weisen, daß innerhalb von vier Jahren, wenn wir uns nicht eifrig rühren, England in eine so g e f a h r v o l le L a g e geraten wird, wie sie seit Generationen nicht dagewesen ist. Ich glaube nicht, daß eS zum Kriege zwischen England und irgend einer großen fremden Macht kommen wird, aber ich bitte Sie, sich daran zu erinnern, daß der absolut einzige Weg, aus dem man den Frieden zu sichern Ver- mag, der ist, daß wir gesichert sind, wenn Krieg ausbricht. Der Flottenverein als Wahlmacher. London , 6. Januar. Aus Anlaß der Wahlen veröffentlicht der Britische Flottenverein eine Kundgebung, in der erklärt wird, die britische Vorherrschaft zur See werde von der größten Militärmacht des Kontinents bedroht, die im Begriff sei, eine ungeheure Kriegsflotte zu bauen. England müsse für jedes deutsche Kriegsschiff seinerseits zwei Kriegsschiffe auf Stapel legen. Es' sei dkm britischen Volke dringend ans Herz zu legen, bei den kommenden Wahlen einzig für die Aufrechterhaltung einer unangreifbaren Vormacht der englischen Flotte seine Stimme abzugeben. Die Grubenarbeiter gegeu das OberhanS. London . 5. Januar. Der englische Gruben- arbeiterverband, welcher 600 000 Mitglieder umfaßt, hat einen Wahlaufruf erlassen, worin er gegen das Oberhaus Stellung nimmt. foißtatici. Waffeneinfuhr in Finnland ? Die offiziöse Petersburger Tele�rciphcnagentur verbreitet die Tatareiuiachricht, daß man in Finnland eine ganze Reihe von Waffe n lagern entdeckt habe und einem groß angelegten Waffen« schmuggel in Geldschränken, die aus Hamburg eingeführt wurden, aus die Spur gekommen sei. Es unterliegt keinem Zweifel, daß man es hier mit einer ebensolchen Provokation der russischen Regie- rung zu tun hat, wie sie seinerzeit A z e w in Finnland plante, der den Finnländern den Vorschlag gemacht hatte, Bombenlaboratorien in Finnland einzurichten. Die Kommentare, die die offiziöse Presse an diese Nachricht knüpft, weisen darauf hin, daß die russische Regie- rung wieder etwas Neues gegen Finnland im Schilde führt. Ciirkc!. Beseitigung der Militärdiktatur? Konstantiuopcl. 4. Januar. Die jungtiirkische Partei ist, wie hier verlautet, bemüht, den Generalissimus, dessen Stelle H a k k i- B e i in seinen Bedingungen für die Uebernahme des Groß- wesiratS für überflüssig erklärte, zur Annahme des Porti« feuilleS des K r i e g s m i n i st e r S zu bewegen. H a k k i- B e i ist heute abend nach Konstantinopel abgereist. Soziales. (Siehe auch 3. Beilage.) Der Bochholter Aerztckrieg ist nun mit voller Schärfe entbrannt. Nach dem endgültigen Ab- bruch der Verhandlungen seitens dcS Krankenkassenverbandes(22 Krankenkassen mit 7SS2 Mitgliedern) haben die acht beteiligten bis- herigen Kassenärzte zunächst durch ausgiebige Benutzung der Lokal- presse versucht, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu be- einflussen. Unter anderem wurde auch ein Telegramm des Leipziger Aerztcverbandes veröffentlicht, worin dieser die Bocholter Kollegen in dem ihnenaufgedrungenen" Kampfe energisch zu unterstützen verspricht. DieS hat jedoch weder den Krankenkassen, noch der Bürgerschaft imponiert, und zwar offenbar deshalb nicht, weil die Bürgerschaft mit verschwindenden Aus- nahmen von dem guten Recht der Krankenkassen überzeugt ist. Letztere bemühten sich alsdann eifrig um die Gewinnung neuer Aerzte, was ihnen aber von dem Aerzteverein, der sich in diesem Streit denkbar größter Bewegungsfreiheit erfreut, insofern erheblich erschwert wurde, als mehrere fremde Aerzte, die hier Kaffenpraxis übernehmen wollten, von dem Aerzteverein veranlaßt wurden, hier- von abzusehen. Die früheren Kassenärzte rechneten offenbar bannt, daß die Regierung sie wieder zu Kassenärzten ernennen würde, wenn es dem, Krankenkaffenverbande nicht gelänge, zum 1. Januar 1910 fünf neue Kassenärzte zur Stelle zu haben. Man spricht von hohen AbfindiingSsummen, die an die betreffenden auswärtigen, zum Rüchritt be- wogenen Aerzte gezahlt worden seien. Trotzdem gelang es den Krankenkassen noch in letzter Stunde(31. Dezember 1999) Namen und Wohnungen von fünf neuen Aerzten