Kr. 49. 27. Jahrgang.1. Sfilnor des Jonittf Knlim WksblMSsnatag. 37. Febttlar lM.Mgeorclnetenbaus.M. SiHunz: Sonnabend, den 26. Februar X910,vormittags 10 Uhr.Am Ministertisch: M o l t k e.Diezweite Beratung des Etats des Ministeriums b'es InnernWird»srtgesetzt.Beim Kapitel„landrätliche Behörden" führtAbg. Brors(Z.) Beschiverde darüber, daß der Oberpräsidentder Rheinprovinz in einem Falle dem Kreisausschuß das Vor-schlagsrecht für die Besetzung einer Bürgermeisterstelle versagt habe.Darin liege ein Eingriff in die Selbstverwaltung.Ein Regicrungskonlmissar erwidert, daß der Oberpräsidentallerdings in einein Falle einen kommissarisch eingesetzten Bürger-meister definitiv angestellt habe, da ihm alle anderen vom Kreis-ausschuß präsentierten Kandidaten nicht zusagten. Dazu sei ernach der Kreisordnuna berechtigt.(Hört! hört! links.)Abg. Schwabach(natl.) wünscht, daß die litauische Sprachein Versammlungen im Kreise Memel-Heydekrug zugelassen werde,und beschwert sich über mißbräuchliche Ausführung des Reichs-vcreinsgesetzes in Litauen.Abg. v. Goßler sk.): Die Beschwerden über die Landräte sindin diesem Hause immer geringer geworden.(Widerspruch links.)Für alle Einzelfälle können wir nicht verantwortlich sein.In ikre? Hauptaufgabe, äem Kampfe gegendie Sozialdemokratie, haben sieh die Landrätedurchaus bewährt(ßravol rechts.)Daß unsere Verwaltungsbeamten zum großen Teile konservativsind, ist ja richtig, aber welcher vernünftige Mensch wird es dennnicht billigen, daß der preußische Staat dadurch, daß er die Be-amten vorzugsweise aus den alten preußischen Beamtenfamiliennimmt, seine alten Beamtentraditionen zu wahren sucht? Jedergewöhnliche Betriebsunternehmer sucht sich doch heute den Nach-wuchs seiner Arbeiterfamilien für den Betrieb zu sichern. Auchliegt in der altpreußischen Einfachheit und Sparsamkeit dieserBcamtenfamilien ein wertvolles 5tapital.(Zuruf links: Korps-studententuml) Uebrigens ist es ganz erklärlich, daß dieBeamten, die zur Wahrung der Staatsautorität berufen sind, sichan die Partei anschließen, die diese Autorität grundsätzlich undam sichersten anerkennt.(Na! Na! links. Sehr richtig I rechts.)Stellen Sie sich vor, daß in dem Kreise eines liberalen Landratsdie Liberalen mit den Sozialdemokraten ein Bündnis eingehen;dann muß er entweder seine Partei verleugnen oder sein Amtniederlegen. In diesen Gewissenskonflikt wird ein konferva-tiver Landrat niemals kommen.(Große Heiterkeit links.) Esliegt eben an dem liberalen Material, wenn nur Konservative Be-amte werden.(Unruhe links.) Wenn man wünscht, daß diehöheren Verwaltungsbeamten aus den Parlamentariern genommenwerden, so habe ich doch Bedenken, bei aller Achtung vor der hohenIntelligenz, die in den Meisen der Parlamentarier der Linkenvertreten ist,(Heiterkeit rechts) ob sich dadurch die Verhältnissebessern würden, und wenn es nach der Stärke der Fraktionenginge, würden Sie(zu den Freisinnigen) ja übrigens auch nichtviel besser dabei stehen als wtzt I(Heiterkeit rechts.) Ich kannIhnen nur zurufen: Aendern Sie sich, dann werden Siesich und dem Staate mehr nützen.(Bravo! rechts; Gelächter links.)Abg. Graf Praschma(Z.) bringt einen Fall aus Schlesien zurSprache, wo die Mitglieder einer Mrkommission ihr Amt nieder-gelegt haben, weil der Vorsitzende den Zentrumskandidaten gewählthatte.(Hört! hört! und Heiterkeit.) Im nächsten Jahre erschiendann eine Verfügung der Zentralbehörde, lvonach die 5zöcordnungfür den Kreis aufgehoben wurde. Also weil der Vorsitzende* für das Zentrum gestimmt hatte, wurde auf einmal die freie Kuh-liebe im Kreise proklamiert!