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Kr. 119. 27. ZahlMg. I KnlM ilfüilotlüiillü" jiftlilltt Jollislilatt Mittwoch. 25. Mai 1910. Hbgeordnetenbaus. 70. Sitzung vom Dienstag, den 24. Mai, mittags 1 Uhr. Bor Eintreten in die Tagesordnung ehrt das Haus das Andenken deS verstorbenen Abgeordneten G r i e h l(Z.) in der üblichen Weise. Staatsarbelter-Wohnunge». Auf der Tagesordnung steht zunächst die erste Beratung des Gesetzentwurfs betreffend die Bewilligung weiterer Staatsmittel zur Verbesserung der Wohnungs- Verhältnisse von Arbeitern, die in staatlichen Betrieben beschäftigt sind und von gering besoldeten Staatsbeamten. Der Emwurf verlangt, datz für diesen Zweck 12 Millionen Mark zur Verfügung gestellt werden, die durch eine Anleihe aufzubringen sind. Äbg. Frhr. V. Maltzan(f.); Wir sind damit einverstanden, daß Baugenossenschaften mit diesem Gelde unterstützt werden, ober die staatliche Aufsicht muß strenge darauf achten, daß solche Baugesell» schaften der privaten Bautätigkeit keine Konkurrenz machen.(Bravo I rechts.) Abg. Dr. Grunenberg(Z.): Auch wir stimmen dem Gesetz gern zu, da tatsächlich ein Mangel an kleinen Wohnungen besteht. Wünschenswert wäre es gegenüber dem Chaos baupolizeilicher Be- stimmungen, im Lande einheitliche Borschristen zu erlassen. Abg. v. Stockhausen(k.) bittet, daß der Staat diejenigen Arbeiter besonders berücksichtigt, für welche von den Landesversicherungs- anstalten Gelder nicht hergegeben werden. Abg. Dr. König(Z.) warnt davor, die Baugenoffenschaften über- mäßig zu unterstützen, sie bauen große Massenquaruere, während wir sehen müßten, zu Einzelhäusern zu kommen. Abg. Fritsch(natl.) erklärt sich namens seiner Freunde mit dem Gesetzentwurf einverstanden. Damit schließt die Diskussion. Da KommisfionSberatung nicht beantragt ist, wird sofort in die zweite Lesung eingetreten und in dieser der Gesetzentwurf debattelos angenommen. Der Widersinn des PresigesetzeS. ES folgt die Beratung des Antrages der Abgg. Borgmann und Genoffen(Soz.): Das HauS wolle beschließen, die königliche Staatsregierung zu ersuchen, sobald als möglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die§8 S, 10 und 41 des preußischen Preß­gesetzes vom 12. Mai 18S1 aufgehoben werden. Abg. Dr. Liedknecht(Soz.): Der§ g de» preußischen PreßgesetzeS vom 12. Juli 18V1 sagt: .Anschlagezettel und Plakate, welche einen anderen Inhalt haben als Ankündigungen über gesetzlich nicht verbotene Versammlungen, über öffentliche Vergnügungen, über gestohlene, verlorene oder gefundene Sachen, über Verkäufe oder andere Nach- richten für den getverblichen Berkehr dürfen nicht an- geschlagen. angeheftet oder in sonstiger Weise öffentlich aus- gestellt werden." Und im§ 10 ist gesagt:.Niemand darf auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder an anderen öffent- lichen Orten Druckschriften oder andere Schriften oder Bildwerke ausrufen, verkaufen, verteilen, anheften oder anschlagen, ohne daß er dazu die Erlaubnis der Ortspolizeibehörde erlangt hat und ohne daß er den Erlaubnisschein, in welchem sein Name ausgedrückt sein muß, bei sich führt. Wer diese Paragraphen unbefangen liest und unbefangen betrachtet, muß zu der Auffaffung kommen, daß andere Plakate als solche über nicht verbotene Versammlungen, öffentliche