ohne Latz ein wirklicher Verbrecher deshalb straffrei gelassen werden müßte. Wer auch wegen Uebertretung heutzutage an sich notwendiger Strafbestimmungen werden tagtäglich Personen bestraft, die dem jtulturmenschen nicht strafwürdig erscheinen. Ties liegt zum großen Teil an der Nichtanwendung klarer und beut- licher Bestimmungen unseres geltenden Rechtes. (tiewiß empört sich unser Rechtsgefühl, wenn wir lesen, daß eine Mutter schwer verurteilt wird, die, um ihr Kind vorm Erfrieren zu schützen, Brennholz gestohlen hat, oder ein Armer, der aus junger zum Diebe geworden ist. Wer gerade derartige Fälle, die von den Gegnern des Legalitätsprinzips(Anklagezwangs), zu denen sich jetzt leider auch Genosse Heine gesellt, gern herangezogen werden, beweisen, wie unnötig und wertlos eine solche Durchlöche- rung des Legalitätsprinzips— abgesehen von allen politischen Gründen— ist. Ausdrücklich bestimmt Z 52 des Strafgesetzbuches. daß eine strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt zu der Handlung ge- nötigt worden ist. Nach Z 904 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist die Einwirkung auf das Eigentum eines anderen, also auch die An- cignung fremder Sachen, nicht rechtswidrig, wenn sie zur Ab- Wendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Ist nun der Hunger oder die Mutterliebe keine unwidersteh- liche Gewalt? Ist ferner die Gefahr des Verhungerns oder Er- frierens keine unverhältnismäßig große? Sind nicht schließlich auch die Voraussetzungen des Notstandsparagraphen und des Z 51, der Handlungen straffrei läßt, wenn sie in Bewußtlosigkeit oder unter Ausschluß der„freien Mllensbestimmung" geübt werden, gegeben? Es stehen dem Täter in solchen Fällen mithin eine ganze Reihe Strafausschließungsgründe zur Seite. Dennoch ist nicht bekannt geworden, daß unsere bürgerlichen Richter bei derartiger Sachlage auf Freisprechung erkannt hätten, trotzdem sie schon jetzt nach dem Gesetze hierzu nicht nur berechtigt, sondern sogar ver- pflichtet gewesen wären. Welche Besserung kann sich Genosse Heine da von der Einführung des Opportunitätsprinzips selbst bei derartigen unpolitischen Straftaten versprechen? Was besagt das Opportunitätsprinzip? Daß Vertreter der herrschenden Klassen darüber befinden sollen, ob die Strafverfolgung ihnen opportun, d. h. fürdie herrschen- den Klassen zweckmäßig, erscheint. Sicherlich würde das Opportunitätsprinzip das Verlangen:„Weniger Strafen!" be- friedigen. Dies täte aber auch eine Gesetzesvorschrift etwa des Inhalts, daß nur Sozialdemokraten der Bestrafung unterliegen I Sollten wir deshalb für einen solchen Vorschlag sein? Hat nicht die Partei auch einstimmig gegen die Majestätsbeleidigungsnovelle von 1908 votiert, trotzdem sie zweifellos die Strafen wesentlich ge- mindert, bloß deshalb, weil sie in der in jener Novelle vorgesehenen Einführung des Opportunitätsprinzips — denn auf nichts anderes kommt sie hinaus— ein Ausnahmegesetz gegen die dem Gegen- wartsstaate unbequemen Personen erblickte? Und ebenso wäre die grundsätzliche Einführung des Opportunitätsprinzips in unser Straf» recht nichts als ein einziges riesiges Aus- nahmegesetz gegen die unterdrückten Volks- klaffen und ihre Vorkämpfer. Soweit es sich um das strafprozessuale Opportunitätsprinzip, d. h. um das willkürliche Ermessen des politischen Beamten mit dem Titel Staatsanwalt, handelt, sollte hierüber ein Zweifel nicht mögl'ch sein. Aber auch das materiell-rechtliche