Kr. 151. 27. Iahrglmg.1. Keilme des Joniile* Kerlim WlksdlMJitifag, 1. Z»Ii 1910.All! der lufMomminioD.Sitzung vom Donnerstag, den 80. Juni.Die Berawng über die§§ 244 und 245 wurde fortgesetzt. DieDebatten drehten sich vor allen Dingen darum, ob auch aus Polizei-ltchen Bernehmungsprotokollen den Zeugen oder An-geschuldigten Vorhaltungen gemacht werden dürfen. Unsere Genossenund auch die Redner des ZenttumS bekämpften die Verwendungder polizeilichen Protokolle, deren Ungenauigkeit und Jnobjektivitälallgemein bekannt sind, aufs entschiedenste. Ebenso verlangtendie Sozialdemokraten, daß dem Angeschuldigten und seinem Ver-teidiger auf Antrag Abschriften von Protokollen über die Ver-nehmungen der Zeugen. Sachverständigen und deS Angeklagten zuerteilen sind. Dieser Antrag wurde jedoch abgelehnt. Ebenfallsabgelehnt wurde der sozialdemokratische Antrag und der AntragGröber, die Benutzung polizeilicher Vernehmungsprotokolle für dieHauptverhandlung auszuschalten.Zum§ 247 beantragten Gröber und unsere Genosien, daßschriftliche Erklärungen eines Arztes, sofern sie sichnicht auf den Geisteszustand einer Person beziehen, nur unter Zu-stimmung der Prozetzbeteiligten in der Hauplverhandlung verlesenwerden dürfen. Dadurch soll erreicht werden, daß auch der Arztüber die Gründe, die ihn zu seinem Gutachten führten, in derHauptverhandlung eingehend befragt werden kann. Nachdem dieRegierungsvertreter gegen diese»unnötige Belästigung des Aerzte-standes" gesprochen hatten, wurden die Anträge mit schwacher Mehr-heit abgelehnt.Nach§§ 250 und 251 ist die Verhandlung vor dem Reichsgericht,Schwurgericht und Landgericht auszusetzen, wenn sich ergibt,daß die Tat eine schwerere ist, als die Anklageformel erkenne» ließ,oder wenn die Sache noch nicht genügend geklärt ist. Unsere Ge-Nossen und Abg. Gröber beantragten, diese Bestimmungen auf alleInstanzen auszudehnen. Das wurde abgelehnt.Es kam dann zu einer für politische Prozesse ungemein wichtigenAuseinandersetzung zwischen unseren Genossen und dem Abg. Gröberauf der einen Seite und den Regierungskommissaren auf deranderen Seite. Zum§ 254 hatte der Abg. Gröber folgendenAntrag gestellt:„Wird in einem Strafverfahren wegen Beleidigung, welchesauf Grund des von einem Beainten oder von dessen Borgesetztengestellten Antrages auf Strafverfolgung eingeleitet ist, die Er-Mittelung des Sachverhalts durch'Versagung der Genehmigungzur Ablegung des Zeugnisfes des Beamten sK 46) gehindert,so ist, falls das Gericht nicht zu einem freisprechenden Urteil gelangt, die Einstellung des Verfahrens auszusprechen/In der Diskussion wurde insbesondere auf die Vorkommnisse inöem Neunkirchener Prozeß und dem Siegener Landratsprozeß hin>gewiesen. Unsere Redner forderten aufs nachdrücklichste die Awnähme des Antrags Gröber, da er einen Fortschritt gegenüber dembestehenden Zustand bedeutet. Abg. Wagner(kons.) erklärte, sichüber diese Sache nicht besonders aufregen zu wollen, ermußte aber doch zugeben, daß eine Aenderung deS geltendenRechts in diesem Punkt in»gewissem" Umfang nötig sei.— DieRegierungskommissare bestritten natürlich, daß die St.-P.