Vergnügungen und weiter über gestohlene, verlorene oder gefundene Sachen sowie namentlich für den gewerblichen Berkehr, überhaupt nicht, auch nicht mit polizeilicher Genehmigung an- gehestet lverden dürfen, und daß diese Plakate, deren Inhalt dem 8 S entspricht, nur mit der Genehmigung der Polizei angeheftet werden dürfen. Das Kammergericht hat das Gesetz auch stets so ausgelegt, und diese Auslegung entspricht auch der Ent- stehung des Gesetze? und dem Willen des Gesetzgebers. ES ist ein Gesetz, das nach seinem Inhalt geradezu als unsinnig und ganz und gar unmöglich bezeichnet werden muß. Dieses Gesetz ist wie das Dreiklassenwahlrecht dem kleines f euületon. Die Kometen-Enttäuschung. Seit der Komet Hallet) Sonntag abend überall mit bloßem Auge hat beobachtet werden können, kann kein Zweifel daran herrschen, daß er zu einer besonder» auffälligen und prächtigen Erscheinung nicht werden wird. Räch den kürzlich von Ebel publizierten Berechnungen mußte man annehmen, daß die Helligkeit deS Kernes gegenwärtig die erste Größen- klaffe übersteigen oder doch mindestens erreichen würde. In Wirklichkeit hatte der Kern Sonntag abend aber nur die Helligkeit eines Fixsterns von zweiter bis dritter Größe und sein Licht war matt, ohne irgendwelche auffällige Intensität. Der Kopf war von einer undeutlich begrenzten Coma umgeben; der Schweif war mit bloßem Auge nicht sichtbar; selbst im Kometensucher sah man von ihm nur Andeutungen. Man hätte erwarten können, daß die Helligkeit infolge der in diesen Tagen stark gesteigerten Sonnen- tätigkeit intensiver sein würde. Man muß jedoch darauf hinweisen, daß schon bei der vorigen Wiederkehr des Halley im Herbst des Jahres 183S seine Erscheinung an Auffälligkeit hinter den Er- Wartungen zurückblieb. Bessel, der berühmte Königsberger  Astronom, hat damals den Kometen fortlausend beobachtet, und aus seinen Wahrnehmungen ersieht man, daß der Halleh schon vor 76 Jahren dieselbe Struktur und Helligkeit zeigte wie heute. ES ist daher wohl zweifellos, daß der Komet immer mehr an Masse. infolgedessen auch an Helligkeit und Schweiflänge verloren hat. Denn die den Schweif bildenden Ausstrahlungen de» Kern» können nie wieder zum Kopfe zurückströmen; sie verstreuen sich über die ganze, 6400 Millionen Kilometer lange Bahn. Das schwache Phänomen, als welches sich uns der Halley   heute zeigt, bietet somit das Bild-eines alternden Kometen, der vielleicht nach einigen weiteren Jahrhunderten bis zur Unscheinbarkeit zusammenschrumpft. In der ersten Hälfte deS zweiten nachchristlichen Jahrtausends war seine Erscheinung sicherlich sehr auffällig und imposant. DaS geht nicht nur aus den bildlichen Darstellungen hervor, die unS über- liefert sind; daS beweist überhaupt die Tatsache seiner Beobachtung. Denn das schwache Sternchen, das man heute nur mit Mühe im Dämmerlichte sieht, würde im ftühen Mittelalter als Komet gar nicht erkannt worden sein. So kann also auch die exakte Wiffenschast ruhig von einer Ent- täuschung sprechen, die ihr die Wiederkehr des Kometen bereitet hat. Daß infolge des sensationellen LärmS, der vor dem Auf- tauchen deS Kometen, speziell mit dem famosenWeltuntergang" getrieben wurde, die Enttäuschung deS großen Publikums unendlich viel größer ist, als die der Astronomen, kann natürlich nicht