(Große Heiterkeit.)Abg. von Kardorff(ff.): Die Körkommission mußte aufgelöstwerden, weil die Mitglieder sich zu den Sitzungen nicht einfanden.Im übrigen kann ich mich nur meinem Parteifreunde Freiherrnv. Zedlitz anschließen, der diejenigen deutschen Elemente in denOstmarkcn, welche sich zu Schleppenträgern des Polentums gemachthaben, als Landesverräter gekennzeichnet hat.(Gelächterim Zentrum.) Ich habe ekn großes Verständnis für den Fdealis-mus der Polen, mit dem sie Phantomen nachjagen, aber eineandere Stellung nehme ich den Deutschen gegenüber ein, dienicht das Maß von Nationalgefühl besitzen wie die Polen. AlsLandrat kann ich nur mit Vertrauensmännern der einen oderanderen nationalgefinnten Partei arbeiten, aber nicht mit Ele-(menten, die die Deutschen verachten und die Polen auch. Warumunterstützt � das Zentrum überhaupt die Polen? Aus Mandats-.Hunger! Aber das ist einer so großen Fraktion durchaus unwürdig.(Große Unruhe im Zentrum.) Der konfessionelle Frieden tutnirgends so not wie in der Ostmark, schon um der großen sozial-demokratischen Gefahr wirksam entgegentreten zu können.(Bravo!rechts.)Minister v. Moltke erwidert dem Abg. Schwabach, daß in denKreisen Königsberg und Gumbinnen der Gebrauch der litauischenSprache in Versammlungen allgemein gestattet sei.Abg. Graf Praschma(Z.): Ich bin erstaunt, daß Herr Kar-dorff den von mir vorgebrachten Fall zum Anlaß genommen hat.eine so heftige Rede gegen das Zentrum zu halten. Dem fricd-lichen Zusammenarbeiten der Deutschen in der Ostmark wird da-durch nicht gedient.(Sehr richtig! im Zentrum.)?lbg. Lippmann(frs. Vg.): Herr Goßler hat wieder behauptet.die Konservativen seien berufen, die Staatsautorität zu wahren.Wo blieb denn der Respekt vor der Staatsautorität bei der Reichs-erbschaftssteucr?(Sehr gut! links. Unruhe rechts.) Wo bliebder Respekt sogar vor einem Königswort bei der großen KanalVorlage?(Unruhe rechts.) Und was aus der Wahlrechtsvorlagewird, für welche ja auch die Staatsautorität engagiert ist, weißauch kein Mensch. Bis jetzt haben die Konservativen mit Hilfe desZentrums das Oberste nach unten gekehrt.(Sehr wahr! links.)DaS konservative Parteiregiment können Sie nicht bestreiten.Der Landrat ist dazu da, gute, das heistt konservativeWahlen zu machen.Wg. v. Böhlcnborf-Kölpin(k.): Der Linken können eS dieLandräte nie recht machen. Entweder nennen Sie sie Ja-Brüderoder Rebellengarde. Sie aber sollten doch die Unabhängigkeit derLandräte anerkennen.(Sehr gut! rechts.)Abg. v. Niegolewski(Pole) beklagt, daß die Landräte im Ostenmit zweierlei Maß messen.Abg. Dr. Wiemer(frs. Vp.): Herr b. Goßler meinte, die Konser-vativen hätten das meiste Verständnis für Staatsautorität.(Sehrrichtig! rechts. Lachen links.) Unabhängigkeit und Selbständigkeitrespektieren wir selbstverständlich auch bei den Konservativen. Ab-hängig ist leider meist die Regierung, das ist wohl auch eine„gott-gewollte" Abhängigkeit.(Heiterkeit und Sehr gut! links.) Beider Reichserbschaftssteuer hat die Staatsautorität durch das Ver-halten der Konservativen schwer gelitten, die sich mit dem Zentrumund den Polen gegen die Regierung verbündeten.(Lachen rechts.)Hieß es doch damals, die Regierung habe den Reichstag nicht auf-gelöst, weil sie nicht sicher war, daß die Landräte für die Regie-rungspolitik in diesem Falle eintreten würden! Herr v. Goßlerhat ja heute bestätigt, daß die Landräte ihre Aufgabe darin sehen,die konservative Parteipolitik zu unterstützen. Gewiß sollen auchdie Landräte daS Recht der freien Wahl haben, aber sie sollen nichtihren amtlichen Einfluß zur politischen Beeinflussung mißbrauchen.