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Nr. 83. 27. Jahrgang. 1. KcilM Ks Joritärts" ßttliutt WlksM Sonntag. 10. April 1910. Hbgeordnetenbaus« 44. Sitzung am Sonnabend, den 9. April, vormittags 11 Uhr. Am Ministertisch: v. Breitenbach. Die zweite Beratung des Bauetats wird fortgesetzt. Zur Erweiterung des Schutzhafens bei Hameln Verden 50 000 M. als erste Rate bewilligt. Für den Umbau im Saal und Bureaugeschotz des Geschäftsgebäudes!für das Abgeordnetenhaus werden 49 000 M. verlangt. Die Budgetkommission hat diese Forderung gestrichen. Die Abgg. Graf Spee(Z.) u.Gen. beantragen die Wiederher- stellung des Titels mit Rücksicht auf die Notwendigkeit einer geeigneten räumlichen Verbindung der Bibliothek mit den Lese- sälen und dem Plenarsaal. Abg. Frhr. v. Maltian(k.) bittet mit Rücksicht auf die Finanz- läge, diesen Umbau noch zu vertagen. Abg. Dr. Wagner(fk.): Der Aufenthalt in der Bibliothek ist für uns Abgeordnete sehr unbehaglich. Neben den jungen Herren, die da ihre Examenarbeiten machen, fühlt man sich sozusagen nur geduldet.(Heiterkeit.) Sparsamkeit ist sehr schön, aber Spar- samkeit am eigenen Leibe ist gefährlich.(Heiterkeit.) Der Leib des HauseS ist das Geschäftsgebäude und die Bibliothek ist das Gehirn des Hauses.(Heiterkeit.) Für dies edelste Organ wollen wir nicht sparen.(Bravo !) Nachdem noch die Abgg. Peltasohn(Fortschr. Vp.) und Winckler (!.) für den Antrag Spee, der Abg. Schrödcr-Kafsel dagegen ge- sprachen hat, schließt die Debatte. Der Titel wird gemäß dem Antrage Spee bewilligt. Der Rest des Etats wird debattelos genehmigt. Es folgt die erste Beratung des Gesetzentwurfs betr. die Ber- mcidung von Doppclbesirnerungen bei Heranziehung zu direkten Komninnalsteuern in verschiedenen Bundesstaaten. Nachdem sich die Abgg. v. Schmcling(k.), Dr. Wendlandt(natl.). Kirsch(Z.) und Dr. Arendt(fk.) für die Vorlage erklärt haben, schließt die Debatte. Es folgt die erste Lesung des Gesetzentwurfs betr. die Ber- Pflicht» ng zum Besuch ländlicher Fortbildungsschulen in der Pro- vinz Schlesien . Abg. v. Prittwib(k.) beantragt die Ueberweisung der Vorlage on die Gemeindekommission. Abg. Geisler(Z.) begrüßt die Vorlage. Die FortbildungS- schulen hätten auch die wichtige Aufgabe, den Bestrebungen der Sozialdemokratie auf Erziehung der Jugend in ihrem Geiste entgegenzuwirken. Redner beantragt die Ueberweisung der Vor- läge an eine besondere Kommission. Landwirtschaslsminister v. Arnim betont, daß der KreiSauS- schuß durch die Vorlage nur das Recht erhalte, die bestehenden Fortbildungsschulen obligatorisch zu gestalten, nicht aber gegen den Willen der Gemeinde FortbildungSschlilen einzuführen. Abg. Witzmann(natl.) erklärt daS Einverständnis seiner Freunde mit der Vorlage. Abg. Hoff(Fortschr. Vp.): Wir stimmen der Vorlage zu und wünschen nur, daß solche Bestimmungen für die ganze Monarchie getroffen würden. Warnen möchte ich davor, politische Momente in die ländlichen Fortbildungsschulen hineinzutragen, wie das Herr Geisler wollte. Nichts ist mehr geeignet, das Vertrauen der Be- völkerung in diese Schulen zu erschüttern. Von einer zunehmenden Zucktlosigkeit auf dem Lande, wovon die Begründung der Vorlage spricht, habe ich nichts bemerken können, sondern eher das Gegen- teil. Sehr wichtig ist eine angemessene Bezahlung der Lehrkräfte an diesen Schulen. Den im Herrenhause vorgeschlagenen Weg der Schaffung besonderer Seminare für Stadt- und Landschulen wird die Regierung hoffentlich nicht betreten. Ebensowenig wird sie wohl dem Vorschlage des Herrn v. Bissing im Herrenhause folgen, verabschiedete Offiziere zu Lehrern in den Fortbildungsschulen zu machen.... Abg. Winckler(I.) wünscht