Einzelbild herunterladen
 
Die Strafen, die gegen die fünf Angeklaglen berhängl Kurden, sind geradezu ungeheuerlich. Der Staatsanwalt hatte ins- gesamt nur drei Jahre und fünf Monate Gefängnis beantragt. Das Gericht überschritt diesen Antrag um zwei Jahre! Tie ganze Härte dieses Urteils wird erst dann verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welcher Stimmung heraus die Angeklagten   vorausgesetzt, datz sie wirklich schuldig waren gehandelt hatten. Denn ihre Exzesse gegenüber der Polizei, das Wersen von Steinen und Flaschen, entsprang nicht etwa einem rohen Drang zu Gewalttätigkeiten, sondern der furchtbaren Er- bttterung über die Blutarbeit, die die Polizei zwei Tage vorher, am 1Z. Februar, friedlichen Denionstranten gegen- über verrichtet hatte? Damals, am 13. Februar, war von einem Widerstand gegen die Polizei keine Rede. Als die aus den Ver- sammlungen drängenden 3000 Personen sich nicht rasch genug ent- fernen konnten, zum guten Teil deshalb, weil die Polizei selbst einen Kordon um die Versammlungslokale gebildet hatte, hieb die Polizei ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht zunächst mit den F ä u st e n auf die bereits in die Seitengassen abgetrennten Ver- sammlungsbesucher ein. Dann aber wurde der Befehl zum E i n h a u e u gegeben und in wahrhajt russischer Weise befolgt. Selbst auf die a m B o d e n L i e g e n d e n wurde erbarm ungs- los mit dem Säbel eingehauen. Einem Arbeiter von 68 Jahren wurde von hinten ein Säbel st ich in die Lunge beigebracht. Einem jungen Manne wurde das Handgelenk halb durchgehauen, ein anderer erlitt schwere Rückenverletzungen. Einem Jungen von 16 Jahren wurde ein Ohr abgeschlagen! Selbst der liberaleHolsteinische Kurier" muhte melden: So arg wie in Neumünster   wurde in keiner Stadt der Monarchie von der Polizei vorgegangen. Mit 4 0 V e r- letzungen kann die N e u m ü n st e r s ch e Polizei das Ruhmesblatt in Anspruch nehmen, die schneidigsten Polizeiattacken gegen nichtbewaffnete Wahlrechtsdemonstranten am gestrigen Sonntag geritten zu haben. Einem Arbeiter wurde die Lunge durchbohrt, einem anderen Arbeiter die Hand und einem dritten ein Ohr ab- geschlagen..... Hätte die Polizei sich begnügt, wie in anderen Städten auch, die die Versammlung verlassenden Massenruhig und besonnen" in die Ströhen   abzuleiten, wir würden heute in der angenehmen Lage sein, auch von Neumünster   berichten zu können, die Ruhe und Ordnung wurde nirgends gestört.... Schon bei den früheren Demonstrationen zeichnete sich die Polizei in Neumünster   durch besonders schneidiges Vor- gehen aus." Kein Wunder, daß die Massen über diese brutale Metzelei aufs äußerste empört waren. Die beiden Protestver- sammlungen, die zwei Tage später stattfanden, waren noch zahl» reicher besucht als die Versammlungen des Demonstrationssonn- tages. Trotz der ungeheuerlichen Empörung, die die Demonstranten erfüllte, folgten die Massen der Aufforderung, sich ruhig zu ent- fernen. Nur ein Trupp junger Leute zog vor das Rathaus, um seiner Erbitterung durch laute Pfuirufe Ausdruck zu geben. Die Polizei griff wiederum mit dem gewohnten Schneid ein, sodah es zu den Zusammenstößen kam. welche die fünf Verurteilten auf die Anklagebank brachten. Ein Polizist wurde bei diesem Zusammen- stoß durch einen Steinwurf verletzt. Gleichzeitig wurde aber auch einer der Demonstranten am Arme schwer verwundet. Wenn nun die Kieler   Strafkammer so ungeheuer schwere Strafen über die fünf jungen Leute, die eigentlich nur die Opfer der skandalösen polizeilichen Provokationen waren, verhängte, so ist es nur ein neuer Beweis dafür, daß unsere Justiz jede Fühlung mit dem Volksempfinden verloren hat und, einerlei, ob bewußt oder unbewußt, ihres Dienstes nur im