(Sehr richtig! links.) Nicht die politische Gesinnung, nicht Familien-beziehungen sollen bei der Besetzung von Staatsämtern entscheidendsein, sondern allein die Tüchtigkeit.(Bravo! links.) Jetzt anAemtern besonders beteiligt zu werden, daran haben wir gar keinInteresse. Der Versuch des Zusammenarbeitens von Konservativenund Liberalen ist gemacht worden und durch die Schuld der Konser-vativen gescheitert. Wenn Herr v. Goßler meinte, wenn die hohenStaatsämter aus Parlamentariern besetzt würden, würdenwir auch wenig Vorteil davon haben, so bemerke ich, daß die Stärkeder konservativen Fraktion durchaus nicht der Stärke ihrer Wähler-zahl entspricht, sondern lediglich dem rückständigen Wahlrecht undder veralteten Wahlkreiseinteilung zu verdanken ist.(Sehr richtig!links.) Bei einem gleichen und geheimen Wahlrecht würdenzweifellos nicht so viele Konservative, namentlich nicht fo vieleLandräte in dieses Haus einziehen. Das würde vielen Kreisenzugute kommen, vorausgesetzt, daß die Landräte ebenso viel Ver-waltungstalent besitzen wie politischen Einfluß.(Bravo! links.)Wg. Fleuster(Z.) bringt einen weiteren Fall vor, in dem derLandrat in das Jagdverpachtungsrecht einer Gemeinde cinge-griffen hat.Hierauf wird ein Antrag aufSchluk der Debattevon der Rechten und dem Zentrum angenommen.Wg. Borgvlann(Soz.):Ich stelle fest, daß ich durch den Schluß der Debatte verhindertworden bin, namens meiner Partei, von der überhaupt bei dieserDebatte noch niemand zu Worte gekommen ist. darzulegen, wiesehr gerade unsere Partei durch die Art und Weise, wie dieLandräte ihre Geschäfte führen, geschädigt worden ist.Das Kapitel wird bewilligt.kleines Feuilleton.Gedanken aus dem Tagebuch des geheimen OberkommiffarSv. Fehlgriff:»Zirkus Busch. Es war ein erhebender Moment, alsHerr v. Oldenburg ausrief: Wir zerschmettern siel Die ganzeLandwirtschaft stand aufrecht und streckte die fleischigen Schwur-finger in die Luft. Mir stieg das Wasser in die Augen. WollteGott, wir hätten mehr solcher Männer in dieser schweren Zeit."»Schon wieder Aerger. Als der Zug der Stadtmissionare undJungfern vom weißen Kreuz durch die Burgstraße nach dem Domzieht und gerade das ergreifende Lied intoniert„Wir sündhaftEitcrbeu.. heu.. len...", lehnt sich dieser Lümmel von Acht-groschen-Agente gewohnheitsmäßig weit aus dem Fenster und schreitrunter: Unser allergnädigster k. pp.! Dieser saudumme Stiesel.ehrliche Bürger zu provozieren! Ich entlasse das Heupferd nochheute. Habe ich ihm darum das Zimmer gemietet? Seinen Nach-folger werde ich vorsichtshalber erst beim Physikus auf Farbenblind-heit untersuchen lassen, ob der auch rot und schwarz unterscheidenkann"»In der Konferenz wurde heut ernstlich erwogen, wie man dieBande besser zu Paaren treiben könnte. Die jetzige Bewaffnungsei unzulänglich. Zumal die Schuppenkette unterm Kinn nicht dengchofften Eindruck macht und die Mannschaft zu beständigemNiesen reizt. Da wir in Frankfurt den Kürzeren gezogen haben,schlug ich vor, den Spieß umzukehren, unsre Leute mit gestoßenemPfeffer auszurüsten und den verfl. S.