Opportunitätsprinzip, das im 8 83 des Strafgesetzentwurfes enthalten ist, und das dem Genossen Heine „och nicht weit genug geht, würde in gleicher Weise wirken. Muß doch Genosse Heine selbst in seinem Aufsatze die„fast unentrinnbare Macht des politischen und sozialen Bewußtseins" anerkennen, die in der Klassenjustiz zum Ausdruck komme. Darüber noch Worte zu verlieren, hieße, um mit unserem alten Genossen Thomas Morus zu sprechen, den Mond mit der Laterne beleuchten. Diese Macht äußert sich natürlich auch bei der Aburteilung scheinbar unpolitischer Straftaten. Der bürgerliche Richter wiro z. B. nie ein Notreckt auf Stillung des Hungers anerkennen können, ohne sich mit den vitalsten Interessen der von ihm vertretenen Klassen in Widerspruch zu setzen. Er wird ferner die Arbeits» loflgkeit nicht als ein gesellschaftliches Phänomen, sondern fast Ücts als ein Verschulden des Angeklagten bewerten, und deshalb regelmäßig nicht als Milderungsgrund gelten lassen, wie schon jetzt die rein schematische Bestrafung arbeitsloser Bettler und Landstreicher beweist. Wie oft kann man nicht vom Richtertische auS die Ansicht äußern hören:„Wer Arbeit sucht der findet sie auch stets?" Daran ivürde auch durch Einführung des Opportunitätsprinzips nicht? geändert werden. Daß bei der Verfolgung von Straftaten mit politischem oder gewerkschaftlichem Einschlage schon jetzt zweierlei Recht besteht, ist richtig. Ist deshalb die Sozialdemokratie genötigt, diesen gesetz» widrigen Zustand zu sanktionieren? Zugegeben werden muß auch dem Genossen Heine, daß nach Einführung des Opportunitätsorinzips„daS öffentliche Bewußtsein nur um so klarer empfinden würde, was wir als Klassenjustiz zu bezeichnen pflegen". Von diesem Standpunkte aus mühten wir jedoch apch für die unerhörten politischen Knebel- bestimmungen des Vorentwurfs zum Strafgesetzbuch stimmen, da deren Einführung zweifellos dieselbe Wirkung haben würde. Zudem scheint mir die Einführung des Opportunitätsprinzips freie Bahn zu schaffen fmr die Einführung neuer politischer Unterdruckungsbestimm-ungen und den Kampf gegen alte, verrottete Straf- Paragraphen zu erschweren. Die bürgerlichen Parteien werden viel eher geneigt sein, in neue Strafparagraphen für den Klassenkampf zu willigen, wenn sie nach Einführung des Opportunitätsprinzips nicht mehr die Besorgnis zu haben brauchen, daß sich diese Paragraphen, um die Fiktion der Gleich- hcit aller vor dem Gesetz aufrechtzuerhalten, auch mal gegen sie richten können. Und während es jetzt m. E. ein leichtes wäre. durch eine systematische DenunziationSkampagne gegen alle seine Uebertreter z. B. das alte, muffige preußische Plakatgesetz zu Falle zu bringen, würde ein solches Mittel, überlebte Gesetze zu befestigen, nach Beseitigung des Anklagezlvanaes nicht mehr verfangen, da ja dann weder der Staatsanwalt gesetzlich gezwungen wäre, den Denunziationen Folge zu leisten, noch der Richter, auf Grund derselben zu verurteilen...