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lt. 176. 27. Jahrgang. 1. KtilG dts Jotmäils" Öctlintt Jlollisliliitt. Sonnabend. 80. Juli 1910. Die Budgetbewilllgungsfrage. cschlutz.) Die Gegensätze der Parteien sind in letzter Linie zitrückzufüTjre- auf die Gegensätze der Klassen, die sie vertreten. Jede Partei such die Staatsmacht zu erobern, um sie den Interessen bestimmte Klassen dienstbar zu machen, dadurch Staat und Gesellschaft ii beitimmten Sinne zu gestalten. Die Ziele ihres politischen Kampfei »cgr sie in einem Programm nieder. Aber bei den bürgerlichen Parteien sehen wir, daß sie sich in Laufe der EntWickelung einander immer mehr nähern, ihre pro grammatischen Gegensätze immer mehr abstumpfen oder ihr Pro gramm immer mehr aus den Augen verlieren. Sie werden ebei immer mehr konservativ, Staat und Gesellschaft sind im wesentliche! bereits ihren Interessen gemäß eingerichtet, ihre kleinen Gegensätz« treten immer mehr zurück hinter den großen Gegensatz zum Prole tariat, von dessen Ausbeutung sie alle leben, und ihr Bedürfnis den Staat noch mehr als bisher in ihrem Sinne umzugestalten, triti zurück hinter das Bedürfnis, ihn so zu erhalten, wie er ist, um ihn vor der Umgestaltung durch das Proletariat zu behüten. Aber diese Tendenz zur Annäherung der bürgerlichen Parteien aneinander wird immer wieder durchbrochen durch neue Tendenzen die nach stets wachsender Entzweiung der Parteien streben. Dahin wirkt vor allem der«neue Mittelstand", der an Stelle des versinkenden alten tritt, die Scharen der Intellektuellen und der Kämpfenden werden, daß manche unter ihnen dabei sich schließ. I lich dazu versteigen, im Kampfe um den Futtertrog die Unter- j stützung sogar der Sozialdemokraten anzurufen, von denen man ' doch durch eine tiefe Kluft getrennt ist. Die gewöhnliche Methode ist das freilich nicht, schon deshalb nicht, weil ja die Sozialdemokraten noch nicht über die Regierungs- gewalt verfügen, und wenn sie einmal darüber verfügten, allem Ausbeutungsunwesen ein Ende machen würden. Der nächste und gangbarste Weg ist der, sich dem Herrn der Regierungsgewalt als verwendbare Diener anzubieten, ihm zu zeigen, daß man alle Prinzipien als schädlichen Ballast betrachtet und bereit ist, dem Herrn ebensogut zu dienen und noch billiger als die eben im'Amte befindliche Konkurrenz, daß man als Demokrat bereit ist, jede Erhöhung der Zivilliste und des Militärbudgets mit Hurra zu bewilligen. Indes das genügt nicht immer, um die Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Man muß auch zeigen, daß man bequemeres Regieren verheißt als sie, das heißt, man muß trachten, sie im Parlament in die Minorität und sich selbst in die Majorität zu bringen. Dazu gibt es zwei Wege. Einmal den, sich mit anderen Par- teien zu verbinden, wenn man allein nicht über die Mehrheit ver- fügt. DaS war ehedem nicht leicht, solange die Parteien noch für Programme und Prinzipien fochten. Nur einander verwandte Parteien konnten sich verbünden. Heute geht das einfacher. Man verbündet sich ja nicht, um irgend ein Programm durchzuführen, sondern um«regierungsfähig" zu werden, das heißt Zutritt zur ihrer Handlanger, die sich aus dem Nachwuchs des alten Mittel- staatlichen Versorgungsanstalt zu erlangen. Sobald man sich mit standes, überschüssigem Nachwuchs der Kapitalistenklasse und ein. anderen Mitstrebern darüber