-D. die Brownings zu über-lassen. Ich wollte noch weiter die Bierflasche mit dreimaligemArmschwung empfehlen, aber der Polizeipräsident fiel mir gleichin die Parade, wir hätten doch schon einmal Fiasko gemacht mitdem Versuch, de» Raubmördern Mehltüten an den Rockschoß zuheften. Darauf wandte er mir in demonstrativer Weise sein Hinter-gebäude zu. Muß ich mir das bieten lassen? Auch ich bin Reserve-leutnant. Aber man hat Kinder. Und das Gehalt ist gut."»So ein Rixdorfer Stadtverordneter hat es doch furchtbar leicht.Seht auf und sägt, ich bin hier nur kgl. pr. Beamter, und schießtden Vogel ab. Sicher hat er schon einen. Vielleicht sogar dritterGüte. Unsereiner schwitzt täglich aus allen Knopflöchern fürsVaterland und besieht sich den Essig. Ter Piepmatz wird einemsauer gemacht. Aber das Gehalt ist gut. Und die Renumerationenfind besser."„Wir sollen die Rotte photographieren. Dan» gibt's keineAusrede mehr, wer zuerst gepfiffen hat. Das ist nun wieder so«in Aerger. Geh ich da mit meinem Kasten unter dem Arm durchdie Lindenstraße, um meine Jungs zu inspizieren; da fühl ichdeutlich, daß ich fixiert werde. Ich blicke entrüstet auf. wieich so zu blicken Pflege. Aus dem Omnibus grinst mir so einPatron zu, schiebt eben seine Kamera zusammen und ruft noch:Sie können uns am Abend photographieren! Eh ich noch meinTrillerdings raushole, ist er schon heidi. Also er hat mir! Nundie Geschichte ist am Ende nicht so schlimm. Ich laß mir denPoposcheitel wegfrisieren; dann kennt mich keiner wieder."Für richtige Abschrift bürgtDer Wochenbeschauer.Tie Photographie in natürlichen Farben ist durch die seit etwazwei Jahren in die Praxis eingeführte Erfindung der BrüderL u m i e r e in Lyon wesentlich vereinfacht worden. Während nachdem älteren Verfahren für eine Photographie, die in natürlichenFarben reproduziert werden sollte, drei Aufnahmen durch farbigeGläser(blau, gelb und rot) gemacht werden mußten, gestattet dieLumieresche Erfindung die Herstellung eines Bildes in natürlichen! Farben durch eine einzige Aufnahme. Das wesentliche der1 Lumiereschen Erfindung besteht darin, daß die Erfinder die farbi-j gen Filter in Gestalt mikroskopisch kleiner gefärbter Stärkeköruchenauf die Glasplatte auftrugen und darüber die lichtempfindlicheBromsiwerschicht anbrachten. Nach der Belichtung und Entwicke-lung entsteht schließlich auf der Aufnahmeplatte selbst ein positives,durchsichtiges Bild in natürlichen Farben, das aber nicht, wie diegewöhnliche Photographie auf Papier übertragen werden kann.Ueber die Leistungen des Lumiereschen Verfahrens konntesich das große Publikum bisher noch kein Urteil bilden, weil inder Oeffentlichkeit sehr wenig davon zu sehen war._ Selbst dievorjährige internationale photographischc Ausstellung in Dresdenbrachte nur einzelne, nicht einmal durchweg vollkommene Arbeitennach dem Lumiereschen Verfahren. Daß die Leistungen dieses Ver-fahrens in der Oeffentlichkeit noch wenig bekannt sind, hat seinenGrund: Für den berufsmäßigen Porträtphotographen kommt dasVerfahren kaum in Betracht. Seine Ausübung beschränkt sich inder Hauptsache auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis vonAmateuren.— Am Sonnabend wurde— unseres Wissens zumerstenmal in Berlin— der Oeffentlichkeit eine Vorführung vonBildern nach der Lumiereschen Methode geboten. Das geschah inder Urania durch Herrn Hans H i l d e n b r a n d aus Stuttgart.Er führte Aufnahmen, die auf Platten 13 mal 18 Zentimeter gc-macht sind, mit dem Projektionsapparat in etwa 10 bis 12facherVergrößerung vor. Die Farben waren von einer überraschendenNatürlichkeit, sowohl in de» Wiedergaben von Gemälden, als auchin den nach der Natur gemachten Aufnahmen von Landschaften,Blumen