-O. indiesem Falle ein politisches Instrument zum Schutze der Beamtensei. sie diene nur zur Ermittelung der Wahrheit und zur Sühne vonVerbrechen. Ein verechttgter Anlaß für die Aimahme des AntragesGröber läge nicht vor.In der ablehnenden Haltung fanden die RegierungsvertreterVollen Beistand bei den Nationalliberalen und— beim Abgeordneten K o p s ch. Der Antrag Gröber wurde mit 16 Stimmenangenommen; doch wurde thm auf Antrag Wagner der Zusatzgegeben, daß die gleiche Bestimmung auch für andere BeleidigungsProzesse gilt, in denen der Verletzte oder der Antragsteller dasZeugnis verweigert. Gegen den Antrag stimmten die Nationalliberalen, Konservativen mit Ausnahme von Arendt, der AMsemit und Abgeordneter K o p s ch.Nach dem§ 258 wurde die Sitzung bis Freitag vertagt.5. Dttblmdstag htt freie« Gast- und Schankwirte.Hannover-Linden, 29. Juni 1910.Der dritte Berhandlungstagwirb fast vollkommen ausgefüllt von den Verhandlungen über dieStattitcnänderungen. Es handelt sich vor allem um eine AenderungdeS Z 2 des Statuts, der bisher lautet:»Mitglied kann jede Person werden, die daS Gast- undGchankwirlschaftsgewerbe selbständig oder in Vertretung betreibt,kleines f eiulleton.DaS Heinedenkmal und die„Alldeutschen". Heinrich Heine sollendlich ein Denkmal in Hamburg erhalten. Sogar der HamburgerSenat hat seine Zustimmung erteilt. Man versteht es, daß manchevon Heines Verehrern es als Ehrensache ansahen, in dem Kampfeum das Denkmal nicht locker zu lasstn, obgleich er am wenigstendarum verlegen ist.(Denn er wird ja doch gelesen, fleißig sogar).Wie durch das rote Tuch der Stier gereizt wird, so sind einige vomAlkohol und der Hitze erweichte alldeutsche Gemüter durch die vor-handene Gefahr des Heinedenkmals aus der Fasson geraten. Unter demtragiulkischcn Motto»Der Frevler sei von uns mit Acht und Aberachtverfemt, gemieden", werden jetzt unter den Studierenden derBerliner Universität Karten verbreitet, die am I.Julidem Hamburger Senat zum Protest zugestellt werden sollen.Es beißt darin:„Der Unterzeichnete hat mit lebhaftem BefremdenKenntnis von der unvölkischen Absicht erhalten, in Hamburg demVerächter deutscher Art und Sitte Heinrich Heine ein Denkmalim Namen deS gesamten deutschen Volkes zu errichten. Ohne ineine Besprechung des dichterischen Wertes der Erzeugnisse HeinrichHeines einzugehen sBravo l), muß doch festgestellt werden(ist dasdeutsch oder alldeutsch?), daß der in seinen Schriften angehäufteSchmutz eine gemeine, niedrige Denkungsweise verrät, seine offen-kundige Verhöhnung alles dessen, was' Deutschbewußten als hochund hehr gilt, Heinrich Heine aus den Reihen der deutschen Dichterauch dann ausschließen wurde, wenn dies nicht schon durch seinejüdische Abstammung von selbst gegeben wäre. Um so unbegreif-licher erscheint der erwähnte Beschluß und richtet sl) der Unter-zeichnete an den ehrenfesten Senat der Stadt Hamburg die Auf-forderung, seine Zusage in der Platzfrage unter allen Umständenzurückzuziehen...'Die alldeutschen Jünglinge, die sich da als Vertreter desdeutschen Volkes aufspielen sollen, machen sich heillos lächerlich, wennsie sich zu dieser Mache reaktionärer Politikanten und Geschäfts-leute hergeben. Sie täten besser daran, wenn sie die deutscheSprache halbwegs mit der Feinheit Heinrich Heines beherrschenlernen wollten. Das gehört nämlich auch zu den Pflichten einesDeutschen, sich seine Sprache nicht durch solche rüpelhaften Stilisten,Wie die Protestfabrikanten es find, verhunzen zu lassen.Europas Analphabeten. Eine schwedische Statistik hat kürzlichdie Prozentzahl der Analphabeten in den einzelnen Ländern Europaszusammengestellt. Deutschland hat verhältnismäßig die wenigsten,nämlich nicht mehr als 0,05 Proz., hierauf kommen die Schweiz undSchweden mit je 0,1 Proz. Daran reihen sich Dänemark mit 0,2,England mit 1, Frankreich mit 2, die Niederlande mit 2,1 Proz.Run kommt ein großer Sprung: Oesterreich-Ungarn und Griechen-land besitzen 30 Proz., Italien hat 31,3, Bulgarien 53, Serbien undRußland haben je 62 Proz. Den Rekord erreicht Rumänien, wo aufsich mit den Grundsätzen der sozialdemokrattschen Partei ein-verstanden erklärt und politisch organisiert ist."Von einer großen Zahl der Delegierten wird die Streichung desletzten Satzes mit der Bedingung der Zugehörigkeit zur sozial-demokratischen Partei verlangt. Das Referat über diesen Punkt hatvon der Heyden- Köln: Wenn wir iu unserem Verbändevorwärts kommen wollen, dann müssen wir unbedingt die Bestim-mungen aus unserem Programm ausmerzen, die uns hindern, einegroße Mitgliederzahl zu erreichen. Immer zahlreicher werden dieGegner des Z 2. Nicht zum mindesten deshalb, weil den Kollegenvielfach zum Vorwurf gemacht wird, diese Bedingung der Mitglied-schaft werde von einer großen Zahl Wirte als Aushängeschild benutzt.Sie seien Geschäftssozialisten, die damit nur die Arbeiter ködernwollten. Auch die Parteigenossen stehen meist auf dem Standpunkt,daß ein politischer Verband ein Unding sei. In der Tat habendie Genossen auch beim Bierkrieg keine Rücksicht auf uns genommen;sie gehen auch heute lieber in andere Lokale. Wir bleiben, wennder tz 2 fällt, dieselben Genossen, die wir bisher waren.Machen die Abstinenten weiter die Fortschritte in der Partei, die sieschon gemacht haben, dann werden wir mit dem Verband vollständigausgeschaltet werden. Man wird dann auf uns überhaupt keineRücksicht mehr nehmen. Die Partei wird dann auch in ihr Pro-gramm ausnehmen, daß bei der Konzessionierung von Gastwirtschaftendas Bedürfnis maßgebend sein soll. Mit unseren Bestrebungenauf Gründung von Einkaufsvereinigungen und Genossenschaftenin unserem Verbände können wir nur vorwärts kommen,wenn wir uns auf eine große Mitgliederzahl stützenkönnen. In erster Linie haben wir unsere Wirtschaft-lichen Interessen zu vertreten. Ziehen wir deshalb ausdem Lager der bürgerlichen Verbände die tüchtigen Leute zu unsherüber, die sich vorläufig nur an den 8 2 stoßen. Auch fernerwerden wir in der politischen Organisation Miseren Mann stellen.(Lebhafter Beifall.)M a t t h e s- Berlin hat das Korreferat: Unser Verbandhat bisher eine zufriedenstellende EntWickelung genommen. Der§ 2hat dem also durchaus nicht im Wege gestanden. Von der Heydenhat die Abschaffung dieser Bestimmung in der Hauptsache nur mitGründen verteidigt, die den Erfahrungen des Bierkrieges entnommensind. Was hat denn das miteinander zu tun? In Berlinhaben wir uns eingehend mit der Frage beschäftigt. Ineiner großen Versammlung wurde einstimmig eine Resolution an-genommen, in der es heißt, daß für die Berliner Verhältnisse einzwingender Grund zur Aenderung des§ 2 des Lerbandsstatuts nichtvorliege. Jedoch in Erwägung dessen, daß von den Berufskollegenin den Provinzen wiederholt glaubhaft versichert wurde, daß sie dieFassung deS jetzigen§ 2 unseres Verbandspatuts daran hindere, dienoch nicht ganz vom Sozialismus überzeugten Kollegen zu sichheranzuziehen, beauftragte die Versammlung die Berliner Orts-Verwaltung, unter Hinzuziehung der Rechtsschutz- und Preßkommissioneine zweckentsprechende Vorlage auszuarbeiten. In der Vorlage solltedarauf geachtet werden, daß der sozialdemokratische Charakter desVerbandes unter allen Umständen gewahrt bleibt.Die Kommission hat dann einen Vorschlag gemacht, der densozialdemokratischen Charakter des Verbandes vollständig ausmerzenwollte. Da hat sich dann die Majorität der Berliner Kollegen fürBeibehaltung des