verständigt hat, liegt dem Zusammen- zelnen aufsteigenden Spitzen der Avdeiterklasse rekrutieren. treten zu einerpositivfr��baren Arbeitsmajorität" nichts mehr Diese Scharen wachsen rasch an. weit rascher als die Nachfrage im Wege. Der Bülowblock �at gezeigt, daß sogar eine Koalition nach ihren Diensten, Auch in ihren Reihen bildet sich Ueberproduk-»wischen Freisinnigen und Konservativen nicht mehr zu den Un- tion. Um so wichtiger wird für sie der Staat. Dessen Bedarf an moguch leiten gehört. c c Hilfskräften aller Art. hohen und niederen Beamten, wächst eines-, Störend wirkt dabe, nur eins: Jede der Cliquen mochte so teils infolge der Zunahme der Funktionen des Staates, anderer- wel als möglich aus dem Staate herausholen, das setzt aber vor- seits auch infolge der Ausdehnung des Staatsgebietes durch die«sis. daß vorher auch recht viel hineingetan wird. Darüber, daß Kolonialpolitik: der Staatsdienst gewinnt so für den neuen Mittell die ietzigen Ausgaben des Staates in ihrer bisherigen Höhe ver- stand immer größere Bedeutung. Zugleich auch die Staatsliefesi{LWuj'm müssen und die Masse der arbeitenden Schichten zu ihrer rungen immer größere Bedeutung für die verschiedensten Waren»! Deckung aufkommen muß, stnd sie alle einig. Aber die Belastung Produzenten Volksmassen findet ihre Grenzen, wird auch immer gefahr- Indes, so groß die Staatskrippe ist und so sehr sie ununter- l'cher. Die Besitzenden müssen schließlich ebenfalls zu den Staats- brachen wächst sie reicht doch nicht auS, aller Nachfrage nach kalten zugezogen werden jeder will aber so viel als möglich Stellen zu genügen, alle zu ve?s°rgen. die versorgt s�n möchtem"ewen so wenig als möglich geben. Jede Clique sucht das Ein Teil bleibt von der Krippe ausgeschlossen. Die Regierung aber Zahlen den anderen zuzuschieben, wenn einmal d«e Besteuerung ist es in letzter Linie, die entscheidet, wer an die Krippe darf, wer der Besitzenden unvermeidlich wird Daruber entspinnen sich oft nicht. Ihre Freunde werden zugelassen, ihre Gegner ausgeschlossen, die wütendsten Kampfe. Dieselben Elemente, die mit größter Ge- So ersteht für die einzelnen Parteien ein zweites Motiv, nach mutsruhe den arbeitenden Klassen die größten Lasten auferlegen, der Staatsgewalt zu streben, neben dem. die Macht zur Durch, geraten auger sich und erklaren die heiligsten Guter der Mensch- führung ihres Programms zu erringen: das, die Verfügung über?, bedroht, sobald ihnen eine neue, wenn auch noch so unbe- alle die unzähligen Posten und Pöstchen zu erlangen, die von der deutende Steuer zugemutet wird. In Geldsachen Hort leicht nicht Regierung besetzt werden. Vom Beginn des modernen Staates alle Gemütlichkeit, sondern auch alle Blockpolitik auf. an war dieses Bestreben bei den bürgerlichen Parteien vorhanden. Außer durch Bündnisse mit anderen Parteien kann man auch Es tritt jedoch in dem Matze in den Vordergrund, in dem da? durch Veränderungen des Wahlrechts die Stärke der eigenen Par- andere Motiv zurücktritt. Je weniger ernst es den Parteien ist, tei vermehren. Neben dem wachsenden Ansturm der Sozial- die Regierung zu gewinnen, um ihr Programm durchzuführen, um demokratie ist dies einer der Gründe, warum in den verschiedensten so ernster wird für sie die Gewinnung der Regierung zur Aus- Ländern und Gemeinden Wahlrechtsänderungen in letzter Zeit nutzung des Staates für ihren Anhang