und Stilleben. Die lange Reihe stimmungsvoller Bildervon unübertroffener Naturwahrheit hat nicht nur für den, der sichfür die Farbcnphotographie interessiert, lebhaftes Interesse, son-dern sie bieten audh rein als Bilder betrachtet einen künstlerischenGenuß. Die Borführung wird am Montag wiederholt.Theater.Deutsches Theater:„Judith" von Hebbel. Endlichist die von Reinhardt für sein vorjähriges München« Sommer-Beim Kapitel„Polizeiverwaltung in Lerlin und Umgebung"weist Wg. von Bülow-Homburg(natl.) auf den Werk eines ein-heitlichen Bebauungsplanes für Groß-Berliu hin.Abg. Liebknecht(Soz.):Das Berliner Polizeipräsidium entfaltet eine ungeheure poli-tische Tätigkeit. Von einer ungeheuren Anzahl Personen, die imVordergründe des politischen Lebens stehen, besitzt esPersonalakten,es bildet denZentralpunkt der gesamten politischen Polizei in Preußen.In demKampf gegen Turnvereine, denen Sozialdemokratenangehöre»,geht eS genau so vor wie gegen die dänischen und polnischenTurnvereine. Die Lehrer, die dort ohne besondere LehrerlaubnisTurnunterricht geben, werden schwer bestraft. Ja, man nimmtselbst die Gastwirte, die solchen Turnvereinen Unterkunft gewähren.in Strafe! Das Berliner Landgericht I hat erst vor kurzemdaS Berliner Polizeipräsidium und das Kultusministerium zurOrdnung gerufen, indem es ein solches Vorgehenfür ungesetzlich erklärthalt Sogar Jugendchöre, von denen man annimmt, daß ihreMitglieder auf dem Boden der proletarischen Weltanschauung stehen.werden fortgesetzt chikaniert. Personen, die wegen irgend welchergeringfügiger Delikte in Untersuchungshaft genommen sind, werdenwie Verbrecher photographiert und in däs Verbrecheralbum auf-genommen! In einer Verfügung des Berliner Polizeipräsidentenvom 16. Januar 1908 wird dies zwangsweise Photographieren damit„gerechtfertigt", daß der betreffende Anarchist sei und als solchereiner Partei angehöre, die den Umsturz der bestehenden staatlichenund gesellschaftlichen Ordnung bezwecke und deren Tun und Treibendeshalb von der Polizei pflichtgemäß überwacht werden müsse?(Hört! hört! b. d. Soz.) Diese„Begründung" ist skandalös.Danach kann jeder Sozialdemokrat nach Auffassung der Polizeiin dieser entwürdigenden und beleidigenden Art zwangsweise photo-graphiert werden. Nach dieser Begründung können auch Polen,Dänen und vielleicht auch einmal die Herren vom Zentrumin daS Verbrecheralbum gebracht werden! Im Interesse derKulturehre Preußens sollten sich die verschiedensten Parteien diesesHauses gegen solche Uebergriffe der Polizei wenden.Ferner möchte ich anfragen, ob es richtig ist, daßdie berüchtigte russische Polizeiagentin Jutschenka, alias Gernegroßsich jetzt wieder mit Genehmigung der Polizei in Charlottenburgaufhält. Es ist dies bekanntlich eins der jämmerlichsten, moralischkorrumpiertesten Individuen, die es jemals in der politischen Gc-schichte gegeben hat; sie hat alle möglichen Opfer an den Galgengeliefert, hat unerhörte Provokationen getrieben, sich imAusland von der russischen fteigesinnten Jugend als Märtyrerinfür die russische Freiheit verehren lassen und zu gleicher Zeit alsweiblicher Judas im Dienste der Polizeigestanden! Es ist kein Zweifel, daß sie ihre jetzige Anwesenheitin Charlottenburg benutzt, um ihre verbrecherische niederträchtigeTätigkeit fortzusetzen.Ferner möchte ich fragen, ob der Berliner Polizeipräsident dar-über unterrichtet ist, daß nach unwidersprochenen Zeitungsmeldungendie russische politische Polizei in Brüssel und Namur unter Leitungdes derühmtenHarting-Landeffenjetzt wieder eineZentrale für auswärtige Spitzeleieingerichtet hat und daßin Berlin eine Nnterzentralezu demselben Zweck für Deutschland, Oesterreich und diesämtlichen skandinavischen Länder eingerichtet worden ist!In Berlin dürfen ja diese Spitzel ihre Tätigkeit ungehindert, jamit Unterstützung der Polizei entfalten.Die Berliner Polizei arbeitet gradezu in Kompagnie mit de»erbärmlichsten russischen Spitzeln. 