«. Au» allen diesen Gründen bin ich der Ansicht, daß Genosse .Heine die Gefahren des Opportunitätsprinzip» unter- und seine angeblichen günstigen Wirkungen überschätzt. Ich meine, daß die Sozialdemokratie keine Veranlassung hat, die oberste demokratische Tugend des Mißtrauens weniger zu üben als z. B. die bürgerlichen Strafrechtsprofessoren Liszt und Lilienthal, die aus politischen Gründen die Einführung des Opportunitätsprinzips bekämpfen. *• fit die Beseitigung des fluhlagezwanges der Staatsanwaltschaft in den unpolitischen ßagatelliachen unbedenklich? J» der Streitfrage für oder gegen' den Anklagezwang der Staatsanwaltschaft in Bagatellsachen herrscht Uebereinstimmu-tg in den folgenden zwei Punkten: 1. ES würde ein Fortschritt sein, wenn die vielen Bagatellsachen nicht mehr vor die Gerichte gebracht werden. S. Wenn die Entscheidung darüber, ob wegen einer Bagatell- sacke im öffentlichen Interesse öffentliche Klage erhoben werden soll oder nicht, dem Ermessen der Staatsanwaltschaft überlassen bleibt, so wird das dazu führen, daß nur zu oft sich ein Staat»- auwalt zu einer öffentlichen Klage gegen Angehörige und Cünst- linge der herrschenden Klasse nicht ent,chlickt. aber gegen Arbeiter damit um sc eifriger vorgeht. Wäre es möglich, weniger Strafen in Bagatellsachen zu erreichen ohne dies, ungleiche Behandlung ver beiden Klassen, dann wärm wir alle damit einverstanden. Nach dem Vorschlage der Regierungen, aber sollen die Strafen in Bagatellsachen dadurch vermindert werden, daß die Willkür des Staatsanwalts erweitert wird. Wir erreichen danach das eine nicht ohne das andere. Deshalb sind wir vor die Frage gestellt, ob wir für die Beseitigung des Anklagezwanges in Bagatellsachen mit Rück- ficht auf die dadurch erhoffte Verminderung der Strafen eintreten und dafür die ungleiche Behandlung der beiden Klassen als un- angenehme aber unvermeidliche Zugabe in den Kauf nehmen sollen, oder ob wir mit der Ablehnung der erweiterten Willkür des Staats- amoalts auch auf die Verminderung der Strafen— wenigstens für den Augenblick— verzichten sollen. Von den Gründen des Genossen Heine für die Annahme des Regierungsvorschlags ist der wichtigste der, daß in den bei weitem überwiegenden Fällen die eigentlichen Kämpf, um die gesellschaft- liche Macht und um die Autorität der Herrschenden nicht mit hinein- spielen; in diesen Fällen sei zu erwarten, daß die Einschränkung des Anwaltzwanges äußerst segensreich wirken werde. Wer auch diese Fälle können anders verlaufen, als Genosse Heine annimmt. Die Staatsanwaltschaft wird über den Tatbestand die Ortsvolizeibehörde hören. Wie dann, wenn die Ortspolizei- behörde mitteilt, daß in dem einen Teil der Fälle der Angeschuldigte ein„angesehener Bürger" oder eifriger„Patriot", in dem anderen Teil der Fälle dagegen ein Sozialdemokrat oder Gewerkschaftler ist— wird dann nicht auch in diese Fälle der Kampf um die gesell- schaftliche Macht und um die Autorität der Herrschenden hinein- getragen? Unter allen Umständen wird die große Masse des arbeitenden Volkes sehr schnell zu der Ueberzeugung kommen, daß in den unzähligen Bagatellsachen die Behörden mit öffentlichen Klagen nur gegen die„Schlechtgesinnten", nicht aber gegen die„Gut- gesinnten" vorgehen. Das hat eine große praktische Bedeutung. Man vergegen- wärtige sich nur, was es für die Praxis ausmacht, wenn die Willkür der Staatsanwaltschaft nach dem Borschlage der Regierungen nicht mehr auf Beleidigungen, einfache Körperverletzungen und Vergehen des unlauteren Wettbewerbes beschränkt bleibt, sondern ausgedehnt wird auf die fast zahllosen Fälle des Hausfriedensbruches, der ge- fährlichcn Körperverletzung unter Verletzung einer Amts-, Berufs- oder Gewerbepflicht, der Verletzung des Briefgeheimnisses, der Be- drohung, der Sachbeschädigung, der Verletzungen des literarischen, künstlerischen und gewerblichen Urheberrechts sowie der Ueber- tretungen und geringfügigen Vergehen. Schon jetzt gibt es Leute