Interesse der herrschenden Klassen und des von ihnen beherrschten Klassen, und Polizeistaates waltet. Studenten. Sprößlinge der besitzenden Klasse, die in ange- heiterter Radaustimmung Schutzleute verprügeln, kam- men mit Geldstrafen davon; jugendliche Arbeiter dagegen, die in ihrer Empörung über ein Polizeigemetzel zu ähnlichen Ge- walttätigkeiten sich fortreißen lassen, werden zu jahrelangen Gefängnis st rasen verurteilt! Wenn sich unsere herrschende Klasse allerdings einbilden sollte, daß durch solche Akte der Justiz die Empörung über die Dreiklassenschmach und ihre Verteidiger erstickt werden könnte, befindet sie sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Wir kennen die fünf Verurteilten nicht, wir wissen nicht, ob sie nach ihrem sonstigen Verhalten der Sympathien der Gesamt- arbeitcrschaft würdig sind. Aber das Kieler   Urteil hat sie zu Märtyrern gemacht. Das Kieler   Urteil, wie jedes andere wäh- rcnd der Wahlrechtskampagne gefällte Bluturteil vermag die Er- bitterung der Massen nur zu steigern und den Wahlrechtskampf mit jener tiefen Leidenschaft zu erfüllen, die den preußischen Dreiklassen- staat trotz aller. Bajonette und Polizeisäbel vernichten wird, atz» 1_ politifche dcbcrHcbt. Berlin  , den 18. Mai 1910. Der 21. Evangelisch-soziale Kongreß wurde Dienstagabend zu Chenmitz mit einer Begrüßungsrede Adolf Wagners eröffnet, worin der alte Herr wieder einmal der Sozial- demokratie den entsetzlichen Vorwurf machte, sie verkennein ihrer furchtbaren Einseitigkeit", daß eS nicht ohne die Leistung des Unter- nehmers gehe, der doch immerder Kopf der Produktion" bleibe. So schlimm wie in Amerika  , wo ein paar hundert Milliardäre das wirtschaftliche und politische Leben beherrschen, könne eS bei uns nicht werden, weil Deutschland   am monarchischen Prinzip festhalte. Wieso das monarchische Prinzip die großen Kapitalisten verhindern soll, immer noch reicher zu werden, hat der Herr Professor nicht gesagt; wenigstens melden die Berichte nichts davon. So wird es erlaubt sein, die Aeußerung nur als eine schön klingende FeiertagSphrase zu bewerten. Am Mittwoch fand die erste Hauptversammlung statt, die mit einer Rede Adolf H a r n a ck s begann. Er priesdas große Werk der Reichsversicherungsordnung"(!), sprach davon, daß dieVerhältnis- niäßig nicht allzu schwere Ueberwindung der letzten wirtschaftlichen Krise" nebst anderen günstigen Symptomen zeige, daß wirim ganzen aus dem richtigen Wege" sind, und leistete sich einige Seiten- hiebe auf die Sozialdemokratie, die unbeachtlich sind, nachdem die Bemerkung über die letzte Krise gezeigt hat, init welchem Verständnis der Geheime OberregierungSrat dem Elend des Volkes gegenüber steht. Nachdem er noch über die sexuelle Frage ein paar Worte ge- redet und die überwältigende Wahrheit verkündet hatte, daßnie- mand einen Mittelweg zwischen Ehe und freier Liebe habe auf- weisen können", ließ er außer dem Kaiser auch den König von Sachsen   hochleben. Dann hielt der sächsische Ministerialrat Roscher eine Rede, woriil er von einergegenseitigen Annäherung mit der Sozial- demokratie" sprach, die aber nur darin bestehen dürfe,daß wir berechtigte Klagen berücksichtigen und den Sozialdemokraten dazu verhelfen, verlorengegangene Güter wieder zu erlangen, näm- ßich die Liebe zu unserem monarchisch gestalteten Vaterlande, das Vertrauen zu den Vorgesetzten und überhaupt zu den Besser- gestellten und dein christlichen Glauben". Wir sind überzeugt, daß der Ministerialrat mit dieser Sorte vonAnnäherung" bei unseren sächsischen Genossen die richtige Antwort finden wird, zumal er gleich hinzufügte, daßdie sozial- politischen Lasten nur mit großer Vorsicht weiter vermehrt werden" dürfen. Ueber das ThemaSoziali st ische