1307 wurde bekanntlich eineRazzia unternommen gegen die Berliner russische Lesehalle. Siewurde aufgelöst und viele Russen wurden ausgewiesen. DiePolizei scheint nachher eingesehen zu haben, daß sie sich damit ge°wissermaßen inS eigene Fleisch geschnitten hat, indem sie sich derMöglichkeit beraubte, die Tätigkeit der in Berlin anwesenden Russengastspiel inszenierte„Judith" nun auch auf dem Deutschen Theatererschienen. Würdig reiht sich die Aufführung dem besten. waS andiese Stätte geboten wurde, an. Die seltsame Dichtung, in dieder junge Hebbel, künstlich konstruierend, allerhand vieldeutigschillernde Gedanken über die Gottesvorstellungen der Menschheit,das Verhältnis von Juden- und Heidentum, den Gegensatz undKamps der Geschlechter hineinverwoben, glühte und flammte indieser Wiedergabe, griff wie der Anblick eines imposanten Natur»schauspiels an das Herz.Glänzend war schon der Auftakt des ersten AktS: Der grau-same, zuchtlose, zum Uebermenschen aufgeblähte HolofernesWegeners, der mit wollüstig verzücktem Lächeln von einer Zu-kunft träumt, wo er, ein Herrscher über die ganze Erde, zugleichals Gott angebetet werden wird. Der Schauspieler verstand mitfeinem Takt, die Hintergründe, aus denen die Selbstvergötterungihre Nahrung zieht, durchscheinen zu lassen und, ohne der Gestaltetwas von ihrer Furchtbarkeit zu nehmen, die Illusion des Mög-lichen zu wahren.In machtvoller Steigerung schlössen sich die Judith-Szenen an.in denen Tilla Durieux' immer eigenartiger und mannig-sacher aufblühendes Talent jede Erwartung übertraf. Mit einernachtwandlerischen Sicherheit brachte sie die viel verschlungenenZüge der Judith, ihre geheimnisvolle Innerlichkeit zum Leuchten.Weibliche Sinnensehnsucht, der Drang, die Schranken des Gc-schlechts durch eine große heldenhafte Bcfreiertat zu überspringen.religiös begeisterte Extasc und die bohrende Verzweiflung, als siedie blutige Tat vollendet, doch nicht in jenem Geiste vollendet hat.in dem ihr die Ausgabe geworden— das alles sprach in Akzentenfortreißender Uebcrzeugungskraft. Die Erzählung ihres wunder-samen, aus Mysterien der Zukunft deutenden Eheschicksals war einebedeutsame Ouvertüre. Ein Wilder Farbenbrand, entrollt(ich dasGemälde der nächtlichen Szenen im Lager des Holofernes.Die Volksszencn im belagerten Bethulien zeugten wieder vonReinhardts merkwürdiger Regiekunst. Die Bewegung der ver-durstenden, von Zeit zu Zeit in laute Klage ausbrechenden Menschenwar malerisch-rythmisch wunderbar gegliedert und schwoll beimAuftreten des von Schildkraut lrefftich dargestellten Pro-pheten zu tosender Brandung an. Im Schlußakt freilich hätte maneine kürzere Zusammenfassung der Elendsbttder wünschen möge».Dauerte die Aufführung doch ohnehin vier Stunden. 6r.Notizen.Vorträge. Im Institut für Meereskundespricht am Dienstag, den 1. März, Dr. M. Bonn- München:»Ueber die Regierung d c r K o lo n i e n"; Freitag, den 4.,Graf Larisch-Wien üb«:»Sturmtage im Süd-atlantik", unter Vorführung von Lichtbildern, die er auf ein«Fahrt um Kap Horn aufgenommen hat.