wundernehmen. So waren Sonntag abend unter den mehr als 1000 Besuchern der Berliner   Treptow  -Sternwarte 2 den sogenannten .gebildeten" Ständen angehörende Damen geradezu verblüfft, als ihnen daS winzige Nebelfleckchen in der Dämmerung des Abend- Himmels als der Komet vorgestellt wurde. Mit naivster Offenheit äußerten sie, sie hätten geglaubt, der Kopf des Kometen sei etiva so groß wie der Mond, und der Schweif erstrecke sich über den halben Himmel. TagS zuvor erschien ans der Treptow  - Sternwarte um zwei Uhr mittags eine Bauersfrau, der man sofort ansah, daß fie aus einer weit entlegenen ländlichen Gegend nach Berlin  gekommen war. Sie verlangte, den.Stern nnt dem Schwanz" HU sehen, und als man ihr bedeutete, daß dieser Stern erst preußischen Volke oktroyiert worden, und zwar am 30. Juni 1849 und am 6. Juli 1850. Es charalterisiert sich als ein Unisturz- gesctz im eigentlichsten Sinne. Das geht aus den Verhandlungen der Kammer sowie aus der Begründung seitens der Regierung her- vor. Um recht zu verstehen, wie damals die Reaktion in Preußen in einer den Jutcresseu des Volkes widersprechenden Weise waltete, brauchen wir nur an die Anweisung des Zaren Nikolaus I.   an den preußischen Minister zu erinnern, die preußische Verwaltung ganz n a ch r u s s i s ch e m Muster zu gestalten. Nikolaus gerierte sich vollständig als Kenner der inneren Verhältnisse Preußens und zwar mit einem gewissen Recht, denn es wurde ihm von den damaligen Machthaber» Preußens sehr leicht gemacht. Charakteristisch ist die Angst, die sich in der Begründung des Gesetzes ausspricht; in den Motiven wurde hingewiesen, wie ge­fährlich gerade das Anheften von Plakaten an Bahnhöfen sein. Bahn- Höfe könnten als Sammelplätze für revolutionäre Elemente in Betracht kommen, und deshalb müsse dort jedes gefährliche Plakat vermieden werden, damit nicht etwa eine Erneuerung der Revolution von 1848 herbeigeführt würde. Allerdings zeigt diese Aeußernng auch, wie hoch modern die Regierung war; auch j e tz t hat ja die preußische Regierung vor der Verbreitung von Druckschriften auf Bahnhöfen noch große Angst.(Heiterkeit.) Diese künstliche Empörung über das Feilhalten von Flugschriften auf den Bahnhöfen kennzeichnet das ganze Gesetz. Wir verstehen es heute nicht mehr, kein Mensch begreift, daß es heute noch lebendig sein kann. Aber trotzdem hören wir immer noch, er lebet noch, er lebet noch uud wackelt mit dem Zopf.(Heiterkeit.) Leider lebt eS wirklich noch. Wir haben Verurteilungen nach diesem Gesetz erlebt, weil bei Gelegenheit des Bäcker st reiks sowie des Friseur st reikS in den Lokalen der- jenigen Arbeitgeber, welche die Forderungen der Gehilsen bewilligt hatten, Plakate ausgehängt wurden, in denen diese für solche Kunden bekanntgegeben waren, die ihre Bedürfnisse nur bei Arbeitgebern be- friedigen wollten, welche ihren Gehilfen entgegenkamen. ES erfolgten Verurteilungen nicht etwa deswegen, weil zum Anheften dieser Plakate die polizeiliche Erlaubnis fehlte, sondern weil solche Plakate unter allen Umständen verboten sind, selbst wenn die Regierung den Wunsch hätte, daß sie angeheftet würden. Ich erinnere auch an gewisse Vorgänge bei der L a n d t a g S w a h l. Da wurde gegen Gastwirte vorgegangen, in deren Lokal Listen der Wahl- männer mit der Angabe, wie