ihren Beschlüssen outzerordentlich bescheiden war und die erst ge- forderte direkte Wahl der Bürgermeister und Gemeinderäte hatte fallen lassen, noch recht Niel Wasser in ihren Wein schütten müssen, um das Gesetz überhaupt zustande zu bringen. Denn die Erste Kammer— das badische Herrenhaus — hat sehr wesentliche Verschlechterungen in die von der Zweiten Kammer ge- billigte Fassung hineingebracht. Nach den Beschlüssen der Zweiten Kammer sollte jeder Steuerzahler das aktive und passive Wahlrecht haben. Die Erste Kammer hat diese Bestimmung gestrichen und hat den Besitz des Wahlrechts und der Wählbarkeit von dem Besitz einer eigenen Lebensstellung nach dem jetzt geltenden Gesetz abhängig gemacht. Danach bleiben alle Unverheirateten, die keinen eigenen Hausstand haben oder keine 20 M. direkte Staatssteucrn bezahlen, vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Gesetz ist also in dieser Beziehung schlechter als das preußische, das einen selbständigen Haushalt schon bei denen annimmt, die möbliert wohnen oder ein Logis gegen Bezahlung inne haben. Desgleichen hat die Erste Kammer die vierjährige Wahlperiode abgelehnt, so daß eS auch hier beim alten(S Jahre) bleibt, und hat den adligen Grundherren die ihnen in der Zweiten Kammer gestrichene Polizeigewalt wieder eingeräumt. Weiter hat sie die Bestimmung, nach der der Stadtrat verpflichtet ist, ine Beschlüsse des Bürgerausschusses dann durchzuführen, wenn sie mit Zweidrittelmehrheit gefaßt find, glatt gestrichen. Alle diese Ver- schlechterungen haben die Mitglieder der Zweiten Kammer, zum Teil mit besonderem Vergnügen geschluckt, weil mancher von den Reaktionären von vornherein in der stillen Hoffnung, daß die Erste Kammer die.zu weitgehenden" Beschlüsse schon ablehnen würde, für dieselben gestimmt hatte. Die weitere Verschlechterung der Ersten Kammer, anstStt der beschlossenen Sechstelung die jetzt für die Gemeinden mit über 4000 Einwohnern bestehende Zwölftelung und für die kleineren Gemeinden zwischen tvOv'und 4000 Einwohnern bestehende Neunte. lung bei der Klassenbildung aufrechtzuerhalten, hat die Zweite Kammer jedoch abgelehnt. Und das Herrenhaus hat sich gefügt und kmt am Freitag gegen 10 Stimmen der Sechstelung schließlich die Zustimmung gegeben. Wenn die Zweite Kammer e5 darauf ankommen ließ, hätte nach der Verfassung eine Durch- zählung stattfinden müssen. Und da nun die Zweite Kammer 73, die Erste aber nur 32 Mitglieder zählt, so hätte die letztere immer unterliegen müssen. Hieraus ersieht man aber auch, wie wenig eZ der Mehrheit der Zweiten Kammer mit ihren fortschrittlichen Beschlüssen ernst gewesen ist, denn sie hätte der Ersten Kammer gegenüber bei einiger Geschlossenheit alle ihre Beschlüsse durch- drücken können.. Der Unterschied gegenüber der preußischen Dreiklasseneintei- lung besteht darin, daß die erste Klasse immer ein Sechstel, die zweite Klaffe zwei Sechstel und die dritte Klasse die übrigen drei Sechstel der Wählerzahl umfaßt. Einen Fortschritt bedeutet auch die Einführung des Proportionalwahlverfahrens.— Der Versuch unserer Genossen, das Stimmrecht für die Frauen einzuführen, scheiterte an dem Widerspruch der Regierung und der Gegnerschaft der bürgerlichen Parteien. Denn außer der Fortschittlichen Volks- Partei stimmten nur drei nationalliberale Abgeordnete für den von unseren Genossen gestellten Antrag. Alles in allem genommen, dürfte das neue Gesetz uns eine, wenn auch bescheidene Vermehrung unserer Sitze in den Gemeindevertretungen überhaupt, besonders aber in den stadträtlichen Körperschaften, bringen. Die letzte Sitzung der zweiten badischen Kammer. Karlsruhe , Ib. Juli.