veröffentlichen zu können, wodurch der Forderung der Regierung Genüge geleistet war. Nun setzte aber erst recht ein scharfer persönlicher Kampf der alten Aerzte gegen ihre neu zu- gezogenen Kollegen ein. Schon am 1. Januar wurde einer der neuen Aerzte(Dr. Pilgram) von den alten Aerzten veranlaßt, wieder abzureisen und ein anderer neuer Arzt(Dr. Butzon) will angeblich nicht für die Kasten wirken. An seiner Tür befand sich am I.Januar ein Zettel mit der Aufschrift:Kein Streikarzt". Nun hatten die Kassen also nur drei Aerzte und die Aufsichtsbehörde mußte der Regierung den Stand der Dinge melden. Seitens der Regierung erwartet man nun den Abschluß eines Zwangsvertrages. Verhandlungen hierüber sollten gestern zwar in Anwesenheit des Regierungspräsidenten beginnen. Andererseits aber wird versichert, daß die Krankenkassen wieder Aerzteersatz herbeigeschafft hätten. In der Bürgerschaft wird daS Verbalten der bisherigen Kassenärzte, zu denen auch der Vorsitzende der Bochumer Zentrumsorganisation gehört, scharf kritisiert; ihre Forderungen werden allgemein als übertrieben bezeichnet. Namentlich wird der Kampf gegen die neuen Aerzte entschieden verurteilt. Man stellt insbesondere Vergleiche darüber an, was wohl seitens der Staats- und Militärbehörde ge- schehen wäre, wenn Arbeiter so vorgegangen wären, wie von den früheren Kassenärzten gegen ihrearbeitswilligen" Kollegen. In dem Falle würde Bocholt jedenfalls jetzt einer Garnisonstadt gleichen. Andererseits aber wirft der Bocholter Aerztestreik interessante Schlaglichter auf die Macht der Organisation im allgemeinen und jene der Aerzte im besonderen. Wie der Aerztestreik ausläuft, ist, wie man uns unter dem 3. Januar schreibt, noch nicht abzusehen I Sollte er aber wider Erwarten mit einem Siege der früheren Kafieiiärzte endigen, so handelt eS sich offenbar nur um einen vor« läufigen, aber nicht um einen dauernden Frieden. Auflösung einer Arbeiter-Witwenkassr. Die Witwenkasse des Dreherpersonals der Porzellanfabrik der Firma Kristern in Waldenburg beschloß in einer General- Versammlung mit 44 von 47 Stimmen, sich aufzulösen. Auf Grund des Gesetzes über die Privatversicherungsunternehmungen versagte der Regierungspräsident die zur Durchführung des Be- schlusses erforderliche Genehmigung. Er stützte sich dabei auf ern versicherungstechnisches Gutachten, worauf die Kasse, die zurzeit über ein Vermögen von 66 000 M. verfügte, lebensfähig sei. Be- denken äußerte er auch gegenüber dem Passus des Beschlusses, wonach sich das Vermögen unter den zurzeit Pension beziehenden Witwen und den hinzukommenden Witwen der zur Zeit der Auf- lösung vorhandenen Mitglieder aufzehren sollte. Die Kasse klagte und machte geltend, die Beiträge(60 Pf. pro Woche) ständen in keinem Verhältnis zu den Leistungen, da das höchste Witwen» geld jährlich 60 M. betrage. Auch werde die Zahl der Arbeiter, welche beitreten, immer geringer. Erstens würden in den Betrieb nicht mehr soviel Porzellandreher eingestellt, da die Verwendung der Maschine zunehme. Zweitens mache die Firma es den Ar- beitern nicht mehr zur Bedingung, Mitglied der Kasse zu werden. Das Obervcrwaltungsgcricht entschied am Montag, daß der Beschlusi des Regierungspräsidenten, durch den die Genehmigung für den Auflösungsbeschluß versagt wurde, aufzuheben sei. Wenn der Regierungspräsident geltend mache, die Kasse sei lebensfähig, so sei das kein Versagungsgrund, wo es sich um die Auflösung einer Gesellschaft handelte, die sich durch freien Vertrag gebildet habe. Die Art der beabsichtigten Liquidation könne der Re- gierungSpräsident nicht gegen den Auflösungsbeschluß verwerten. Dessen Gültigkeit werde durch sie nicht berührt. Die Liquidation habe nach den Bestimmungen des Gesetzes in entsprechender An- Wendung der Vorschriften deS Handelsgesetzbuches zu erfolgen. Sollte bei der Liquidation danach nicht verfahren werden, dann könnte die Aufsichtsbehörde dagegen einschreiten. Der Regierungs- Präsident werde den Auflösungsbeschluß an sich genehmigen müssen, wenn er keine anderen triftigen Gründe dagegen habe.