genug, die sich aus Furcht vor Benach- teiligung durch die Behörden möglichst von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften fernhalten. Je mehr wir aber die Fälle häufen, in denen die Behörden die„Gutgesinnten" begünstigen, die..Schlechtgesinnten" schikanieren können, um so stärker machen wir den Druck der Behörden auf die Arbeiter und den Mittelstand. Daß dies sowohl der Partei als auch den Gewerkschaften ihre Agi- tations- und Organisationsarbeit erschwert, liegt auf der Hand. Die Saalabtreibereien sind uns ja nur zu bekannt. Von den vielen weiteren Folgen will ich nur die Beeinflussungen der kleinen Ge- schäftsleute durch die Behörden bei den öffentlichen Wahlen hervor- heben. Je mehr wir den Druck der Behörden auf die kleinen Ge- schäftsleute verstärken, um so mehr kleine Geschäftsleute werden dem nachgeben und bei der öffenlichen Wahl aus diesem Grunde gegen un« stimmen. Endlich haben die Behörden durch die erweiterte Willkür der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, Streikbrecher und Ueberläufer zu den Gelben noch mehr als bisher zu brünstigen und ihre KorruptionSarbeit unter den Arbeitern mit noch mehr Nach- druck als bisher zu betreiben. Aus diesen Gründen glaube ich, daß wir dem Vorschlage der Regierungen nicht zustimmen können.— Mit der Ablehnung des NegierungSvorschlages ist aber die Sache nicht erledigt. Die gegenwärtige Belastung der Gerichte mit Bagatellsachen ist geradezu unhaltbar; das wird allgemein aner- kannt. Deshalb müssen die Regierungen und bürgerlichen Parteien nach der Ablehnung des Regierungsvorschlages die Entlastung der Gerichte von den Bagatellsachen auf einem anderen Wege zu er- reichen suchen.— DaS kann geschehen ohne Schädigung der Ar- beiter durch zweckmäßige Aenderunaen der Strafbestimmungen. Nach dieser Richtung hin haben wir die Regierungen und die bürgerlichen Parteien zu drängen. � � G u st a v H o ch. dlillkflr der Staatsaiiwalffcbaft? Ich kann der opportunistischen Politik des Genoffen Heine nicht zustimmen. Eine Verminderung der Anklagen in für den Klassen. kämpf gleichgültigen Fällen durch Ausdehnung der Machtfülle des Staatsanwalts herbeizuführen, halte ich für verfehlt. Es ist nicht Sache der Sozialdemokratie, die Macht der herrschenden Klaffen. und der Staatsanwalt ist ihr ausführendes Organ, gegen Ver- schonung mit Anklagen in einer Reihe von gleichgültigen Lappalien zu verstärken. Der Anklagezwang der Staatsanwaltschaft ist eine Schutzwehr, welche der Liberalismus gegen die Klassenjustiz der Herrschenden errungen hat, und wenn die Staatsanwaltschaft auch, wie Genosse Heine zutreffend anführt, es verstanden hat, diese Schutzwehr zu lockern und zu durchlöchern, so ist cS doch nicht unsere Aufgabe, sie dabei zu unterstützen. Die Sozialdemokratie bat allen Älnlaß, an dem KlageerhebungSzwang ohne Ansehen der Person festzuhalten. Die Klassengegensätze und die Klassenkämpfe. welche diesen Grundsatz gezeitigt haben, sind seitdem wahrhaftig nicht milder geworden, nur die Klassen, welche im Gegensatz zu- einander stehen und den Kampf gegeneinander führen, sind andere. Freilich ist die Verminderung der Anklagen ein erstrebenswertes Ziel. Aber nie und nimmer ist die? Ziel durch Durchlöcherung des Grundsatzes, daß die Strafjustiz ohne Ansehen der Person zu- greifen muß, zu erstreben. Im„Vorwärts" vom 9. Januar dieses Jahres ist der Weg gezeichnet, den die Sozialdemokratie zu diesem Zwecke zu beschreiten hat. Berlin , den 17. Januar 1010. Joseph Herzfeld . * Veniger Strafen. Meine unter diesem Titel an den„Vorwärts" gerichtete Zu- fchrift ist von der Redaktion in einen eigenen Artikel mit der Ueberfchrift„Erweiterung der Willkür des Staats- an w a ltö" eingeschachtelt worden. Die Redaktion hat es nicht einmal für nötig gehalten, mir vorher zu sagen, daß sie in dieser Weise verfahren wollte, und mir Gelegenheit zur Entscheidung zu geben, ob ich unter diesen Umständen den Abdruck noch wünschte. Ich habe selbstverständlich erwartet, und habe dies auch bei Ankündigung meines Artikels dem betreffenden Redakteur gesagt, daß auch die Redaktion ihre abweichende Meinung im Anschluß an meinen Artikel äußern würde. Eine sachliche Erörterung dieser noch wenig geklärten Frage vor einem möglichst weiten Kreise von Parteigenossen war ja der Zweck meiner Einsendung. Einer sachlichen Aufklärung dient eS aber nicht, wenn durch eine ten» denziöfe Uebexfchrift von vornherein meine Ausführungen in be° leidigender Weise als töricht oder parteischädlich stigmatisiert wer- den, und dem Leser eine unbefangene Würdigung der Gründe und Gegengründe erschwert wird. Ich empfinde nach dieser Behandlung kein besonderes Ver- gnügen dabei, wenn ich noch einmal im„Vorwärts" das Wort zu dieser Frage ergreife. Ich tue eS nur, einerseits der Klärung wegen und zweiten», weil ich grundsätzlich den Anspruch darauf erhebe, im Zentralorgan und Organ der Berliner Genossen mit meinen Ansichten zum Wort« gelassen zu werden, und weil ich der Redaktion nickt zugestehe, mich durch ungehörige Behandlung in meinem Recht beeinträchtigen zu dürfen. Weber ist da» Blatt Eigentum der Redaktion, noch darf sie abweichende sachliche Er- örterungen von Parteigenossen ausschließen oder mit ihren Ver» fassern'in dieser Art umspringen. Ich wenigstens will mir dies nicht gefallen lassen. Die Bemerkungen der Redaktion zeigen mir, daß ihr da» durch den Vorentwurf zum Strafgesetzbuche dem Richter zugedachte Recht zum Verzicht auf Strafe in gewissen Fällen nicht bedenklich zu sein scheint. Ich freue mich über dies Einverständnis. Was die Einschränkungen des LegalitätS« prizips betrifft, so scheint die Redaktion keinen Anstoß an der Aushebung des Anklagezwanges gegen Jugendliche zu nehmen. In der Tat handelt es sich hierbei geradezu um ein Verlangen aller sozialpolitisch fortgeschrittenen Kriminalisten. Namentlich soll die Unterlassung der Anklage keineswegs die Ueberweisung zur Zwangserziehung als unbedingte Folge haben, sondern darüber soll dann der VormundschastSrichter auf Grund eigener Prüfung entscheiden. Im übrigen widerlegt die Redaktion meine Ausführungen nicht im geringsten. Alles, was sie über die herrschenden Uebel- stände in der Justiz anführt, unterstützt vielmehr meine Behaup- tung, daß trotz Anklagezwang schon jetzt überall, wo politis� und soziale Kämpfe in Frage kommen, das Legalitätsprinzip und der Grundsatz einer absoluten Gerechtigkeit nur auf dem Papier stehen. Ein Verschlimmerung der politischen und sozialen Mißbräuche wäre nur in verschwindendem Maße zu befürchten, wenn künftig die Staatsanwaltschaft auch Anklagen wegen Hausfriedensbruchs. Sachbeschädigung, sogenannter gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung sowie wegen Verletzung der Urheberrechte zur Privat- klage verweisen könnte. Um was für Fälle handelt es sich dabei?