(Privatdepesche des„Vorwärts".) Auf der Tagesordnung steht die Interpellation der Sozialdemo- k r a t e n, den immer noch arbeitslos werdenden Tabakarbeitern Reichsunter st ützung zu erwirken, eventuell aus b a d i- fchen Staatsmitteln Arbeitslosenunterstützung zu gewähren. Die Regierung erklärte, daß sie dies beim Reichs- kanzler vergebens versucht habe und auch nicht auSbadischen Staatsmitteln weitere Unter st ützung gewähren wolle. Somit hört vom 1. April an jede Unterstützung der Tabak- arbeiter auf. Den Antrag der Sozialdemokraten, dem Etat 1910/1011 zum Zwecke der Arbeitslosenfürsorge 100 000 M. einzuverleiben, erklärte der Minister Bodman , der ihn schon in der Kommission ablehnte, für unannehmbar, da gestern das Finanzgesetz angevommen wurde. Gegen- über einem abgeänderten, gegen das Zentrum angenommenen Antrag, diese Summe dem nächsten LandtagSetat einzuverleiben. schwieg sich der Minister auS. Es kam dann die Frage der gesetzlichen Regelung der Ar- beitsnachweise und die Unterdrückung der barbarischen Unter- uehmernachweise in Mannheim zur Verhandlung. Die Regie- rung und der nationalliberale Redner verteidig- ten die Unternehmerpraktiken und erklärten sich nur bereit zu eine Arbeit zu vollenden, um zu einer anderen übergehen zu können. Tretet ein in eine Werkstatt: man raucht, man lacht, man plaudert; von Zeit zu Zeit wird ein Hammerstreich yetan, ein Arbeitsstück gehoben, dann wird diskutiert, und dann wird wieder von vorn angefangen. Der Tag neigt sich zu Ende; endlich flingeltS Feierabend, und somit der Tag wieder vorbei. Man hat immer einen Vorwand zu feiern: die Hitze, die Kälte, den Regen und besonders die Feste." Was hier Bousquet(in„Le Japan de nos JourS") vor Jahrzehnten geschrieben hat, habe ich selbst noch vor einiger Zeit in zahlreichen Fabriken bestätigt gefunden. AIS ich die ausgedehnten Werkstätten der Eisenwerke in Osaka besuchte, sah ich zuweilen eine ganze Mannschaft plaudernd und rauchend auf dem Boden hocken. Der mich begleitende(höhere) Beamte genierte sie nicht im geringsten. In den Spinnereien ließen die Mädchen ReiStopf und Maschine in Stich, um mir auf den Gang durch die Säle Gesellschaft zu leisten. Noch lebhaft er- innere ich mich der Arbeitsweise meiner Berufsverwandten im Nordwesten Tokio ». Da» schwache Dutzend fast ganz nackter Mechonikergesellen arbeiteten so drollig, daß man ihnen stunden- lang hätte zusehen können. Nachdem sie das Arbeitsstück gehörig betrachtet und daS, was cS von ihnen forderte, stirnrunzelnd er- wogen hatten, begannen sie zu feilen und zu meißeln, daß eS eine helle Freude war. Aber nicht lange. Dann machten sie eine Rast. Das Pfeifchen wurde gestopft, die trockene Kehle mit dem Inhalte des immer bereiten Teekännchens benetzt und mit dem Schraub- stocknachbar, wie mir es schien, das Fortschreiten der Arbeit be- sprachen. DaS»Singe, wem Gesang gegeben", muß in Japan gedichtet worden sein. Ob nun KuliS auf der Straße Bahnschienen unter- keilen, oder die Typographen ihre Lettern zusammensuchen, oder die Frauen Lumpen sortieren, überall