als Versorgungsanstalt, vorgenommen werden. Aber auch hier handelt eS sich bei den Der Weg zur Macht erhält so für sie eine eigenartige Bedeutung bürgerlichen Parteien mcht mehr um Prinzipien und Programme. Die Macht, die sie anstreben, ist schließlich nicht mehr die Macht den Staat umzugestalten, sondern nur noch die, den Staat aus- zubeuten. Entwicklung die Kriterien sehr verschieden, nach denen die Zu- sondern nur noch um Mandate. Nur die Sozialdemokratie verficht in dieser wie in jeder anderen Sache stets den gleichen prinzipiellen demokratischen In den verschiedenen Staaten sind je nach ihrer historischer Standpunkt. Die Forderungen und Bestrebungen jeder einzelnen bürgerlichen Partei, selbst der bürgerlichen Demokratie, wechseln lassung zum Staatsdienst ober das raschere Fortkommen in ihm dagegen mit den Umständen. Wo es profitabel ist, tritt nicht bloß bestimmt wird. In Oesterreich bildet die Zugehörigkeit zu be- der Freisinn, sondern auch das Zentrum fürs allgemeine, gleiche stimmten Nationalitäten dabei eine große Rolle. Im Deutschen und direkte Wahlrecht ein. Neben der Sozialdemokratie waren Reiche die Religion. ES macht einen gewaltigen Unterschied im eS die Ultramontanen in Süddeutschland wie in Oesterreich , die Fortkommen, ob man Protestant, Katholik oder Jude ist. die letzten Wahlresormen machten. Aber derselbe Freisinn, der in Die Parteien, welche die bisher im Staatsdienst begünstigten Preußen anscheinend eine Verbesserung des Wahlrechts fordert, Kategorien vertreten, kämpfen mit Nägeln und Zähnen dafür, verschlechtert das Wahlrecht, wo ihm die Sozialdemokratie auf den ** o-------, r i rfTV L Co__ i____ l__ v_..««««K T)<-> v»+ 1» t-v » S P,«v* V(TQ dies Privileg aufrechtzuerhalten. Die Vertreter der zurückgesetzten oder gar ganz ausgeschlossenen Kategorien kämpfen ebenso wütend dafür, selbst zur Macht zu kommen, um das Privileg zu brechen. Obwohl die Prinzipienkämpfe der bürgerlichen Parteien immer mehr aufhören, tritt doch nicht Friede unter ihnen ein, sondern ihre Kämpfe werden oft noch erbitterter als bisher, gerade des- wegen, weil sich'S dabei nicht mehr um große, weltbewegende Ideen, sondern um bloße Geldgeschäfte handelt. So groß kann die Wut kleines Feuilleton. Schiaparelli über die MarSkanäle. Der jüngst verstorbene italienische Astronom Schiaparelli, dem wir die ersten grundlegenden Beobachtungen über die sogenannten MarSkanäle verdanken, hat noch kurz vor seinem Tode in einem Privaibrief zu dieser viel umstittenen Erscheinung Stellung genommen. Der schwedische Physiker Arrhenius hatte die«Kanäle' für Spalten erklärt, die unseren Erdbebenspaltcn entsprechen. Schiaparelli äußert sich dazu in dem vom.KoSmoS" veröffentlichten Briefe:«WaS mich betrifft, so ist eS mir noch nicht gelungen, mir ein organisches Ganzes von ver- nunsrgemäßen und glaubwürdigen Gedanken über die Mar«- fhänomene zu bilden, die vielleicht doch noch etwas verwickelter« Er- cheinungen darstellen als Herr ArrheniuS annimmt. Aber ich bin mir ganz klar über einen Punkt, hinsichtlich dessen ich mich in voller Ucbereinftimmung mit ihm befinde, daß man nämlich eine Mit- Wirkung der geologischen Struktur des Planeten in Rechnung ziehen muß: Alexander v. Humboldt nannte dies in abstrakter Weise die Reaktion des Innern auf die Oberfläche und auf die den Planeten in Form einer Atmosphäre umgebenden Hüllen, Ich glaube auch mit Herrn Arrhenius . daß die Linien und Streifen des MarS (der Name«Kanäle" sollte vermieden werden) sich durch die Tätigkeit von physiko-chemischen Kräften ganz allein erklären lassen; ausgenommen immer gewisse periodische Färbungen, die wohl das Er» gebnis organischer Bildungen von großer Ausdehnung sein könnten, wie auf der Erde das Blühen der Steppen und ähnliche Erscheinungen. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß die geometrischen und regelmäßigen Linien sderen Vorhandensein noch von vielen Personen bestritten wird) uns für den Augenblick hin- sichtlich der wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen Existenz intelli- genter Wesen auf diesem Planeten gar nichts lehren. Indessen er- achte ich es für gut, wenn jemand alles sammelte sei eS auch nur als Grundlagen für die Prüfung, waS sich auf vernünftige Weise zugunsten dieser Existenz vorbringen läßt. Und unter diesem Gesichtspunkte schätze ich außerordentlich die hochherzigen Bemühungen deS Herrn L o w e l l und die von ihm zu diesem Zweck gemachten Aufwendungen an Geld und Arbeit sowie seine sehr scharfsinnigen Ausführungen darüber." Diewissenschaftliche Bildung" deS bayerischen KleruS. Aus Müncli en wird uns geschrieben: Viel belacht wird hier ein grau- samer Neinfall eines Zentrums theo logen, der es unter- nommen hat, den Bischof von RegenSburg wegen seines bekannten Ausspruches:«Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben I" gegen die An- «risse der sozialdemokratischen Presse zu verteidigen. Die«Münch. !ost" hotte an der Hand von Bibelstellen nachzuweisen gesucht, daß sich in den Schriften des Apostels Paulus, auf den sich der Bischof berufen, ein derartiger Ausspruch nicht finde, und hatte dazu bemerkt: «Wir benützen den Text der ganz zuverlässigen Konstanzer Ausgabe der Blbl. Sa er, vom Jahre 1770." Diesen Quellennachweis gibt der ultramontane Theologe, der in mehreren Blättern einen großen, angeblich.wissenschaftlichen' Fersen ist, und dasselbe Zentrum, das in Bayern die Wahlreform förderte, hindert sie in Preußen. Nirgends ein großzügiges Pro- gramm, überall nur kleinliche Berechnung deS nächstliegenden Augenblicksvorteils. Auch bei dieser Rauferei um die Mandate gibt eS oft leb- hafte Kämpfe zwischen den bürgerlichen Parteien. Die Sozialdeisiokratie muß natürlich alle Zwistigkeiten zwischen ihren Gegnern zu ihren Gunsten auszunützen suchen, mögen deren Rechtfertigungsartikel zugunsten de? Bischofs veröffentlicht, wieder, indem er sagt, die Herren Theologen der sozialdemokratischen Presse beriefen sich aufden Text der ganz zuverlässigen Konstanzer Aus- gäbe der biblischen Sakramente sl)" usw. WaS sich der Zentrumstheologe unter der Konstanzer Ausgabe der«biblischen Sakramente" vorgestellt hat, ist sein Geheimnis. Von jedem Buchhändlerlehrling hätte er sich belehren lassen müssen, daß die Abkürzung Libl, sacr. nichts anderes bedeuten kann als Biblia sacra, zu deutsch : heilige Bücher. So etwas braucht ein ZentrumStbeologe natürlich nicht zu wissen. Aber nicht genug damit; mit einem ganz unscheinbaren Mittels nämlich mit Hilfe deS hinzugesetzten AuSrnfungszeichenS, weiß der«Bayer. Kurier", der den Artikel auch abdruckt, die zentrumS- theologische Dummheit von den«biblischen Sakramenten" als ein Zeichen sozialdemokratischer Unwissenheit erscheinen zu lassen I