— Vorwiegend um lächerliche Streitigkeiten auf der Treppe, im Hofe, im Gasthaus. Ist dabei ein Wort gefallen, das als„Bedrohung"(ß 241 des Strafgesetzbuchs) aufzufassen ist, oder ist ein Schlag mit einem „Gegenstand" geführt, wenn er noch so harmlos ist, so muß heut der Staatsanwalt gegen den Täter von Amts wegen ern- schreiten, und der andere Streitteil, oft genug derjenige, der am meisten Schuld trägt, wird zum Kronzeugen. Dasselbe gilt beim Hausfriedensbruch. Würde der Vorschlag der Novelle angenommen. so würden unzählige solcher unnützen Strafprozesse überhaupt unterbleiben, und wenn eine Partei zur Privatklage griffe, so hätte der Angeklagte das Recht zur Widerklage. Namentlich würde auch in vielen Fällen der„fahrlässigen Körperverletzung unter Verletzung einer Berufspflicht"(§ 230 des Strafgesetzbuches) die Anklage unter. bleiben; dazu gehören alle kleinen Fahrlässigkeiten von Kutschern, Bauarbeitern usw. Den Vorteil von diesen Neuerungen würde also vor allem die arbeitende Klasse haben. Es liegt ja für uns sehr nahe, die Staatsanwaltschaft vor- wiegend unter dem Gesichtspunkt einer Maschine zu politischen Ver- folgungen anzusehen; sie selbst ist schuld daran, wenn sie so be- urteilt wird. Darüber dürfen wir aber nicht vergessen, daß bei Körperverletzung. Hausfriedensbruch. Bedrohung und sachbeschädi- gung die politisch oder sozial beeinflußten Anklagen sicher noch nicht ein Prozent der Fälle ausmachen. Bei den Verletzungen des geistigen Eigentums ist der Prozentsatz noch viel geringer. Nach dieser Er- wägung haben wir unsere Entscheidung zu treffen. Die Fälle poli- tischen und sozialpolitischen Mißbrauchs werden zwar nicht fehlen, aber sich auch gegen heute nicht vermehren, und geschähe es wirklich, so würde das hundertfach aufgewogen werden durch die Vorteile, die gerade die ärmeren Volkskreise von einer Verminderung der Anklagen haben würden. Eher könnt« daS politische Gebiet dadurch berührt werden, wenn man der Staatsanwaltschaft das Recht gäbe, bei Uebertretungen w,egen Geringfügigkeit der Verfehlung von der Anklage abzusehen» Aber auch hierin können die politischen Mißbräuche nicht größer werden, als sie schon jetzt sind, wogegen gerade bei Uebertretungen die Aufrechterhaltung einer Pflicht zur Anklage unmöglich und unehrlich ist, denn sie kann nie praktisch durchgeführt werden. Die Gesellschaft hat auch kein Interesse daran. Die Gewerbevergehen aber dürfen nicht dem Belieben der Staatsanwaltschaft überantwortet werden. Hier ist das Legalitätsprinzip aufrecht zu erhalten, wenn nicht Garantien durch- gesetzt werden, wie ich sie vorgeschlagen habe. Ich muß aufrecht erhalten, daß es sich hier darum handelt, mit dem Prinzip:„weniger strafen" einen Anfang zu machen. und daß die Aufrechterhaltung des Legalitätsprinzips nicht„mehr Gerechtigkeit" bedeutet. Freilich entspricht La? starre Legalitätsprinzip einer gewissen Stufe des Gerechtigkeitsgefühls, nämlich dem naiven Ver- geltu naSgedanken, der davon ausgeht, daß jedes Delikt eine„Sühne" erfordere, und daß eine Strafe, die nicht jeden Täter ausnahmslos träfe, kein Recht mehr, sondern Willkür wäre. Diese Vergeltungstheorie läßt sich aber nur metaphysisch oder religiös begründen. Sie beruht auf einer primitiven Einsicht in die Viel- gestaltigkeit des Lebens. Sie setzt Handlungen voraus, die einander gleich wären, und beachtet nicht, daß zwischen mehreren individuellen Handlungen Gleichheit immer nur scheinbar vorhanden ist, und daß die Gleichsetzung auf einer mehr oder weniger unvollkommenen Abstraktion, einem