Einführung ahnlicher Maßnahmen für Pommern und Westfalen . Die Aeußerung über die zunehmende Z u ch t l o si gleit der Jugend trifft durchaus zu. Das ist freilich in den Städten genau so wie auf dem Lande. Landwirtschastsminister». Arnim erwidert dem Vorredner. kleines feuilleton. Welch eine Wenclung durch lagows fllgung. Kreßstimmen zum freien Recht auf die Straße. Deutsche Tageszeitung":Die Wsedereinführung der Prügelstrafe gegen nachgiebige Polizeipräsidenten ist ein dri>n- gendes Erfordernis der Zeitlage. Wohin soll die Landwirtschast geraten, wenn schließlich jeder Mistjunge, dem zufällig die Stall- aufsicht anvertraut worden ist, sich untersteht, eigenmächtige An- ordnungen treffen? DaS ist Revolte! Das ist Anarchie! Ja mehr, das ist beinahe ZukunstsstaatI Es bedeutet eine beisviellose Unsicherheit des öffentlichen Verkehrs, wenn Hunderttausende auf einfaches Hochheben eines mit einer Binde versehenen, nicht am Leibe eines Polizisten angewachsenen Arms derart reagieren, daß sie selbst jedem Kinderwägelchen oder Hofautomobil ungehemmt freie Passage lassen. Landwirte I Hierauf gibt es nur eine Ant- wort: Die Bastonade für den Schuldigen! Wenn nicht, so ver- kaufen wir unsere Güterkomplexe zu 8 Groschen den Hektar an unsere Polacken als Laubengelände und wandern nach Hereroland aus. Nachher kann der Polizeipräsident zusehen, wo er seinen Bedarf an Butter, Karbonaden und Kartoffelschnaps herbekommt!" Die Post":Unerhört! Selbst der verstocktestePost"-Esel kapiert nachgerade, was ein Zickzackkurs ist. Wir möchten doch eine psychiatrische Beobachtung empfehlen; denn nur ein nnheil- bares Delirium pflegt solche Abweichungen von der geradlinigen Bewegung hervorzurufen. Die Sehnsucht nach Sinnesgemeinschaft mit den Ballonmützenbrüdern aus der Lindenstr. 89(dritter Hinter- Hof vier Treppen l) ist schon für sich ein Zeichen pathologischer Degeneration bei einem Manne, dem man bedauerlicherweise eine Beletage nach vorn heraus als Dienstwohnung eingeräumt hat." L o k a l- A n z e i g e r":.Die gespannteste Aufmerksamkeit der ganzen Welt ist auf diese sensationelle Meldung konzentriert. In den Wandelgängen der Parlamente der ganzen Welt gibt es zurzeit kein anderes Gesprächsthema. Unsere Spezialkorrespon- denten in der ganzen Welt kabeln unserem Weltblatt unausgesetzt die kostspieligsten Funksprüche über die fabelhaften Wettsummen, die an allen Börsen auf den glücklichen Ausgang des Ereignisses gesetzt werden, weshalb wir allen übrigen Text aus den Welt- berühmten Spalten unseres Blattes wieder ausbrechen mußten, um uns zur politischen Aufklärung der Leser einzig mit dem zu beschäftigen, was das Herz jedes echten Deutschen höher schlagen macht. Ein außerordentlicher Staatsrat ist einberufen und berät seit 3 Uhr 14 Minuten nachts, wie wir schon im Extrablatt(un- entgeltlich in beliebiger Anzahl!) mitteilten, über Mittel und Wege, in Zukunft diefreie Passage" verfassungsmäßig zu garantieren. Am Königlichen Hofe trafen von allen Potentaten der Welt landesväterlich mitempfundene Telegramme ein, die wir nunmehr in ihrem vollen und ganzen Wortlaut folgen lassen usw. usw."