wird ein kräftiger Gesang geschätzt. Es kommt dem japanischen Arbeiter kaum in den Sinn, seine Maschine zu reinigen oder für ihren geregelten Gang zu sorgen. Bricht sie entzwei oder geht sie nicht mehr, um so besser für ihn. Wenn sich der Blick des Aufseher? von ihm wendet, glaubt er den günstigsten Moment für eine Rast gekommen. Daß eine Maschine oder sonstige Arbeit wartet, kann die Ruhe über alle? liebende Seele nicht belasten. Ist das häßlich knatternde Ding von einer Maschine närrisch genug, sich in seine einzelnen Teile oder in Atome aufzulösen, so beginnt stille Freude aus den sonst ziemlich mürrisch dreinschauenden Augen zu leuchten. Endlich wieder ein- mal eine Gelegenheit. Generalrast zu halten. Reklamationen kommt «r entgegen mit feinem für alle Zwischenfälle des Lebens probatem: Schikata ga nail(Nichts zu machen.) Sollte der Fabrikant kein volles Lerständnis für die alles rechtfertigende Kraft dieser Er- folgenden von der KatnKer einstimksitg gütgeheißettett©tfirnb* fätzcn: 1. Förderung der paritätischen Arbeitsnachweise nach Mög- lichkeit; 2. schärfere Kontrolle der einseitigen Arbeitsnachweise auf Grund des neuen Stellenvermittelungsgesetzes. Die Regierung verurteilte nicht einmal grundsätzlich die schwarzen Listen und sie und die Kammermehrheit lehnten den sozialdemokratischen Antrag ab, der das Verbot von Neu- gründungcn einseitiger Jntercssen-ArbeitZnachweise verlangte. Di: Genossen Süßkind und Meyer wiesen darauf hin, daß eine derartige ungenügende Sicherheit gegen ditz Ausbeutung der Scharf. macher, bei der jetzt in Mannheim herrschenden Gärung die Ar- beiterschaft zu Gewalttätigkeiten verleiten könnte, für die wir keine Verantwortung übernähmen. Als letzter Punkt stand die Forderung der Sozialdemokraten auf der Tagesordnung: Ausbau der Gewerbeinspektion durch Einstellung hin- reichender Hilfskräfte aus Arbeiterkreisen. Ohne jede Debatte und ohne jede Erklärung der Regierung wurde diese Forderung ein- stimmig angenommen, dagegen mit geringer Mehrheit der weitere sozialdemokratische Antrag, Baukontrolleure aus Avbeiterkreifen mit dem Vorschlagsrecht aus Arbeiterkreisen zur amtlichen Ueberwachung der Bauten anzustellen, abgelehnt. Gegen diese Forderung hatte sich die R e g i e r u n g in der Kommission aus- gesprochen. Im Plenum schwieg sie. Bei der Wahl zum Land- ständischen Ausschuß wurden die Genossen Geis und Geck in den Ausschuß gewählt. Morgen ist der feierliche Schluß des Landtags durch den Staatsminister, an dem sich die. Sozialdemokraten zum ersten Male beteiligen werden. Was sich Studenten alles gefallen lasien müssen. Die freie Studentenschaft der Universität Gießen wollte in diesem Sommersemester öffentliche akademische Versammlungen abhalten, in denen namhafte Politiker aller Parteien die Programme ihrer Parteien entwickeln sollten. DaS Rektorat verbot indessen diese Versammlungen, worauf drei Studenten in ihrem Namen zu diesen öffentlichen Versammlungen einluden. Die drei Einberufer dieser Versammlungen wurden nun vom Rektorat bestraft, einer mit Relegation für zwei Semester, einer zur dauernden Relegation, und der dritte mit einer Ver« iv a r n u n g. Um die Abhaltung der weiteren Vorträge zu er- möglichen, übernahm ein hiesiger Rechtsanwalt, der auch noch als Student immatrikuliert ist, die Einberufung der weiteren Vorträge. Dieser Rektor, der