So paaren sich bei dieser ultramontanen Sippe in anmutiger Gemeinschaft Unwissenheit und Perfidie. Der unterbliebene Handkuß. Die russische Zeitung.Retsch' be- richtet aus Orenburg : In der achten Klasse des Orenburger Gymnasiums stand der Schüler Wssewolod Schukschinzew vor dem Abiturium. Neun Jahre lang war er, wie der Direktor wiederholt äußerte, Musterschüler gewesen! er war infolge dessen Kandidat für die goldene Schulmedaille. Da kam am 15. Juni das Abiturium, und der junge Mann bestand es glänzend. Etwas sehr Bedauer- licheS passierte nur bei. der Religionsprüfung, Bischof Dionysius von TscheljabinSk, der dem Examen beiwohnte, verteilte unter die Absolventen Evangelien. Schulschinzew nahm sein Evangelium, küßte eS, vergaß aber die Hand des Bischofs zu küßen. Entrüstet entriß der geistliche Herr dem Schüler das Evangelium, eilte zum Katheder und änderte die gute Zensur 4, die der Abiturient in Religion er- halten hatte, in 2 um. Als aber der Sünder auf Verlangen des Direktors den Bischof um Entschuldigung bat, verrauchte der Zorn des kirchlichen Würdenträgers und er änderte die 2 in eine 3 um. Das Reifezeugnis war gerettet. Alle waren zufrieden, nur der Direktor nicht. Er zitierte die Mutter des Knaben zu sich und erklärte, er gebe ihrem Sohne das Abgangszeugnis nicht, bevor sie nicht den Bischof um Verzeihung für ihren mißratenen Jungen gebeten haben würde. Die schüchterne und kränkliche Frau tat das. Der Bischof war über den Ilebereifer des Direktor? sehr «staunt, aber durchaus nicht erfreut. Aber der Direktor >oar noch nicht zufriedengestellt. Er forderte von der Rutter ein ärztliches Zeugnis über die geistige Anormalität ihres Sohnes, den er früher als Musters-büler gepriesen hatte. Die Natter beschaffte das Zeugnis(1). Und auch das genügte dem Direktor nicht. Er berief den Lehrcrrat und setzte hier durch, daß »er ausgezeichnete Schüler für Betragen eine schlechte Note erhielt. Nit dieser Zensur und dem ärztlichen Zeugnis war dem jungen Abiturienten der Zutritt zur Universität verschlossen. Und um seinen Großzügigen Strafpkan ganz durchzuführen, ging der Direktor zum Aater des Schülers, der als Lehrer am Gymnasium fein Unter- gebener war. und forderte ihn auf, um seinen Abschied einzukommen. So lebt man in Nußland I Differenzen auch nicht mehr, wie ehedem, prinzipiellen Gegen- sätzen, sondern nur noch dem Hunger nach Aemtern und� Liebes» gaben und der Abneigung vor der Tragung von Staatslasten ent- springen. Sie muß jeweilig einzelne Parteien gegen andere unter- stützen, wie sie es seit jeher getan. Aber sie kann das nur tun» um dabei bestimmte einzelne Erfolge zu erreichen, eUva eine be- stimmte Wahlresorm durchzusetzen, die schon beraten� wird, oder eine bestimmte Steuer abzulehnen, die vorgeschlagen ist. Dagegen wäre es schlimmer als zwecklos, wollte sie sich mit einzelnen bürger» lichen Parteien zu einer längeren Aktion oder gar zu einer festen, dauernden Regierungsmehrheit vereinigen. Derartiges erwies sich schon undurchführbar zu der Zeit, wo die bürgerlichen Parteien noch feste, weithinschauende Programme hatten. Selbst damals, als der deutsche Libesalismus noch etwas an sich hatte, das nach revolutionärem Charakter aussah, wurde er die Furcht vor der politischen Macht des Proletariats und den Gegensatz des Kapi- talisten zum Arbeiter nicht los. H-eute aber ist auf keine