(Es handelt sich einzig um eine versetzte Blähung Ihrer k. k. Hoheit der Prinzessin Mariechen in und zu Little Popo bei Westafrika .) daß ähnliche Bestimmungen wahrscheinlich noch in dieser Session vorgeschlagen werden sollen für die Provinz Sachsen . Pommern . Westfalen. Rheinprovinz und wahrschein- lich auch B.r a n d e n b u r g. Abg. Frhr. v. Zedlitz(fk.): Wenn die Auslegung des Ministers über die Befugnisse der Kreisausschüsse zutrifft, wird die Vorlage gerade für die national gemischten Provinzen ein Schlag ins Wasser sein, denn dort werden vielfach die Gemeinden nicht geneigt sein. Fortbildungsschulen einzurichten. Die Vorlage wird daher noch in der Richtung zu ergänzen sein, daß die Kreisausschüsse das Recht erhalten, auch gegen den Willen der Gemeinde die Er- richtung von Fortbildungsschulen anzuordnen. Die Hauptaufgabe der Fortbildungsschulen ist vaterländische und königstreue Ge- sinnung in der ländlichen Jugend zu pflegen. Damit schließt die Debatte, der Entwurf wird der Gemeinde- kommission überwiesen. Eine schon vom Herrenhause beratene Novelle zum Gesetz von 1900 betr. das Ruhegehalt der Organisten, Kan- to ren und Küster und die Fürsorge für ihre Hinterbliebenen in der evangelischen Landeskirche wird in erster Lesung erledigt. Die zweite Lesung wird ohne Kommissionsberatung im Plenum stattfinden. Hierauf vertagt sich das HauS. Nächste Sitzung Montag 11 Uhr: Eisenbahnetat. Schluß 314 Uhr._______ Airtichsstllcher Nochendericht. Berlin . 9. März 1910. Einfuhrscheinsystem. Eine Denkschrift. Geschichtliche Ent- Wickelung des Einfuhrscheinwesens. Wirkungen der Aufhebung des Identitätsnachweises. Keine Wahrnehmung der Volks- intercssen. Die BezeichnungEinfuhrscheine" deckt eine besondere Ein- richtung im System der agrarischen Liebesgabenpolitik. Für die Masse der Konsumenten hat diese ein hervorragend wirtschaftliches Interesse. Die Einrichtung der Einfuhrscheine bildet gewisser- maßen den Schlußring in der Kette der Lebensmittelverteuerung. Die Einrichtung in ihrer anfänglichen Form bezweckte, den Ver- edelungsverkehr mit Getreide, der durch die Einführung von Ge- treidezöllen gefährdet wurde, lebensfähig zu erhalten. Unter Ver- edelungsverkehr ist hier zu verstehen, die Einfuhr von Getreide zu dem Zwecke, es im Inlands zu vermählen und dann als Mehl wieder auszuführen. Vielfach wird dabei in- und ausländisches Getreide vermischt, um ein besseres Backprodukt zu erzielen. Die Einführung der Getreidezölle stellte den ganzen Veredelungs- verkehr in Frage. Angenommen, der Müller, der ausländisches Getreide vermählen wollte, hätte für dieses den sogenannten Schutzzoll aufbringen sollen, dann wäre ihm daS AuSlandSgetreide so teuer geworden wie das inländische infolge deS Zolles, und dann war eine Wiederausfuhr unmöglich. Um daher den Ver- edelungsverkehr lebensfähig zu erhalten, sollte der Zoll auf auS» ländisches Getreide zurückvergütet werden, soweit dieses wieder zum Export gelangte. Auch das Getreide, daS nur im Durchgangs- verkehr das Inland passiert«, hier nicht dem Konsum zugeführt wurde, fiel unter diese Ausnahmebestimmung. Der technischen Durchführung dienten dieEinfuhrscheine". Wurde bei der Ausfuhr von Mehl oder Getreide der Nachweis erbracht, daß es sich um ausländische Ware handle, dann fertigte die Zollbehörde dem Exporteur eine entsprechende Bescheinigung darüber aus, mit der er dann eine der Ausfuhr gleich große Menge ausländisches Ge- treide zollfrei einführen konnte. Die Zollrückvergütung geschah demnach durch den bei der Ausfuhr von Getreide ausgestellten Ein- fuhrschein. Vorbedingung der Erlangung eines solchen Scheines war aber der Identitätsnachweis. Der Exporteur mußte nach- weisen, daß die Ausfuhr ganz oder zum Teil aus eingeführtem Getreide bestand. Soweit es sich um Mischungen handelte, wurde nur die Menge des darin enthaltenen ausländischen Getreides bei der Ausstellung eines Einfuhrscheines berücksichtigt. Der Identitätsnachweis follte verhindern, aus der Zollrückvergütung eine Ausfuhrprämie zu machen, indem man, um in den Besitz von Einfuhrscheinen zu gelangen, einheimisches Getreide exportierte. Aber im Wandel der Zeiten haben die Slgrarier und die bei dem Geschäft interessierten