Weltanschauung und christliche Religion" sprach sodann Pastor Liebster auS Leipzig  . Seine Rede lieferte den Beweis, daß es selbst ehr- lichen Gegnern ungeheuer schwer, wo nicht unmöglich ist, die sozialistische Weltanschauung zu verstehen. Wir zitieren nur den einen Satz; Man braucht nur den dialektischen Begriff des Mehrwertes, der von Marx in der Oekonomie angewendet wird, auf alle Lebenserscheinunge» zu beziehen. Von der einfachsten Zelle bis zur höchsten Menschenkultur offenbart sich alles Leben als ein Wille zum Mehrwert. Im Menschen tritt dieser Wille mit solcher Stärke auf, daß er in den irdischen Verhältnissen keine dauernde Befriedigung finde» kann. Darum spaltet er sich und neben dem Willen zum irdischen Mehrwert tritt der Wille zum überirdischen, ewigen Mehrwert auf. Gott   ist keine wissenschaftliche Hypothese, sondern die Tatsache der vollkommenen Befriedigung des Willens zum ewigen Mehrwert." Es verlohnt natürlich nicht der Mühe, auf diese überspannten Redensarten des sonst sympathischen Pastors einzugehen. In der Diskussion sorgte sich Herr Professor Schulze-Gävernitz darum daß der deutsche Arbeiter frage:«Was bleibt mir von Marx übrig� nachdem ihn Bernstein   in zahllose einzelne Fragen zerfetzt hat?" Wir teilen diese Professorale Sorge nicht und können Herrn Schulze- Gävernitz in dieser Hinsicht beruhigen. Der deutsche   Arbeiter weiß schon, was ihm bleibt. So weit liegt der Bericht bis zur Stunde vor. Wir denken, unsere Leser werden mit uns derselben Meinung sein: viel lernen kann ein Sozialdemokrat nicht vom Evangelisch-sozialen Kongreß. Ein Zwischenfall. In der Diskussion über den Vortrag des Pastors L i e b st e r überSozialistische Weltanschauung und Christentum" führte der Vertreter der sächsischen StaatSregierung Geheimrat Roscher einen stürmischen Zwischenfall herbei. Geheimrat Roscher hatte schon in seiner Begrüßungsrede des Kongresses das Groß- Unternehmertum als die uneigennützigen Er« nährer von Hunderttausenden geschildert und ge- meint, daß auch heute noch alle Arbeiter den Marschall« stab zum Judustriekönig in ihrem Rucksack trügen. Die sächsische Industrie sei infolge der sozialen Lasten kaum noch konkurrenz- fähig, und sieht besonders der Schutzgesetzgebung für Heimarbeiter mit Besorgnis eutgegen. Diese Ausführungen hatten einen öffent- lichen Widerspruch nicht erregt. Anders wurde es jedoch, als Roscher in der Diskussion wiederum das Wort ergriff auf eine beiläufige Be- merkung des Pastors Liebster, daß der revolutionäre Charakter der Sozialdemokratie für den Christen kein Grund sei, sie zu bekämpfen. Geheimrat Roscher berief sich demgegenüber darauf, daß im Neuen Testament   stehe:Jedermann sei Untertan der Obrigkeit", und daß das Christentum auch die Sklavenwirtschaft nicht durch einen Appell an äußere Gewalt zu beseitigen versucht habe, was die Briefe des Apostels Paulus beweisen. Gegen diese Ausführungen wandte sich Pastor Herz- Chemnitz, der meinte, daß gerade in der Liebe zum Volke, in der Zukunfts- Hoffnung und im revolutionären Geist Christentum und Sozialdemo- kratie identisch seien. Noch weiter ging der Leipziger   Theologieprofessor Gregory, der Roscher entgegenhielt, daß in den meisten größeren Re- volutionen der Weltgeschichte die ehrlichen Christen auf der Seite der Revolutionäre gekämpft haben. Cromwell in England habe Bibel und Schwert geführt, und der amerikanische  und Burenkrieg seien auch von echten Christen gefiihrt worden. Die Revolution fei GotteSrecht gegenüber mensch- lichem Unrecht und menschlicher Unterdrückung. Gregory fand lebhaften Beifall und ebenso stürmischen Widerspruch. Der Borsitzeude, Geheimrat Harnack, schnitt die DiS- kussion sofort ab, indem er meinte, daß das Wort Revo- lution anscheinend