der bürgerlichen Parteien in irgendeiner der Fragen, die das Prole». tariat interesiicren, irgendwie ein Verlaß möglich. Man spricht von einem liberal-sozialdemokratisckien Block zur Bekämpfung der Reaktion des Zentrums und der Konservativen. Jedoch gestern erst mußten unsere Genossen in Süddeutschland mit dem Zentrum Hand in Hand gehen, um den liberalen Widerstand gegen die Wahlresorm zu überwinden, und gestern erst fanden sich die Freisinnigen mit den Konservativen in Preußen zusammen, um einepositiv-fruchtbare Arbeitsmajorität" zu bilden. Sicher müssen wir heute das Zentrum bekämpfen wegen seiner reaktionären Politik. Aber die Liberalen bekämpfen es nicht aus dem gleichen Grunde. Sie waren bereit und sind bereit, mit den Konservativen gemeinsame Politik zu machen. Was sie gegen das Zentrum erbittert, das ist die Tatsache, daß es den Konservativen ermöglicht, reaktionäre Politik ohne Liberale zu treiben, daß der Platz an der Futterkrippe durch klerikale Streber besetzt wird, auf den die liberalen Streber Anspruch erheben. Die liberalen und klerikalen Streber gleichzeitig zu befriedigen, geht schwer an, dazu ist der Ausbeutungsorganismus des Staates noch nicht groß genug. Die Liberalen hassen die Klerikalen, aber sie sind stets bereit, um sie zu ersetzen, an ihrer Stelle reaktionäre Politik zu machen. Und das sind die Bundesgenossen, die wir uns suchen sollen, um derentwillen wir alles aufgeben sollen, was unsere Sache groß und siegreich mackst! Man muß alles sozialistische Empfinden verloren haben, muß alles prinzipielle Denken verlernt oder nie besessen haben, muß sich ganz vom bürgerlichen Beispiel, von dem Vorbild der jetzigen, nicht ehemaliger bürgerlicher Politik beherrschen lassen, um die Kühnheit aufzutreiben, unserer Partei zu raten, sich mit den Nationalliberalen zu einer Regierungsmehrheit in gleicher Weise zusammenzutun, wie es die Freisinnigen mit den Konservativen taten. Der Karlsruher Volksfreund" hat recht, wenn er erklärt, die Prinzipienreiterei" komme bei der Großblocktaktiknicht auf ihre Kosten". Allerdings, wenn er hinzufügt, diePrinzipienreiterei" sei einebenso leichtes wie bequemes Vergnügen", so beweist er damit, daß er nicht weiß, was ein Prinzip ist, auf welche Weise man sich zu Grundsätzen durchringt, in welcher Weise man unter ihrer Leitung kämpft. Er scheint unter Prinzipien leere Redens- arten zu verstehen. Jeder urteilt über Prinzipien nach denjenigen, die er hat. Wenn unsere Partei sich soweit kastrieren würde, daß sie selbst die Gegnerschaft der Nationalliberalen in Zutrauen verwandelte, so würde sie doch dabei nicht einmal vorübergehend gewinnen weder sie noch das Proletariat, denn das gemeinsame Arbeiten wäre ja nur dadurch möglich, daß unsere Partei alles vermiede, was bei den Liberalen Anstoß erregen könnte, wie ja auch schon das badische Beispiel beweist, wo unsere Genossen im Landtag sich gezwungen sahen, die neue Gemcindeordnung, die das Drei- klassenwahlsystem verewigt und die Arbeiter dauernd hindert, zur Mehrheit in der Gemeindevertretung zu gelangen, als demo- kratische Errungenschaft zu preisen. Denn um ihre nationallibe- ralen Bundesgenossen nicht abzustoßen, durften sie nicht eine Agi» tation für das gleiche Wahlrecht zur Gemeindeordnung im Lande entfalten. Der ganze Effekt der Graßblockpolitik, wenn sie im Reich über- Haupt möglich wäre, könnte