so drakonisch jede politische Aufklärung zu verhindern sucht, ist sicher irgend eine nationalliberale Leuchte. Eine verpuffte Staatsaktion. In nicht weniger als vier Fällen war in letzter Zeit das Strafverfahren gegen den verantwortlichen Redakteur der „Schleswig-Hol steinischen VolkSzeitung" Ge- iwssen Hermann B r e c o m, eingeleitet worden wegen der Be- zeichnung von Unteroffizieren der Armee und Marine mit dem Namen„Stellvertreter Gottes". Zwar ist dieser Ausdruck schon vor vielen Jahren im Reichstage durch den Zentrumsabgeordneten LingenS geprägt worden und seitdem unbeanstandet durch die Presse gegangen, aber jetzt sah darin die Staatsanwaltschaft oder vielleicht eine höhere militärische Stelle eine Beleidigung des Unteroffizier- standcs. Daß die Veranlassung zur Strafverfolgung von einer höheren militärischen Stelle ausging, dafür spricht die Tatsache, daß in den vier verschiedenen Fällen der Strafantrag von drei verschiedenen Seiten kam. In zwei Fällen hatte das Marinekommando der Ostsee , in einem das Generalkommando des 0. Armeekorps und im letzten Falle der sächsische Kriegsminister den Antrag auf Strafverfolgung gestellt. Die ganze Aktion ist jedoch verpufft. Im ersten Falle wurde das Verfahren eingestellt, im zweiten Falle erfolgte Freisprechung, im dritten eine Ver- urteilung zu 00 Mk. Geldstrafe, weil die Bezeichnung mit einer höhnischen Wendung auf«inen bestimmten Unteroffizier angewandt war, im letzten Falle, der am Dienstag vor dem Landgericht in Kiel abgeurteilt wurde, kani es wieder zur Freisprechung. Dieser Anklage lag ein Kriegsgerichtsbericht zugrunde über eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht in Dresden . Das Gericht hatte einen Bäckersgasten der Marine, der auf seinem WeihnachlSurlaube in Riesa in stark angetrunkenen Zustand mit einem Segeanten in Konflikt geriet, zu der grausam hohen Strafe von drei Jahren zwei Monaten Gefängnis verurteilt. In dem Berichte kamen die Sätze vor:„Doch müßte dieses todeswürdige Verbrechen gegen die geheiligte Person eines Stellvertreter Gottes blutig gerochen werden" und„Wieviel Soldaten dürfte da ein Stellvertreter Gottes erst zu Krüppeln schlagen und zum Selbstmord getrieben haben, um eine solche Strafe zu bekommen?" Der sächsische Kriegsminister stellte Strasantrag, weil durch die Bezeichnung„Stellvertreter GotteS" sämtliche Unteroffiziere der sächsischen Armee beleidigt seien. Das Gericht sprach aber den Angeklagten frei mit der Be- gründung, daß der Ausdruck sich gegen die Institution richte und scharfe und giftige(?) Kritik an dem System übe, aber keine Be- leidigung der Unteroffiziere enthalte. widerung haben, so steht ihm frei, zu tun, Was ihm beliebt. Er kann den über das Mißgeschick gleichgültig schmunzelnden Arbeiter entlassen, er wird sich keinen Feind machen. Aber er kann mit ziem- licher Sicherheit darauf rechnen, daß er mit einem anderen um keinen Deut besser daran ist. Uebrigens wissen das die Fabrikanten auch sehr gut. Sie versuchen, dem Ucbcl auf andere Weise zu steuern. Der Japaner liebt seine Göttin Natur, er betet sie an. S-ie zieht ihn um so mehr an, wenn er in die schwüle Atmosphäre der Fabrik gepreßt ist. Die Liebe zu ihr kennt keine Schranken. In- mitten der Arbeit überkommt den kleinen braunen Mann ein Drang, dem er nicht zu widerstehen vermag. Er nimmt daS Tce- kännchen