in verschiedenem Sinne gebraucht werde, was natürlich nach Gregorys Berufung auf Cromwell gar keine Be- deutung hatte, und nur mit Heiterkeit aufgenommen wurde. Der LandtagSaigeordnete für den Wahlkreis Allenstein  , Amts« gerichtSrat G r i e h l- Allenstein. ist in Breslau   im Alter von 64 Jahren gestorben._ Demokratischer Parteitag. Köln  , 17. Mai. Die Beratung des Parteiprogramm» zog sich gestern bis 1 Uhr nachts hin. Der Entwurf der Kommission wird mit geringen Aenderungen angenommen, mit Ausnahme des Teils, der die Sozialpolitik behandelt. Ueber das Thema:Die Angestellten und die Politik" redet als erster Hand- lungsgehilfe Aufhäuser- Berlin. Er bemerkt einleitend, daß die Demokratische Vereinigung   weder eine Partei der Arbeiter, noch eine Partei der Unternehmer, sondern eine Partei der Arbeit sei, an der Arbeiter und Unternehmer in gleicher Weise beteiligt seien und deren Interessen also beiderseits zu fördern feien. Mit dem Aufschwung des Handels und der Industrie habe weder das Ein- kommen, noch das Maß politischer Rechte bei den Angestellten gleichen Schritt gehalten. Deshalb sei es selbstverständlich, daß die Angestellten ihr Wohl und ihre Rechte zu fördern suchten, und zwar hält der Redner die Demokratische Vereinigung   für diejenige Partei, in der das am besten geschehen könne. Er verwahrt sich gegen den Versuch, die Angestellten alsneuen Mittelstand" und als besondersstaatserhaltend" in Gegensatz zu der übrigen Ar- beiterschaft zu bringen. Ingenieur Lüdemann, Führer der technisch-industriellen Beamten, wendet sich gegen eine Sozialpolitik als Wohlwollen für diese oder jene Arbcitergruppe; das Ziel einer vernünftigen Sozialpolitik müsse die gleichberechtigte Anteilnahme der wirt- 'chaftlich abhängigen Volksschichten an allen Schätzen der Erde sein. Die Kapitalsrente müsse stetig verkleinert werden zugunsten der Arbeit, und die Demokratie müsse im sozialen Kampf rückhaltlos auf die Seite der Lohnempfänger treten, um das Recht der Persön­lichkeit durchzusetzen. Aber wenn auch die Forderungen bezüglich des ArbeiterschutzeS und der Arbciterversicherung erfüllt seien, so 'ei dem Arbeiter doch erst geholfen, wenn das konstitutionelle llrbeitsshstem und sine Aenderung der Besitzverhältnisse durchge- uhrt sei. Man brauche sich dabei auf kein bestimmtes Endziel 'estzulegen, und es sei nebensächlich, wie der spätere Zustand mal aussehe, aber eine entschiedene Demokratie schließe jedenfalls die genossenschaftliche, soziale Organisation der' Wirtschaftsordnung in sich ein. Gegen den Vorredner, der den Kapitalismus als kulturfördernd gerühmt habe, wendet Lüdemann noch ei», daß der Kapitalismus   zwar die Technik gefördert und die Produktion ver- mehrt, aber auf den Träger der Arbeitskraft doch in kulturwidrigem Sinne gewirkt habe. Die Aussprache über die beiden Reden wird mit der Debatte über den sozialpolitischen Teil des Programms verbunden. Die ozialpolitischen Forderungen lauten: Fortentwickelung unserer Wirtschaftsordnung mit dem Ziel, der Arbeit in jeder Gestalt einen immer höheren Anteil am Arbeitserträge zu sichern. Sozialreform, um das Recht der Persönlichkeit im Wirtschaftsleben zu wahren. Koalitionsfreiheit. Anerkennung und Förderung der Berufsvereine. Einheitliches Arbeitsrecht. Konstitutionelles Arbeitssystem. Sicherung der Freizügigkeit. Unentgeltlichen paritätischen Arbeitsnachweis. Gesetzlicher Höchstarbeitstag. Weitgehender Arbeiterschutz. Ver- bot der Kinderarbeit. Beseitigung der Gesindeordnung. Schutz bei Heimarbeiter. ZseckVb'ge. oy] Zelbstv�Mltung bcruheiiiic Versicherungsgesetzgebung. Arbeitslosen- und Mutkerschastsver- sichcrung. Gewährung eines Existenzminimums für jeden Staatsangehörigen. Die Debatte ist sehr ausgedehnt