Exporteure die damals nicht beabsichtigte Ausfuhrprämie erobert. Nicht nur ist der Identitätsnachweis ge- Der Reichsbote":Sodom und Gomorrha! Die Sünbe triumphiert. Wie hat doch schon Hochwürden sel. der Ober- Hofprediger Stöcker gesagt?Es werden sein Zeichen und Wunder im Jahre des Kometen." Nun stinket zum Himmel die sträfliche Verblendung der Obrigkeit. Die Rotte Korah wird losgelassen werden am Tage des Herrn, und die leeren Kirchen werden wider- hallen von den Hochrufen der Gottlosen auf der Straße. DaS tausendjährige Reich ist nahe. Wir sagen gar nichts mehr."(Die Redaktion desReichsboten" ist inzwischen mitsamt ihren 234 Abonnenten der Sicherheit wegen in die Kasematte» von Spandau übergesiedelt.) Germania ":Wenn wir neulich schrieben: Nieder mit den Demonstranten! so meinten wir natürlich: Hoch die Demon- stranten! Ueberhaupt haben wir es gleich gesagt, daß das all- gemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht nebst dem Trep- tower Park dem Volke gehört. Wir werden auch in Zukunft nicksts anderes, als höchstens das Gegenteil behaupten. Wir Katholiken wissen stets, was wir wollen, und unsere Abgeordneten versprechen immer so viel, daß sie es nicht mal halten können. Unser Herz ist weit, und der Magen der alleinseligmachenden Kirche durchaus eng, und wenn das Reichstagswahlrecht mal abgeschafft ist. werden wir mannhaft auftreten und sprechen: Bis hierher und nicht weiter!" Morgen post':Daß wir sozialistischer sind als der Vorwärts" haben unsere Leser hoffentlich schon lange gemerkt. Denn wir erscheinen sogar Montags und sind Kartenlegerinnen und herzlicher Massage nicht abgeneigt. Man muß leben und leben lassen. Wie erinnerlich, hatten wir bei den Demonstrationen am 13. Februar und 8. März eine Illumination unseres Geschäfts- Palais projektiert, sowie das Aushängen einer roten Riesenfahne mit der Jnfchrist: Nieder mit dem Volksverräter Jagow! Sollten unfere Leser nichts davon gesehen haben, so haben sie sich eben nur in der Hausnummer geirrt. Jedenfalls ist der jetzige Um- fchwung der Ansichten auf dem Alexanderplatz nur dem Umstände zuzuschreiben, daß wir in der besagten Art energisch für die Volks- rechte eingetreten sind. Es scheint uns deshalb zeitgemäß, den Jnseratentarif ab heute um nur lumpige 33 Proz. zu erhöhen. Dafür bringen wir auch den spannenden VolkSroman: Das Kät- chen von Treptow oder Vom Ballon überfahren! Wird später dramatisiert." Die Browning Pistole", Berufsorgan der Berliner Schutzmannschaft:Kameraden! Die soziale Frage tritt mit der gezückten Sabelschärfe des Hungers an uns heran. Wir werden überflüssig. Schon heute versehen Parteiordner mit hoher Ge- nehmigung unseren Dienst, und der Verkehr wickelt sich so sprachlos glatt ab, wie wir es trotz Gratifikationen und Studienreisen nach London niemals fertig brachten. Kameraden, wir sind überflüssig! Die? ist nicht mal mehr eine Frage der Zeit, es ist vollendete Tat- fache. Was nun? Das graue Elend starrt uns an. Werden unsere Eingeweide minder ruhestörend knurren, auch wenn wir den Pistolenriemen täglich um ein Loch enger schnallen? Sollen wir wirklich unsere gut gepflegten Bäuche wie Margarine an der Sonne dahinschmelzen sehen? Nein, und abermals nein! Kameraden, dem Mutigen gehört die Welt und nur der erste Schritt kostet fallen, die Einfuhrscheine! gelten heute auch als Zahlungsmittel bei einer Reihe anderer Erzeugnisse als Getreide: Hülsenfrüchte, Petroleum, Kaffee. Erhöhten Anreiz, das System der Einfuhrscheine als Mittel zur Erlangung von Ausfuhrprämien zu benutzen, schuf das letzte Zolltarisgesetz. Seit Inkrafttreten der neuen Handelsverträge und Zollsätze ist die Verwendung von