höchstens der sein, daß wir den Libe» ralen als Stufe dienten, über die sie zur Staatskrippe hinauf- stiegen, um dieselbe reaktionäre Politik mit einigen unbedeutenden Variationen zu machen, die jetzt gemacht wird: Weltpolitik, Die Sublimatvergiftungen im Deutschen Reich. Sublimat ist eines der vorzüglichsten Desinfektionsmittel, das wir besitzen. eS wird daher nicht nur von den Aerzten, sonder» auch vom großen Publikum in ausgedehntem Maße verwendet. Außerdem wird Sublimat zu gewerblichen und technischen Zwecken und neuerdings auch in der Amateurphotographie in großem Umfange verwendet. Die beliebteste Anwendungsform ist die in Form der Pastillen, die aus gleichen Teilen Sublimat und Kochsalz bestehen unter Zusatz eines roten Farbstoffes. Dieser rote Farbstoff, meist Eofln, bezweckt, die Ge- fahr der Verwechselung des an sich farblosen Sublimat? herab- zumindern. Sublimat ist nämlich ein furchtbare? Gift und wie manche zu Desinfektionszwecken viel gebrauchten Stoffe, z. B. Karbolsäure und Lysol, werden auch die Sublimatpastillen mit zunehmender Ver- breitung zu Selbstmordzwecken benutzt; desgleichen sind sie manchmal aus Fahrlässigkeit oder Versehen eingenommen worden. Um zu- verlässige Unterlagen über die Unglücksfälle durch Sublimat zu erhalten, hat der Reichskanzler vom Jahr 1897 ab statistische Er- Hebungen veranstalten lassen, deren Resultate jetzt vom ReichSgesundheitS» amt publiziert wurden. Danachsind von 1897 1905 im Ganzen 101 Ver- giftungen mit Silblimatpastillen amtlich gemeldet worden, von denen 92 in selbstmörderischer Absicht erfolgten und die übrigen auS Versehen. Von den 101 Vergiftungsfällen verliefen 58 tödlich, während 43 Vergiftete am Leben blieben. Das weibliche Geschlecht über- wiegt beim Selbstmord mit Sublimat gegenüber dem männlichen. wobei die Geneigtheit des weiblichen Geschlechtes, zu Selbstmordzweckcn Gift zu wählen, deutlich hervortritt. Als töd- liche Dosis genügt schon das Verschlucken einer Sublimatpastille von>/z Gramm. Es hat nach dieser Statistik die Zahl der in Deutschland jährlich vorgekommenen Sublimatvergiftungen durch- schnittlich 11 betragen, von denen 10 in selbstmörderischer Absicht ausgeführt wurden; das ist eine geringe Zahl, beendeten doch in Preußen allein im Jahre 1905 im ganzen 630 Personen ihr Leben freiwillig durch Gift._ Notizen. Die Reinigung der Straßen von Denk« m ä l e r n. Der Pariser Gemeinderat hat vor einigen Tagen in einem ausführlichen Bericht dargelegt, daß eine der ärgsten Ver- kehrShemmungen in der zunehmenden Masse der Denkmäler besteht. In der Tat hat die Vetternivirtschafl in der Gemeinde und das Mäccnatentum dekorationSsnchtiger Spießer eine wahre lieber« schwemmnng in Bronze und Marmor hervorgerufen. So ist z. B. Alfred M u s s e t in Paris gleich mit drei Denkmälern vertreten. Corberller fragt nicht mit Unrecht:WaS hat Shakespeare auf dem Boulevard Haußmann zu tun, Henri Becque auf dem Trottoir der Avenue de Villiers"? Aber da» sind immerhin doch Größen der Literatur, die im Publikum mehr oder Minder Erinnerungen aus- lösen. Sinnloser noch sind die Monumente von allerhand längst vergessenen Generälen und Admirälen und obskuren Professoren. Corbeiller beantragt, einfach alle Denkmäler mit Ausnahme der patriotischen Größen auS der Stadt zu schaffen und auf den Festungswällen aufzustellen, wo sie niemand genieren.