sie gewählt hatten, ausgehängt waren. Zunächst versuchte man es mit dem groben Unfug. Das Kammergericht hob diese Verurteilungen aber auf und erklärte, es sei zu verurteilen, weil ein Verstoß gegen den§ S des PreßgesetzeS vorliege. Auch die üblichen Gewerkschaftsplakate, die nichts weiter enthalten, als Mitteilungen der Statuten und allen- falls noch eine Angabe des Ortes, wo man sich anmelden kann, sind von der Polizei in sehr vielen Orten aus den Gast- wirffchaften und Papiergeschäften beschlagnahmt, gegen die Inhaber der Geschäfte ist ein kriminelles Verfahren ein- geleitet worden. DaS wird wohl auch die Herren vom Zentrum interessieren. In Hannover   wurde gegen ein Plakat ein- geschritten, auf dem das Wappen des ehemaligen Königs von Hannover   von Soldaten getragen würde, die einen Bebelkümmel ankündigten. Hätte der Unternehmer den Schnaps Bismarck  - oder Moltkekümmel genannt, so hätte man wohl kaum daran Anstoß ge- nommen.(Heiterkeit.) Alle diese Fälle zeigen in besonders krasser Weise, wohin man mit der Bestimmung des§ 9 kommt. Es besteht eine Gefahr, daß er ein Hemmschuh für uiisere gewerkschaftliche EntWickelung wird. Wir können loeiter beobachten, daß eine Menge von Plakaten, die wir täglich vor Augen haben, schlechter- dings gesetzlich unzri lässig find. Ueberall sehen wir z. B. aus Bahnhöfen Mitteilungen des Roten Kreuzes, die sicher nicht dem gewerblichen Verkehr dienen. Nach dem Gesetz find diese Plakate sowie die vieler anderer gemein« nützigen Organisattonen strafbar.(Lachen rechts.) Das ist kein Scherz, keine Karikatur, sondern buchstäblicher preußischer Ernst. Darin zeigt sich eben die preußische Struktur, das Knochen- gerüst des preußischen Polizeistaates.(Sehr wahr I bei den Sozial- demokraten.) Von der Regierung, von der Polizei, von allen zur Aufrechterhaltung der Gesetze berufenen Organen wird die Be- stimmung nur angewendet gegen politisch mißliebige Erscheinungen, gegen die Sozialdemokratie uud gegen die Gewerkschaften. Dagegen denkt man nicht daran. daS Gesetz auch an­zuwenden gegenüber dem nichtpolitischen Verkehr und gegen- abends zu sehen sei, verlangte fie doch, durch das große Fernrohr zu sehen. Man zeigte ihr die Sonne mit ihren Flecken und Fackeln; kaum hatte die Frau einen Blick in das Okular geworfen, als sie in religiöse Extasen ausbrach und erklärte, diese heilige Stätte nicht mehr verlassen zu wollen. Nur mit Mühe gelang es den Assistenten des Instituts, die Frau zu beruhigen. Das Vorkommnis zeigt, be- rücksicknigl man daneben noch die große Zahl von Selbstmorden und WahnfinnsausbrücheN in aller Welt, die dem Kometen und dem Weltuntergang" zuzuschreiben sind, daß eS mit der Volksbildung auch im zwanzigsten Jahrhundert noch traurig bestellt ist und daß wir gar leinen Anlaß haben, unS über die Kometenfurcht früherer Jahrhunderte lustig zu machen. Prof. Birkeland, der in Finmarken die Erscheinungen der Kometennacht beobachtet hat, konnte während der Zeit, in der der Kometcnkern die Sonne passierte und die Erde den Schweif kreuzte, einen magnetischen Sturm von außerordentlicher Art und Stärke registrieren. ES konnten außerdem wertvolle elektrische und meteorologische Observationen gemacht werden. Zusammen mit den wichtigen Wahrnehmungen auf den Sternwarten von Breslau  und