bisherigen Wortlautes ausgesprochen. Immer er-klärt man, nach Abschaffung des 8 2 zu bleiben, waS man ist.Wozu denn dann die Aenderung der Statuten? Von dem Prinzipsoll ein Stein nach dem anderen abgebröckelt werden, bis schließlichunsere Organisation sich von den bürgerlichen überhaupt nicht mehrunterscheidet.Für die Aenderung ist eine Zweidrittelmajorität nöttg, die an-scheinend knapp zu erreichen ist. Der Kamps um den 8 2 wird des-halb in einer recht heftigen und langen Debatte ausgefochten, inder in der Hauptsache die schon oben dargelegten Gründe vor-geführt werden.Die Debatte wird schließlich abgebrochen.Genoffe Dr. Karl Liebknecht, der verbandSshndikuS,spricht über denEntwurf zum Strafgesetz und die Gastwirte.Einige Verbesserungen bringt der Entwurf, die auch die Gast-Wirte interessieren, so eine mildere Bestrafung der Zechpreller,der man aus Menschlichkeitsrücksichten zustimmen muß. Eineschwache Bcfferung wird auch an den Bestimmungen über die Vor-strafen vorgenommen. Die Verschlechterungen sind aber viel zahl-reicher. Das kann zu außerordentlichen Härten gerade für die Wirteführen. Mit Gefängnis bis zu einem Jahre soll dann dasgewerbsmäßige Dulden von Glücksspielen bestraft werden.Außerdem wird sogar die Einweisung in ein Arbeitshaus unddie Aufenthaltsbeschränkung für solche Duldung des Glücks-100 Leute 75 Analphabeten kommen. Im Gegensatz zu dieser Fest-stellung berechnet die gleiche Stattstik für ganz Europa 465 415Schulen mit 1 050 634 Lehrern und 41 281 691 Schülern.Mufik.Der Komponist Georg Jarno hatte sich hier vor wenigenJahren durch seinen„Zerbrochenen Krug" günstig eingeführt. Erwollte eine echtere Volkstümlichkeit erreichen, u. a. durch eine Ver-vollkommnung der Form des Couplets. Weit war er darin nichtgekommen; aber eine sympathische Leistung war es doch. Späterbenutzte er eine bekannte Variation des uralten Typus desösterreichischen Volksstückes vom Kaiser Josef, der erstunerkannt und dann kaiserlich die Liebenden zusammentut,zu einer Operette„Die Förster-Christel". Am Mitt-woch kam stein der G o t ts ch e i d- O p e r heraus und belohnteden Sprung aus dem Ernst in den Spaß durch einen Erfolg, derdem sommerlichen Schiller-Theater O. die Konkurrenz mit den eigent-lichen Operettentheatern ermöglichen dürfte.Der Operettengattung gehört das Stück freilich weniger an. alsder Gattung des Singspieles. Wieder die Herrschaft des besserenCouplets; kein Ehrgeiz,, einen stetigen dramattschen Faden zuspinnen I Dazu kommt nun eine so geschickte zart musikalische Be-Handlung von Tänzen, daß namentlich der zweite Alt mit seinerblühenden Rokkokostimmung ganz hoch stehen würde, wäre nicht aucher durch unmotivierte bloße Aneinanderreihungen gestört.Die Hauptrolle vermittelte uns die Bekanntschaft mit einerSoubrette von meisterhaftem Spiel und dünner, sonst nicht üblerStimme: Alerandrine Reinhardt. Im übrigen manch guterWille, manch schlechter Dialog, manches von der Regie verschleppteTempo, und was sonstige Operettenschicksale mehr sind. GutesOrchester, sehr guter Chor. sz.Humor und Satire.»Vier Wochen stram m.