und lebhaft. Herrn Lüde- mann wird vorgeworfen, daß er den demokratischen Rahmen über- schritten und sich auf marxistisches Gleise begeben habe. Dr. Breit- scheid, der sich auf Lüdemanns Standpunkt stellt, muß sich sagen lassen, daß er radikaler als August Bebel   gesprochen habe. Namentlich machte der erste Satz des sozialpolitischen Programms einem Teil der Delegierten Kopfschmerzen und es wird die Frage aufgeworfen. wo denn der Anteil der Arbeit aqi Arbeitsertrage seine Grenze habe. Als Breitscheid   verkündet, daß die Grenze da sei, wo die Arbeit allein über den Arbeitsertrag gebiete und daß die Kon- sequenz der Demokratie die völlige Abschaffung der Grund- und Kapitalsrente sei, da erscholl lauter Beifall auf der einen, aber es gab auch Widerspruch und vielsagendes Stillschweigen auf der anderen Seite. Gerlach, als Diplomat, gab dem bedenklichen Satze die Deutung, daß ja derArbeit in jeder Gestalt", also auch der Arbeit des Unternehmers, ihr Recht werden sollte und daß der Kampf nur der arbeitslosen Rente gelte. Es kam zu heftiger Rede und Gegenrede, die eine dcutlicheScheidungs- linie zwischen Arbeiter- und Unternehmerinter- essen, zwischen vorwärtsdrängender Jugend und behäbigem und angst lichem Philistertum er- kennen ließ. Wer einen Blick um sich warf, konnte wahr- nehmen, wie das rote Gespenst durch die Fenster des demokratischen Parteitagslokales lugte. Schließlich wurde der sozialpolitische Teil und dann das ganze Programm einstimmig angenommen. Vorher hatte noch eine von Gädte, Gerlach und Genossen eingebrachte Resolution zugunsten der ausgesperrten Bauarbeiter Annahme gefunden. Der nächste Parteitag findet in Dessau   statt. Die Deutsche Lehrerversammlung in Straßburg  ist Mittwoch um>/z4 Uhr zu Ende gegangen. In der 2. Haupt- versamnilung wurde die Frage der Schulaufsicht und Schulleitung behandelt. Der Referent S a l ch o w verteidigte in seiner Rede und seinen Leitsätzen eine Organisation der Schulaufsicht nach folgenden Grundsätzen: Die Schulanfsicht ist ausschließliches Recht des Staates, und die Fachaufsicht gelangt durch die obersten Instanzen zur Ausführung. Jede Ortsschulaufsicht ist zu beseitigen. Die Kreisschulinspektion ist die erste Aussichtsinstanz. In bezug auf die Schulleitung fordert der Referent, die mehrklassige Schule solle einen einheitlichen Organismus bilden, der von dem Lehrerkollegium und einem von den zuständigen Behörden be- rufenen Schulleiter verwaltet wird. Dem Schulleiter stehen keinerlei disziplinarische Befugnisse zu. Es ist ihm grund- sätzlich da§ Recht zuzugestehen, zu hospitieren, doch darf die Selbständigkeit des einzelnen Lehrers nicht beschränkt werden. Der Korreferent P a u l s e n verwirft in seinen Leitsätzen das Prinzip der bureankratischen Schulverfassung. Der Klassenlehrer trägt die Verantwortung für die Klasse, das Lehrerkollegium ist eine selbständige Arbeitsgemeinschaft. Es beschließt über Fragen, die der Gemeinsamkeit der Schularbeit entspringen, und wählt aus seiner Mitte einen Borsitzenden, der der Vertreter des Kollegiums ist. Lehrer und Lehrerinnen werden zu Selbstverwaltungskörpern organisiert. Die Schulaussicht ist das notwendige Recht des Staates. Die Schulanfsicht hat sich jeder bevormundenden Tendenz zu enthalten und darf nur von Fach- leuten ausgeübt werde». In seiner ausführlichen Begründung wendet sich der Redner zunächst gegen die unwürdige Bevormun« d u n g, der der Lehrer unterordnet ist, und bedauert, daß diese Frage noch nie solche Massenversammlungen beschäftigt hat, wie die Beratung von Gehaltsfragen. Nur ein freies Land hat eine freie Schule. Das zeigen gerade die neuen M a ß r e g e- l u n g e n. und es ist eine Schmach für Bremen  , daß es einen Mann wie Holzmeier nicht vertragen konnte.