Heidelberg   liefern Birkelands überraschende Erfolge nun wohl den schlüssigen Beweis dafür, daß die Erde in der Tat durch den Schweif hindurchgegangen und daß die Lichterscheinung deS Kometenschweifs elektrischer Natur ist, die in den von der Sonne ausgehenden Kathodenstrahlen ihre Ursache haben. Birkelands Beobachtungen verdienen deshalb höchste Be- achtung, weil der norwegische Physiker eine allererste Autorität auf dem Gebiete des Erdmagnetismus ist. Es ist ihm bekanntlich ge- ltmaen, die Wirkung der von der Sonne ausgehenden elektrischen Kräfte, die sich in erdmagnettschen Erscheinungen und in Polar- lichtern äußert, auch im Laboratorium experimentell nachzuweisen. Die nächste Ausgabe der Astronomen ist jetzt, etwaige Ver- änderungen zu beobachten, die sich möglicherioeise an dem Kern und der Coma deS Halleh ergeben. So schien eS Sonntag, als ob sich neben dem Hauptkern innerhalb der Coma eine zweite Ver- dichtung zu bilden beginne. Sicher ist diese Wahrnehmung aller- dingS noch nicht; eS müssen erst weitere Beobachtungen abgewartet werden. Fontane und die Arbeiterbewegung. Theodor Fontane  , dem die Offiziellen soeben erst im Tiergarten ein Denkmal gesetzt haben. hat sich zeitlebens immer seinen offenen Blick für Menschen und Dinge bewahrt, wohin ihn auch die Verhältnisse immer führten. 1848 war er«in glühender Freiheiisfreund ge- Wesen. Später ist er lange in derKreuzzeitung  " feuilletonistisch tätig gewesen. Dann hat er in einem Alter, wo die meisten Gehirne schon für neue Strömungen und Richtungen verschlossen sind, der jungen naturalistischen Literatur Verstehen und Verstehen- wollen entgegengebracht. Immer aber ist er sich treu geblieben. Und wenn er irrte, war es aus rein menschlichen Motiven. In seinen Briefen, die vor kurzem veröffentlicht wurden, wird eS klar, daß er auch die Arbeiterbewegung ohne Vorurteile, ja mit einer gewissen Hinneigung beobachtet hat. Ein Engländer James Morris hatte ihm verschiedene englische   Zeitungen, darunter den Labour Leader", übermittelt. In dem Antwortschreiben Fontanes am 22. Februar 1890 heißt es: Mit besonderem Vergnügen habe ich Keir HardiesLabour Leader" durchgesehen. Alles Interesse ruht beim vierten Stand. über den sogenannten staatserhaltenden Organisationen. Hier wird in so eklatanter Weise gegen den Grundsatz der Gleich- heit vor dem Gesetz verstoßen, daß wir ein besseres Kabinettstück deS Klaffenstaates und der Klassenjustiz gar nicht haben können.(Sehr wahrl bei den Sozialdemokraten.) Bei der Beratung des§ 10 wurde die Regierung gefragt, ob denn die Bestimmung, daß zu dem Plakat die Genehmigung der Ortspolizeibehörde gehöre, auch auf die Theater anzuwenden sei. Der Regierungskommissor antwortete damals, die Regierung würde das Gesetz schon so anwenden, daß man keine Besorgnis zu haben brauche. Wir sagen aber, die Ver« waltung darf das gar nicht in der Hand haben; wenn gewisse Handlungen unter Strafe gestellt sind, so hat die Verwaltung die Pflicht, soweit sie Sträfverfolgungsbehörde ist, bei diesen Handlungen die Strafverfolgung eintreten zu lassen. Kein Mensch hat je danach gefragt, ob der Generalintendant v. Hülsen, ob der Direktor Rein- Hardt um die Genehmigung zum Anheften der Prograntme nach- gesucht hat(Heiterkeit), und ob sie den Erlaubnisschein bei sich haben (Erneute Heiterkeit), wie es der ß k0 vorschreibt. Aber Sozial- demokraten gegenüber ist man anders verfahren. Ein Sozial- demokrat namens Kiesewetter wurde prozessiert, weil er die Be- kanntntachung einer Versammlung in seiner Gastwirtschaft und in seinem Papiergeschäft ausgehängt hatte. Das ist ein deutlicher Beweis. welche Gefahr diese Bestimmung für daS Versammlungsrecht bildet.