*Papiere, die wir bei uns tragen.Leiden dadurch eminent,Daß der Zeiten Zähne nagenAn so einem Dokument;Dieses tät auch arrivierenFrietzke's Militärpapieren.Diesem Uebelstand zu steuem,Hatte— ist so was erlebt I—Frietzke. statt ihn zu erneuernDen lädierten Paß beklebt,Und hierzu, total verblendet,Einen„Vorwärts"- Kopf verwendet.Diese? Majestätsverbrechentat er dadurch übertrumpft,aß er— kaum ist's auszusprechen I—[ spiels angedroht. Wir haben die Erfahrung gemacht, daßsogar das Vagabundengesetz gegen Redakteure angewandtwird. Die Befürchtung ist deshalb durchaus begründet, daß dieseentwürdigenden Strafen auch zur politischen Unterdrückung der Gast-wirte benutzt werden. Zur Verschärfung der Vorschriften über dieBerücksichtigung der Trunkenheit bei der Strafbemessung hat mandas schlimmste Gesetzbuch, das Militärstrafgesetz benutzt. Auch dieGastwirte haben alle Ursache, den Entwurf entschieden zu bekämpfen.(Lebhafter Beifall.)Genosse Dr. Liebknecht spricht dann über dieRechtsprechung der deutsche» Gerichte und die Gastwirte.In der Rechtsprechung zeigt sich, wie gerade dem Gastwirt gegenüberdie Gesetze nach politischen Grundsätzen gehaudhabt werden. �Schonbei der Konzessionierung der Wirtschaften zeigt sich eine niederträchtige,beleidigende Judikatur, die nur aus politischer Voreingenommenheitzu erklären ist. Wurde doch(um eins aus der Menge der vom Rednervorgeführten Beispiele wiederzugeben) einem Genossen die Konzessionverfagt, weil die Wirtschaft zu abgelegen war und der Gendarm sienicht leicht kontrollieren könnte, das Lokal infolgedessen seiner bau-lichen Einrichtungen weihen nicht geeignet sei. Der Militärbohkott,die Tanzerlanbuis, die Polizeistunde geben den Behördendie Möglichkeit, in unerhörter Weise unbequeme Wirte znschikanieren, was oft unter den lächerlichsten Begründungengeschieht. Von den Behörden wird auf die Gläubiger derWirte eingewirkt und ähnliche Dinge verübt, die BethmannHollweg als Nötigung und Erpressung kennzeichnete. Ein Vortragüber preußisch-deutsche Judikatur muß notwendig ausklingen in denRuf zum Kampfe gegen die preußische Judikatur und die preußischePolizeiwirtschaft. Sorgen wir dafür, daß alle diese schändlichenMaßregeln bekannt werden, dem kämpfenden Proletariat wird da-durch ein großer Dienst erwiesen.(Stürmischer Beifall.)frau von Schönebeckvor den Geschworenen.In der gestrigen Verhandlung fehlte die Angeklagte. Wirhaben bereits gestern mitgeteilt, daß sie am Mittwoch von schwerenAnfällen heimgesucht war. Die Sachverständigen legten gestern dar,daß die Angeklagte am Mittwochmittag einen Anfall gehabt hatteund sich seitdem bis zum Abend fast ununterbrochen im schwerstenKrankhcitszustand befand. Morphiumeinspritzungen schienen eine vor-übergehende Beruhigung herbeizuführen. Abends um 7 Uhr erfolgte aberwiederum ein schwerer Schreianfall mit vollständiger Bcwnßtlosigkeit.Es mußte ihr wieber eine Morphiumeinspritzung gegeben werden,zwei Pflegerinnen aus Kortau blieben bei ihr. Auch gestern(Donners-lag) morgen wurde die Angeklagte von den Aerzten untersucht. DieAngeklagte redete wirres Zeug, schrie„Alex, Alex", gleich darauf sprachsie von der Jagd. Auf Fragen antwortete sie gar nicht oder„Ja, jalNein, nein!" Die Angeklagte befindet sich, erklären die Aerzte,in einem deliriumhasten Zustand größter Verwirrtheit. Eine auchnur entfernte Möglichkeit der Simulation ist vollkommen ausgeschlossen. Sie ist verhandlungsunfähig und wird voraussichtlichauch am Freitag verhandlungsunfähig sein.Es soll trotzdem der Versuch gemacht werden, heute Freitag um10'/« Uhr die Verhandlung fortzusetzen. Von den Plädoyerswäre noch daS Gutachten der wissenschaftlichen Deputation fürMedizinalwesen zu verlesen. Voraussichtlich würde auchnoch eine Beamtenwitwe auS Königsberg zur Vernehmunggelangen, die detaillierte Angaben über das Geistesleben deSHaupunannS von Göben machen will, von dem sie Briefe imBesitz hat.Falls nicht