Absehen von erheblichen Teilen des wirklichen Tatbestandes beruht. Je tiefer unsere Einsicht in die gesellschaftlichen, physischen und seelischen Wurzeln der einzelnen Straftat eindringt, um so geringer müssen wir den Wert einer scheinbar gleichen und unbeugsamen Gerechtigkeit einschätzen, die keine Ausnahmen kennt. Stellt man sich gar— wie unsere Partcipresse wohl durchweg tut— auf den Standpunkt, daß die Strafjustiz. lediglich durch den Zweck des Schutzes der Gesellschaft regiert werden solle(soziologische Straf- rechtslehre), so darf die Anklage nur erhoben werden, wo ein öffentliches Interesse vorliegt. Schon die Anstellung einer überflüssigen, durch das Wohl der Gesellschaft nicht gebotenen Anklage ist ein Unrecht gegen den Betroffenen und ein Raub an der Gesellschaft. Die endgültige Frei. sprechung kann diesen bereits entstanoenen Schaden nicht mehr be» seitigcn, sie ist aber oft— wenigstens nach dem geltenden Straf- recht— gar nicht möglich, wenn der Beschuldigte erst auf die An- klagcbank gezerrt worden ist. Die Gesetz? können niemals so gefaßt werden, daß sie ausschließlich die Fälle träfen, zu deren Bestrafung ein gesellschaftliches Bedürfnis besteht. Deshalb mutz schon bei der Erhebung der Anklage eine gewisse Freiheit der Beurteilung und eine Pflicht zur Unterlassung unnötiger Anklagen festgesetzt werden. Natürlich würden wir uns lieber dazu entschließen, wenn wir zur Staatsanwaltschaft ein Vertrauen haben könnten, das wir ihr als Institution ihrer Whängigkeit und der politischen Verhältnisse im Deutschen Reiche wegen nicht zu widmen vermögen. Selbstver» ständlich würden wir von unserem Standpunkte aus den ganzen Strafprozeß anders organisieren als die Regierung eS will. Aber worauf es hier ankommt, ist, daß die Vorschläge der Novelle, die daS LeaalitätSprinzip einschränken wollen, auf dem politisch-sozialen Schlachtfeld der Arbeiterklasse nichts schaden, auf allen anderen Gebieten aber ihr nützen würden durch eine Verminderung der Anklagen und Strafen. Wolfgang Heine . Die in den einleitenden Absätzen deS vorstehenden Artikel? vom Genossen Heine uns insinuierte Absicht, wir hätten seine AuS» führungen„durch eine tendenziöse Uebersckrift von vornherein in beleidigender Weise als törickt oder parteischädlich stigmatisieren wollen", hat selbstredend nie bestanden. Daß jemand so befangen sei, diese Absicht uns zu unterstelle», hätten wir für unmöglich gehalten. Ge- »osse Heine erstickte um Aufnahme seines Artikels, um ihn als Gnuidlage zu den Besprechungen in der Fraktion benutzen zu können. Er hatte vorher mündlich mitgeteilt, daß er seine von der deö„Vorwärts" abweichende, von ihm früher in den„Sozialistischen Monatsheften" dargelegte Ansicht, ob die Erweiterung der Willlür des Staatsanwalts nicht Vorteile auch für die Arbeiterklasie habe, in einem Artikel aus« sprechen wolle und eine Entgegnung erwarte. Die Erfüllung seine» WiinscheS wurde ihm bereitivilligst zugesagt. Notwendig war e», unsere Leser darüber aufzuklären, um welche Frage eS sich dreht. Von uns ist die? Thema unmittelbar nach dem Erscheinen des Ent- lvursS zur Strafprozeßordnung am 1. Oktober 1908 erörtert. Im März 1909 wurde die Strafprozeßordnung' dem vorigen Reichstage, im November dem jetzigen Reichstage vorgelegt. An die vor l1/« Jahren gepflogenen Erörterungen erinnerten wir unsere Leser, um das Erscheinen des Heineschen Artikels ver-
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