(Lebhafter Beifall.) Der Redner schloß mit den Worten: WaS sich vom Leben entfernt, wird morsch und zerfällt.(Lebhafter, lang anhaltender Beifall.) Danach beginnt die Generaldebatte. Mitleiderregend i DieDeutsche Tageszeitung' kann sich noch immer nicht über die Stäupung beruhigen, die ihr derSimplicissimuS" wegen ihrer eigenartigen Geschäftsmoral hat angedeihen lassen. Die Feststellung, daß das tugendhafte Bündlerorgan einen Verlag, den es seinerUnsittlichkeit" wegen in der gröblichsten Weise anpöbelte, gleichzeitig durch seine ahnungslose Expedition um fette Inseraten- auftrage anschnorrte, war freilich auch zu köstlich. Und wurde noch kostbarer durch die täppische Ausrede, daß es allgemeiner Brauch sei, die geschäftliche Leitung eines ZeitungSverlageS nicht wissen zu lassen. waS die Redaktion denke und tue. Diese doppelte Enthüllung agrarischer Geschäftsgepflogenheiten wurmt das brave Oertel-Blatt derartig, daß es jetzt abermals den Versuch zu einer Revanche macht. ES teilt nämlich triumphierend mit, daß ihm trotz dieser Zwischenfälle die im Langenschen Verlage erscheinende Zeit- schristMärz" mit der üblichen Bitte um Besprechung zugegangen sei. DaS beweise doch, daß der Langensche Geschäftsführer ebenso weitherzig" denke, wie der des Bündler-Verlags. DieseRevanche" ist denn doch selbst im Zeichen der Kometen- Verwirrung z u dumm I Denn daß Zeitschriften den Redaltionen Freiexemplare mit Waschzetteln zugehen lassen, ist doch ein ebenso allgemeiner wie unanstößiger Brauch. Keine Redaktion braucht sich ja dieser Waschzettel-Rellame zu bedienen! DieDeutsche Tages- zeitung" hat das bisher ja auch nicht getan, so wenig wie beispiels» weise derVorwärts". Und trotzdem soll die bloße Zusendung emer Zeitschrift etwas der Geschäftsofferte derDeutschen Tageszeitung" Gleichartiges und gleich Unwürdiges sein? War schon die letzte Abwehr des BündlerorganS unsäglich ungeschickt, so ist seine neueste Parade geradezu mitleiderregend? Zum Reichsgerichisrat befördert! In Breslau   erregt eS in Juristenkreisen große? Auffehen, daß der bisherige Landgerrchtsdirektor Dr. P i l l i n g zum Reichs- gerichtSrat befördert worden ist. Dieser Richter hat m den letzten Jahren fast sämtliche Prozesse gegen unser Breslauer Bruderblatt, dieVolkSwacht", geführt und dabei scheint man auf ihn. der noch vor wenigen Jahren in Benthe»(Ober- schlefien) tätig war, aufmerksam geworden zu sein. In einem dieser Prozesse spielte Herr Pilliug eine seltsame Rolle. Unser Genosse Dr. Karl Liebknecht  - Berlin   verteidigte den betreffendenBolkswacht'-Redakteur, der in einem Artikel über die BreSlauer Justiz den Richtern unter anderemWeltfremd- h e i t" vorgeworfen hatte. Herr Pilling wandte sich auffallend heftig gegen diesen Vorwurf und ließ als Vorsitzender deutlich erkennen, wie sehr er sich durch diesen Vorwurf beleidigt fühlte. Genosse Liebknecht   führte daraufhin einige Fälle von unglaublich Welt- fremden Urteilen an und bemerkte unter anderem, daß selbst b ü r g e r- liche Blätter mehr und mehr zugeben müßten, wie fern die meisten Richter den Dingen stehen, wie weltfremd sie seien. Dabei unterbrach ihn Herr Pilling: Herr Verteidiger, Sie gebrauchen nun schon wiederholt den Ausdruckbürgerliche Blätter". Möchten Sie uns nicht mitteilen, was Sie darunter verstehen?"... Genosse Liebknecht   hatte eS im Plädoyer leicht, die Weltfremd- heit der Breslauer Richter zu beweisen, denn der Borsitzende hatte ja selbst die beste Jllu st ratio» dazu geliefert. Was Herrn Pilling und seinen vier Kollegen nicht hinderte, den Redakteur wegen des Ausdrucks.Weltfremdheit" zu einem Monat Gefängnis zu verurteilen! Einen solchen Maua   beruft die Justizverwaltung an das höchste, deutsche Glicht!