spätestens am Sonnabend weiterverhandclt wird, müßt«nach ff 228 der Strafprozeßordnung die Verhandlung vertagt werden,um später völlig von neuem begonnen zu werden.Daß die Angeklagte sich in einem an Geisteskrankheit mindestensstreifenden Zustand befindet, ist durch die Tortur, der sie durchdie Verhandlung ausgesetzt war, insbesondere aber dadurch bo-greiflich, daß Gutachter in ihrer Gegenwart darlegten, sie müßteentmündigt und in eine geschlossene Anstalt gebracht werden. Wirgehen wohl in der Annahme nicht fehl, daß gerade dieser Umstanddie Anfälle der Angeklagten mit verursacht hat, in denen sie fort-dauernd so phantasiert, als ob sie sich in der Irrenanstalt Kortaubefindet.DaS Gutachten der wissenschaftlichen Deputation, dessenVerlesung noch aussteht, läßt sich ausführlich auf Grundder früheren Gutachten und einer kurzen Beobachtung inder Charits dahin aus, daß die Symptome der hysterischen psycho-pathischen Konstitution, welche bei der Angeflagten vorgelegen hatRoh, gesinnungslos, versumpft,Als Umhüllung— wie infam—Gar den„Wahren Jakob" nahm.Hierauf: Kriegsgerichtsentscheidung:Dreißig Tage stramm Arrest:Er entehrt des Königs KleidungUnd gehört zur„roten Pest"...So ist er ins Loch gekommen:Berufung ward nicht angenommen.(N. Oer gl er.)Notizen.— Die Witwe Hebbels— Christine Hebbel— istMittwoch nachmittag im Alter von 93 Jahren in Wien gestorben.Lange, lange Jahre hat sie Hebbel, den sie 1846 in Wien heiratete.überlebt. Dem jungen Mädchen— sie hieß Christine EnghauS undstammte aus Braunschweig— hätte niemand ihre Laufbahn voraus-gesagt, so wenig wie dem Maurersohn auS Wessclburen. Im Elend wuchssie auf. mit jungen Jahren kam sie ins Ballett des BraunschweigerHoftheaterS. Ihre schauspielerische Begabung wird entdeckt und entwickelt.Sie gefällt in Bremen und Hamburg, seit 1840 gehört sie demWiener Burgtheater an, das damals noch lange die erste deutscheBühne war. Ein Gastspiel führte sie 1851 auch nach Berlin(„Judith",„Jphigenia",„Marin Stuart"). Als Tragödin großenStils, die aus einem Gusse schafft, feiern sie ihre Zeitgenossen. Be-sonders den Gestalten Hebbels verlieh sie Blut und Farbe; ihre„Klara"(in Maria Magdalena) und„Judith" fanden an seelenvollerBelebung damals nicht ihresgleichen. Bis 1875 wirtte die Künst-lerin am Kleinen Burgtheater, die getreueste Jnterpretin der Frauen-gestalten, die Hebbel teilweise unter ihrer Einwirkung geschaffen bat.— Die schmachvolle B i l d u n g s st e u e r, die instatt von Eintrittsgeldern für die Besichtigung der Alten Pina<.�eiin München zur Debatte steht, wurde in der bayerischenReichsratskammer angenommen. Die Hoffnung, daß diese„Edelstenund Vornehmsten" diese dummdreiste Volksbeglückung(Motto: wasbraucht das Volk Museen) vereiteln würden, ist schmählich zu Nichtegeworden. Getreu der Zentrumsparole stimmten auch die Wittels-bacher Prinzen dafür. Bildimgsgelegenheiten sind also dazu da, wndie törichten Benutzer fiskalisch auszubeuten.— Es wird restauriert— auf der Beste Coburg.Bodo Ebhard, der Burgen-Er- und Verbauer, hat sein Urteil ge-sprochen, und außerdem will der junge Herr, der aus England kam,die„Burg seiner Väter" bewohnen.„Sttlgerechte Erneuerung"beißt die Parole, die Stadt und Landtag vergeblich zu verhindernsuchten. Zunächst wird die Lutherkapelle nach einem„aufgefundenenGrundriß"(?) romanisch umgebaut werden und vor allem derFürstenbau für den Herzog hergerichtet.— Man weiß nicht recht,was barbazjscher: die vandalische Zerstörung alter Baute» oder ihreRestaurierung.