(Sehr wahrl bei den Sozialdemokraten.) Wir leben im Zeitalter des Verkehr« und der Reklame, wir haben Eisenbahn   und Automobil, und die Leute bilden sich ein, in der Eroberung der Luft an erster Stelle zu rangieren. Die Polizei aber reist noch mit der alten P o st t u t s ch e(Heiterkeit) und dabei glaubt sie hoch- modern zu sein I Vor dem Kammergericht hat der Oberstaatsanwalt zugegeben, daß das Gesetz für die heutige Zeit ganz unhaltbar sei. Und ganz ebenso hat sich daS Kammergericht ausgelassen, eS hat bedauert, ein solch rückständiges Gesetz anwenden zu müssen, aber, so lange es besteht, bleibe ihm nichts anderes übrig. Mit Riesen- schritten treibt die kapitalistische Entwickelung vorwärts, und da will man ein Gesetz behalten, das für das Zeitalter der Postkutsche paßt l Aber des Rätsels Lösung ist nicht schwer. Wenn irgendwo gilt für Preußen das Wort: eS erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort. Gerade die schlechtesten Gesetze dauern in Preußen am längsten. Das zeigte sich beim Bereinsgescy, das den Frauen die Teilnahme an politischen Vereinsversammlungen verbot. AlS sich diese Bestimmung als unhaltbar erwies, änderte man nicht das Gesetz, sondern erließ die bekannte Segmentverfüguitg, weil ein preußischer Bureaukrat den Gedanken nicht fassen konnte, eine Bestimmung auf- zuheben, die sich so schön zu politischen Schikanen benutzen ließ. (Sehr wahr I bei den Sozialdemokraten.) Natürlich find dies nur Spinnweben, nicht aber wirkliche Fesseln für die proletarische Be- wegung.(Lebhafte Zustimmung bcr den Sozialdemokraten.) Wir werden uns nickt wundern, wenn die Mehrheitsparteien den Vorwurf der Rückständigkeit, der durch das Bestehen dieses Gesetzes auf ihnen lastet, weiter ertragen. Wollten sie nur in der geringsten Weise den Aufgaben der Entwickelung in Preußen gerecht werden. wollten sie der Entwickelung nicht Schwierigkeiten bereiten, sondern ihr die Wege ebnen, so müßten Sie das Volk mit solchen kleinlichen polittschen Schikanen verschonen und unserem Antrage ohne weiteres zustimmen (Lebhaftes Bravo! bei den Sozialdemokraten) und aufräumen mit solchem mittelalterlichen Plunder, der nicht in unsere Zeit hinein- gehört.(Lebhaftes Bravo I bei den Sozialdemokraten.) Abg. Mcrtin- Oels(fk.): Wenn man denVorwärts" liest und sieht, wie die bestehenden Einrichtungen des Staates herunter- gesetzt werden, dann muß man der Meinung sein, daß bei uns die Preßfreiheit schon weit genug geht. Wir wollen die verhetzende Agi« tatton der Sozialdemokratie nicht dadurch noch uiiterstützen, daß wir die Verteilung von Druckschriften ganz freigeben. Wir werden auch die Ueberweisung des Antrags an eine Kommission ablehnen. (Beifall rechts.) Abg. Dr. König(Z.) begründet einen Zentrumsantrag, wonach die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen soll, durch den die §8 9 und 10 deS PreßgesetzeS in zeitgemäßer Weise