Einfuhrscheinen in munterem Aufschwünge begriffen. Die Zollbegleichung mittels Einfuhr- scheine machte folgende Beträge auS: 56 Millionen Marl im Rechnungsjahr 1906, im nächsten Jahre 54 Millionen Mark und 99 Millionen Mark im Jahre 1908. Die von den offenbaren Schäden dieser EntWickelung ausgelöste öffentliche Kritik ver- anlaßte den Reichstag schon wiederbolt, sich mit der Materie zu beschäftigen. In pflichtgemäßer Würdigung ihrer gottgewollten Abhängigkeit von den Junkern, lehnte die Regierung stets einen Angriff auf das Einfuhrscheinunwesen ab. Doch erklärte sie sich vor dreiviertel Jahren bereit, einem Beschlüsse des Reichstages entsprechend, alsbald eine Denkschrift über die Wirkung und den Umfang des Einfuhrscheinsysteins vorzulegen. Dw Denkschrift liegt nun vor. In der geschichtlichen Darstellung bemerkt sie, das Verlangen auf Beseitigung des Identitätsnachweises sei von den Handels- kreisen einiger Ostseeplätze ausgegangen und habe sich die Forde- rung zunächst nur auf die Transitlager bezogen. Nach und nach seien dafür auch die Landwirte des Ostens und der Getreidehandel des Westens und Südens eingetreten. Die Regierung habe diesen Wünschen Rechnung getragen, als bei der Beratung des russischen Handelsvertrages überzeugend nachgewiesen worden sei» daß durch die Beseitigung des Identitätsnachweises eine Linde- rung der Notlage der Landwirtschaft des Ostens erreicht werden konnte. Bei der damaligen Beratung dieser Frage im Reichstag sei die Meinung hervorgetreten, daß ein Ueberwiegen der Aus- fuhr über die Einfuhr als unzulässig anzusehen wäre, daß aber ein solcher Fall unwahrscheinlich sei. Seit 1894 bis zum 1. März 1906 seien grundsätzliche Bedenken gegen das Einfuhrscheinwesen von keiner Seite laut geworden. Erst nach Inkrafttreten des neuen Zolltarifes erfolgten heftige Angriffe gegen dieses System. Die Antwort auf die Frage, ob daS Einfuhrscheinsystem zu verwerfen sei. verneint die Denkschrift durch die ganze Art ihrer Argumentation. Die Begründung macht sie sich sehr leicht. Sie unterstellt nämlich als Zweck deS Systems: Hochhaltung resp. Hebung der Getreidepreise, und da dieser Zweck in Wünschens- werter Weise erfüllt werde, ergibt sich die Konsequenz für die Regierung von selbst. In der Frage über die Wirkung ocs Einfuhrscheinwesens sind wir demnach mit der Regierung im Prinzip einig; in dem Urteil über die Bedeutung der Wirkung gehen die Ansichten weit auseinander, stehen sich diametral gegen- über. Was der zentrümlich-konservative Schnapsblock und die Re- gierung als Vorteil und erfreulich ansehen, die künstliche Ver- teuerung der Lebensmittel, taxieren und bekämpfen wir als ein großes Üebel. Bei der Regierung hat nur ein Bedenken Raum: nämlich das, ob das Einfuhrscheinsystem vielleicht die Einnahmen der Reichskasie schädige. Nach der Denkschrift könne man sogar zu der Ansicht gelangen, auf diesen einen Punkt konzentriere sich die gan�e Streitfrage. Für die unter der Last der wucherischen Brotpreise seufzenden Konsumenten ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Reichskasse etwas mehr oder weniger Ein- nahmen erzielt, wenn so oder so die Brotkäufer Hunderte don Millionen an die Junker zahlen müssen. Mag die Reichskasse durch das Einfuhrscheinwesen keinen Schaden haben, die Konsumenten müssen es teuer bezahlen. Aber, obwohl die Eingabe bei der Untersuchung der Frage, ob die Reichskasse geschädigt werde, äußerst tolerant urteilt, muß sie sich doch zu einigen bejahenden Zugestandnissen bequemen. Wie die Nachweisung für Roggen zeigt, überragt hier die AuS- fuhr gegen Einfuhrscheine im Erntejahr 1903/1909 die Einfuhr um 800 000 Tonnen und in der Zeit von Juli 