und den Reistopf und steuert mit leichtem Herzen und großen Hoffnungen hinaus. Die garstige Erinnerung an Fabrik- staub, Oelgestank und Rkaschinengetöse sucht er zu vergessen am weichen Busen der Natur. Besonders nach dem Zahltag bietet sich beste Gelegenheit zur Befriedigung der Leidenschaft. Einmal oder zweimal im Monat winkt dieser günstige Moment. In einer Fabrik in Osaka traf ich viele Arbeitsplätze leer. Der Beamte, darüber befragt, sagte: Nach jedem Zabltag lieben die Leute einen Blauen zu machen. Gestern hat eS Geld gegeben und heute ist die Hälfte der Leute nicht da. Sie kommen wahr- scheinlich auch morgen noch nicht. Vielleicht kommen sie aber über- morgen, aber nicht um gleich zu arbeiten, sondern um sich erst gegenseitig lang und breit zu erzählen, wie lustig es die paar Tage gewesen sei. Ja, läßt die Fabrikleitung daS geschehen?, fragte ich. Sie mutz es, ob sie will oder nicht. Wenn wir nicht unsere Arbeit allein machen wollen, müssen wir ein oder eigentlich beide Augen zudrücken. Eine Bestrafung kann den AuSzug der ganzen Gesellschaft bringen., Mit Geld im Beutel scheint eS für den japanischen Arbeiter schwer, den Weg zur Fabrik zu finden. Ueber den Verlust des Lohnes grämt er sich nicht sonderlich. Viel braucht er ja nicht. Wenn er nur so viel hat. sich Reis kaufen zu können, läßt sein Arbeitseifer nach. Freilich: auch wenn sein Sinn auf daS Schätze- sammeln stünde, hätte eS keinen großen Wert, denn von den paar Neu, die er erhält, kann nichts für die Sparbank erübrigt werden. Jene kindliche Freude an der Natur macht nun zwar dem japanischen Arbeiter alle Ehre. Nur hat der um die Größe der japanischen Industrie und um seinen Profit besorgte Unternehmer nicht das richtige Verständnis dafür. ES wird deshalb allerlei ver- sucht, dem Arbeiter das Blaumachen abzugewöhnen und seinen Sparsinn, Arbeitseifer und Berufsstolz zu fördern. ES werden für ununterbrochene Arbeit oder langes Aushalten in einer Stellung Nationalliberale Sammelpolitik. Die kommenden Reichstagswahlen beginnen schon in einigech Wahlkreisen des JndustriebezirkS ihre Schatten vorauszuwerfcn» Besonders ist es der Wahlkreis Hagen, in dem sich die Partei# konstellationen zu klären beginnen. In dem alten Richterscher» Wahlkreis hat die Sozialdemokratie bei der letzten Wahl 17 073 Stimmen(Stichwahl 20 070) erhalten, während auf den Frei, sinnigen Bürgermeister Cuno als gemeinsamer Kandidat der Nationalliberalen und Freisinnigen 18 032 Stimmen entfielen und das Zentrum 0844, die Christlich-Sozialen 1082 Stinimcn zählten. In der Stichwahl siegte Cuno mit 22 607 Stimmen. Durch verschiedene Vorkommnisse hat sich Dr. Cuno nun in Hagen politisch abgewirtschaftet und wird jedenfalls nicht mehr als Kandidat auf- gestellt werden. Wie stark der Kreis durch die Sozialdemokratie ge- fährdet ist, geht aus ihrem stetigen gleichmäßigen Wachstum hervor. Die Natiolurlliberalen sind deshalb mit dem Vorschlage einer ge» meinsamen Sammelkandidatur für alle Parteien hervorgetreten und haben zunächst die Freisinnigen dafür zu ge- Winnen gesucht. Es hat deshalb ein zwei Monat sich hinziehender Briefwechsel zwischen den beiden Parteibureaus stattgefunden und die„Rh.-W.