ab- geändert werden. Abg. Lieber(natl.) erklärt sich für den Zentrumsantrag und Segen den Antrag der Sozialdemokraten wegen seiner unübersehbaren Konsequenz. Der Bourgeois ist furchtbar und Adel und Klerus sind altbacken, immer wieder dasselbe. Die neue bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an. Man würde das sagen können, auch wenn eS sich bloß erst um Bestrebungen, um Anläufe handelte. So liegt es aber nicht. Das, was die Arbeiter denken, sprechen, schreiben, hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregierenden Klassen tatsächlich überholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebens- voller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloß neue Ziele, sondern auch neue Wege." Notizen. Theaterchronik. Die Kantmerspiele eröffnen ihre Sommerspielzcit unter Direktion Dr. Geyer am 2. Juni mit der deutschen Uraufführung der in Norwegen   viel gespielten Komödie Jacob und Kri st offer" von Peter Egge  . Das Theater sei militärfromm. DaS Militär- schattspielDie letzten sechs Wochen' von Leo Jungmann, das bisher in Bremen  , Lübeck  , Bielefeld   und Kreuznach mit großem Erfolg unbeanstandet in Szene ging, wurde von der Zensur dem Berliner   Friedrich Wilhelm   st ädtischen Schau« s p i e l h a u S verboten. DaS Stück behandelt das Martyrium eines Soldaten, hervorgerufen durch einen Unteroffizier, der ihm aus Eifersucht die noch zu dienenden letzten sechs Wochen recht schwer machen will. Den Höhepunkt erreicht da» Schauspiel in einer wirksamen Kriegsgerichtssitzung. Die Verblödung der deutschen Bühne durch die fadesten und sentimentalsten Leutnantsstücke ist den Behörden natürlich höchst erwünscht, wenn der bunte Rock bei denen, die nicht alle werden. Begeisterung fürs Militär erweckt. Wird aber auch nur ein Zipfel von der brutalen Wirklichkeit des MilitärrockS gelüpft, so schreitet die Zensur ein. Die S p u ck- K r i t i k. In der Bilderausstellung der Neuen Sezession", die gegenwärtig im Kunstsalon Macht in Charlottenburg   zu sehen ist, hat jemand eine eigenartige Kritik geübt. Die Bilder des Malers Pechstein wurden von einem engagierten Feigling(als ihn niemand kontrollierte) vollgespuckt. Der bemerkenswerte Kunstfreund konnte leider nicht fest- gestellt werden. Nun ist zuzugeben, daß manche Bilder der neuen Sezession geeignet sind, bei der kompakten Majorität Oppositionsgelüste zu erregen. Aber selbst in der klassischen Stätte des Kompakten, int preußischen Ab- geordnetenhause, wird ein Unbeliebter doch höchstens rauS- geschmissen.... Auch Ludwig Pietsch  , der trotz seiner 80 Jahre noch sehr viel Temperament gegen junge Maler aufbringt, hatte in derVoss. Zeitttng" die Frauen immerhin nur aufgefordert, an dem Maler Pechstein, der nach ihm durch ein ekelhaftes Scheusal daS ganze Frauengei'chlecht schmählich beleidigt habe,die verdiente Strafe zu vollziehen". Welche Strase Herr Pietsch meinte, hat er leider nickt gesagt. Aber sicherlich haben ihni geschmackvollere Arten als diese Spuckerei vorgeschwebt. Vielleicht dachte er an den Frauen« boykott in Aristophanes' KomödieLysistrata". Künstler-Bulletin. Dem erkrankten Peter Rosegger  geht es wieder besser. Auch über Peter A l t e n b e r g, der in eine Wiener   Heilanstalt gebracht wurde, lauten die Nachrichten er» freulicher.