1909 bis Februar 1919 um 208 727 Tonnen. Der Ausfuhrüberschuß verursacht, wenn auch noch die Ausfuhr von Roggenmehl hinzugerechnet wird, der Reichs- kasse einen Ausfall von 37 Millionen Mark an Zollwerten. Trotz- dem, die amtliche Darlegung rettet auch dieser Tatsache gegenüber daS Interesse der Brotverteuerer. Summarisch bestreitet sie, daß der Ausfuhrüberschuß eine Beeinträchtigung der Volksernährung und Zolleinnahmen bedeute. Sie beruft sich dabei auf die vorauf- gegangenen guten Ernten von Brotgetreide. Die amtlichen Me nungSmacher haben dann aber wohl selbst daS Gefühl, ihr logischer Ueberwindung. Raffen wir unS auf, werden wir ehrliche Arbeiter, wie die anderen auch. Schließen wir uns gleich heute den Ver- sammlungSbesuchern an und rufen wir mit auS vollem Herzen; DaS freieste Wahlrecht, es lebe hoch!!" Der Wochenbeschauer. Theater. Lust spielhaus.DaS Leutnants- Mündel". Schwank von Walter Stein. Wenn deutschen Schwank- und Lustspieldichtern partout nichts einfällt, bleibt als letztes, hoffnungS - reiches Aushilfsmittel noch immer der Leutnant und der Backfisch in jener marktgängig bunten Spielzeugauflackierung übrig, in der das Dioskurenpaar schon zu des saligen Moser Zeiten das zahlungsfähige Publikum erfreute. Wenn er, der Uniform» geschmückte, schwerenötert, und sie, das liebe und verliebte Kind, vor lauter Herzensunschuld mit den verfänglichsten Sottisen paradiert wer sollte dabei kalten Sinnes bleiben und sich nicht im voraus schon der glücklichen Verlobung freuen? Hecr Stein macht den obligaten Backfisch, um für holdselige Naivitäten einen noch erweiterten Spielraum zu gewinnen, zu einer Peruanerin. Das Dämchen ward mit einem kolossalen Scheckbuch und unter Einsetzung des üblichen Leutnants als Vormund vom Vater nach Berlin geschickt. Exotisch wie Herkunft und Vermögen ist auch ihre Unschuld. Sie möchte sich am liebsten in der Junggesellen- Wohnung ihres Beschützers einquartieren, zahlt hinter feinem Rücken seine Wechsel und bestellt gleich hundert Flaschen Champagner als Extrapräsent. Die zweite heiratsfähige Dame, obschon nur aus Ostelbien gebürtig, befleißigt sich, wenn schon in anderer Richtung, nicht geringerer Extravaganzen. Ihr Erzeuger fungiert als Amüsieronkel aus der Probinz. Er und der jüdische Agent. von Impekoven und Arnold höchst drastisch dargestellt, waren die einzigen mit drolligen Wendungen reichlicher ausgestalteten Figuren. Aber auch die banale Breite des übrigen schien, wie» der Autor spekuliert hatte, den Zuschauern wohl zu munden. Das tcmperamentvoll-flotte Spiel des Fräulein Poldi Müller und Herrn Schindler in den beiden Hauptrollen half über manche der schlimmsten Fährlichkeiten fort.«It. Musik. Otto Ziebach ist als Komponist eine einsame Größe. Für ihn bedeutet das gesamte Musikschaffen der letzten zwei oder noch mehr Jahrhunderte trotz aller Verdienste doch ein« Verirrung, eine Uebertretung der von'den Alten aufgestellten Kompositions- gesetza. Wie haben wir uns die mehrstimmige Musik zu denken? Als mehrere Stimmen oder als Akkorde? DerKontrapunkt" will ersteres, dieHarmonielohre" letzteres. Die Alten und Ziebach denken von den Ton folgen aus. die Neueren von den Ton zusammenklängen aus; die einen stellen den Kontra. punkt voran und zuvörderst den zweistimmigen, die anderen die Harmonielehre und sodann den vierstimmigen Kontrapunkt. Ferner: Gebundenheit oder Ungebundenheit im Nacheinander und im Nebeneinander? Gezähmte oder wilde Dissonanzen? Dort die Konservativen, hier die Fortschrittler. Oder ist'S nicht eher um- gekehrt? Wie Ziebach daS alles lehrend, schreibend, bortragend aus- einandergesetzt hat; wie er es in Opernkompositionen ausprägt,