-Ztg." schreibt darüber, daß„Einem der Menschheit ganzer Jammer erfassen müsse, wenn man diesen Briefwechsel ver- folgt habe." Die Freisinnigen lehnten aber daS Anerbieten der Nationalliberalen ab. Nun beabsichtigen die Nationalliberalen mit den übrigen Parteien einen Kompromißkandidaten aufzustellen, der aus den Kreisen der Industrie und des Handels entstamme. Auf diesen Kandidaten würden dann, unter Zugrundelegung der Verhältnisse von 1007, 12 412 Stimmen entfallen und die Frei- sinnigen würdon dann mit 10 072 Stimmen, die sie bei der Wahl 1903 erhielten, völlig ausgeschaltet sein. Die„Rh.-W. Ztg." rechnet denn damit, daß die Freisinnigen den Sozialdemokraten wählen. und daß—„künftighin auch von Hagen -Schwelm ein Wässerlein in die rote Flut fließen wird." Sie kann recht haben. Ueber die schlimmen Wirkungen der Reichsfinanzreform, besonders auf die Tabakindustrie wird in dem Jahresbericht der Posener Handelskammer u. a. geschrieben: „DaS Ergebnis des Jahres 1009 gab zu Klagen Anlaß in den Brauereien, Likör- und Zigarrenfabriken, die durch die Reichsfinanz» refor», stark belastet wurden. Nach einer kurzen Blüte des Geschäfts vor dem Inkrafttreten der neuen Steuergesetze, veranlaßt durch daS Bestreben der Abnehmer, sich noch zu den bisherigen Preisen mit Ware zu versorgen, trat nachher besonders in der Zigarre n- induftrie eine völlige Stagnation ern. ES ist zwar verfrüht, schon jetzt ein Urteil darüber abzu- geben, welche Tragweite die neuen Steuerbelastungen für die betroffenen Industriezweige auf die Dauer haben werden. soviel ist aber gewiß, daß die Steuern diese Industrien einstweilen in ihrer Entlvickelung hen, men, weil- die Belastungen, welche ihnen auferlegt sind und welche sie um ihrer Exi st enz willen abwälzen müssen, Erhöhungen der Preise ihrer Fabrikate bedingen. Die in Betracht kommenden Industriezweige können berechtigterweise erwarten, daß sie nunmehr vor weiteren Stcuerprojekten und Steuergesetzen bewahrt werden." Die Zigarrenindustrie in der Provinz Posen befindet sich zum Teil auch in den Händen polnischer Fabrikanten, welche mit Vorliebe ihre Anlagen in kleinen Landstädten errichtet haben, da sie dort billige und unorganisierte polnische Arbeitskräfte, meistens weibliche zur Verfügung haben, die ganz miserable Löhne beziehen. Nach den Feststellungen der Tabakberufsgenossenschaft für 1906 betrug der JahreSdurchschnittSverdienst pro Vollarbeiter nur 406,27 M. Die polnische ReichStagssraktion achtete bei der Reichsfinanzreform daraus nicht, daß die elende Lage dieser polnischen Tabakarbeiter infolge der weiteren Stenerbelastung des Tabaks sich verschlimmern wird, es kam ihr nur darauf an. die 662 polnischen Großgrundbesitzer in der Provinz Posen vor der Erbschaftssteuer zu schützen und den polnischen adeligen Fuselbremiern die Branntweinliebesgabe erhalten zu können. Sehnliches berichtet die Handelskammer Schweidnitz aus Niederschlesien : „Namentlich in der Zllndwarenfavrikation haben sich die Verhältnisse überaus verschlechtert, da neue Auf- träge sehr schwer zu erreichen sind. Kunden, die früher 10 bis 30 Kisten oder auch ganze Ladungen kauften, beziehen jetzt eine, höchstens zwei Kisten. Bei dem hohen Steuersatze von 100 M. für die Kiste wird die Anschaffung von Lagerbestanden vermieden und nur von Woche zu Woche gelaust, um nicht viel Geld in die Ware zu stecken. ES haben sehr viele Arbeiter» entlassungen stattgefunden und statt an sechs wird nur an drei bi» vier Tagen in der Woche gearbeitet. Auch hinsichtlich des D e st i l l a t i o n S» gewerbeS haben sich die Befürchtungen voll und ganz erfüllt. Der Bedarf ging weiter zurück, trotzdem die Versorgung her Gast- Wirte aufgebraucht ist. Als hauptsächlichste Ursache hierfür gilt die erhöhte Branntweinsteuer, doch kommen auch weiter in Betracht die Abstinenzbewegung und der Branntwein- boykott." Die Urheber des Verbrechens dieser Finanzreform, die den reichen Agrariern Millionen an Liebesgaben einträgt und über die Arbeiter Not und BeschästigunaSlosigkeit verhängt hat, werden der Strafe nicht entgehen. Für sie wirb der Wahltag �um Zahltag werden progressiv steigende Prämien ausgesetzt; eS werden von Fabriksparkassen den Arbeitern hohe Zinsraten, zuweilen 8 Proz., für ihre Einlagen gezahlt; man versucht es mit der Einbehaltung eine» Teiles des Lohnes; in vielen Fabriken werden die Leute in Baracken einlogiert und dürfen nur zu bestimmter Zeit mit Erlaubnis ausgehen, oder es wird aus dem Fabrikladen fröhlich auf Borg ge-' geben, um die Arbeiter durch Schulden zu fesseln. Alle diese Maß- nahmen sind umsonst. Die Klagen über die Untugenden der Ar- beiter wollen nicht aufhören. Dort, wo sie nachgeprüft werden können, muß das in der industriellen Welt des Okzidents geschärfte Gewissen ihnen beistimmen. So beträgt in einigen der größten Etablissements der Textil- und Minenindustrie die Flukwatum der Arbeiter vierzig bis fünfzig Prozent. ES versteht sich, daß alle jene Mittel, die angewandt werden, dem Arbeiter seine intensiver Fabrikarbeit entgegenstehenden Ge- wohnheiten, Leidenschaften und Sitten, oder wenn man will, seine Untugenden und Laster, abzugewöhnen, vorderhand scheitern müssen, weil eben in kurzer Zeit auS einer asiatischen Bauernschaft ein fleißiger, berufsstolzer und beständiger Arbeiterstamm nicht zu erziehen ist. Vor allem aber können die Arbeiter nirgends einen Vorteil sehen, der sie zu einer Aenderung ihrer Gewohnheiten' reizen könnte. DaS beste Mittel, das sie anspornen könnte, dem europäischen Industriearbeiter nachzuahmen, wäre ein guter Lohn. Die Wirksamkeit dieses Mittels ist beispielsweise in Amerika sehr gut zu beobachten. Der gut bezahlte amerikanische Arbeiter klebt hundertmal fester an seiner Stelle als der schlecht bezahlte„Hun" oder„Dago"(Slave oder Italiener). Wird aber der Lohn höher, steigt er über die Rate, die der simple Sohn Italiens oder der Pußta zum Leben für notwendig hält, so ent- wickelt sich sein Sparsinn, seine Arbeitslust und der Widerwille gegen Arbeitsversäumnis, während er daheim einem»Blauen "' nicht sonderlich abgeneigt war. Der nämliche Vorgang ist bei den japanischen Arbeitern selbst zu beobachten. Sobald sie durch das Hintertor de? Onkel Sani geschlüpft sind steigt ihr Arbeitseifer und ihre Sparsamkeit merk» würdig schnell— zum größten Verdruß ihrer amerikanischen Klassengenossen. Selbst wenn sie noch weit weniger alz die Hälfte' des Lohnes der amerikanischen Arbeiter erhalten— was immer noch vier- bis sechsmal mehr ist als daheim— bekommt Arbeitslust und Sparsinn eine vorher ungekannte Intensität. In Japan würde sich auch ohne Zweifel mit einer besseren Bezahlung der Arbeiter da? Streben nach Erhaltung des Arbeitsplatzes und die Sparluft einstellen. Mer von höheren Löhnen wollen die japanischen Unter» nehmer absolut nichts wissen.*
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