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|r.224. 27. Jahrgang. 1. Seiinge des Jorafirls" Setlinet Soltelilnlt, Sonnabend, 24. September 1910. Die Parteitag der deutschen Sozial- demoltratle zu liiagdeburg. Fünfter Verhandlungstag. Magdeburg , 23. September 1910. Vormittagssitzung. Vorsitzender Klühs eröffnet die Verhandlungen um Uhr. Diskussion über den Parlamentarischen Bericht wird fortgesetzt. Schöne-Zschopau : Wir stehen durchaus auf dem Standpunkt der Redner, die gegen den Mißbrauch des Alkohols gesprochen haben. Wir haben das bekannte Plakat mit der Schnapsflasche in großer Zahl verbreitet. Wir sind an die Gemeindekrankenkassen, Fabriken und Schulen gegangen und haben die Genehmigung nachgesucht, das Plakat aushängen zu dürfen. Erst nach uns hat sich die Schul- behörde mit dieser Frage beschäftigt. Auch im Gemeindeamt hängt das Plakat öffentlich aus. Wir empfehlen diese Maßnahmen den anderen Organisationen.(Beifall.) Genossin Zieh begründet den gestern im Wortlaut niitgeteilten Antrag über die F l e i s ch t e u e r u n g. Der schwere Druck, unter dem vor allem die Arbeiterschaft, aber auch weite Kreise des Bürgertums leiden, und der durch die agrarische Zoll- und Protektionspolitik hervorgerufen worden ist, ist geradezu unerträglich geworden. In der gegenwärtigen Zeit ist es vor allem die F l e i s ch t e u e r u n g, die in allen Gegen- den des Reiches zum schärfsten Protest gegen diese Politik heraus- gefordert hat. Die ungeheure Verteuerung des Fleisches, des Brotes und unserer Nahrungsmittel überhaupt führt dazu, daß die Arbeiterschaft um die Früchte ihrer jahrelangen gewerkschaftlichen Kämpfe betrogen wird. Sie führt weiter dazu, daß die Lebenshaltung der Arbeiter herabgedrückt, daß ihre Gesundheit auf das schwerste geschädigt wird, daß die Sterblichkeit und vor allem die Kinder st erblichkeit außerordentlich zunimmt. Das führt im weiteren Verfolge geradezu zur Degeneration. Wir müssen infolgedessen verlangen, daß alle die zollpolitischen Maßnahmen beseitigt werden, daß auch der schlimmste Auswuchs des agrarischen Protektionssystems, die Einfuhrscheine, aufgehoben werden, daß alle die schikanösen Ausführungsbestim- mungen, die hinsichtlich der Einfuhr von Vieh und Fleisch bestehen, aus der Welt geschafft werden. Es klagen an alle diejenigen Männer, die infolge dieser unge- Heuren Teuerung der Nahrungsmittel an ihrer Gesundheit gelitten haben und in ihrer Leistungsfähigkeit an der Arbeits- statte herabgedrückt sind. Es klagen an die Mütter, die ge- zwangen sind, ihre Kinder zu Hause ohne Aufsicht zu lassen und hinauszugehen, um das Brot mitzuverdienen. Es klagen an alle jene Mütter, deren Kinder Hunger leiden müssen. Es klagen an alle Mütter, deren Lieblinge infolge der furchtbaren Teuerung frühzeitig ins Grab sinken müssen, weil sie infolge der Unterernährung vorzeitig gestorben sind. Es klagen an alle diejenigen Personen, die infolge der wirtschaftlichen Not- läge auf den Weg des Verbrechens und vor allem des Eigen tumvergehens gedrängt worden sind und die die Gefängnisse füllen. Es klagen an alle jene Frauen und Mädchen, die infolge der wirt- schaftlichen Notlage auf den Weg der Schande getrieben worden und der Prostitution anheimgefallen sind. Das Volk hat es satt, sich ausbeuten und unterdrücken zu lassen im Interesse der Krautjunker und Ochsengrafen, im Interesse derjenigen, die politische Hausknechte der Bourgeoisie gegen- über der Arbeiterschaft sind. Ich verweise darauf, daß den Großgrundbesitzern die Taschen gefüllt werden nicht durch die Zollpolitik, sondern vor allem auch durch dieses Protektionssystem und die Einrichtung der Einfuhr- scheine. Das System der Einfuhrscheine führt in dieser Zeit der hohen Fleisch- und Brotpreise zur Ausführung des Brot- getreides, damit zur Entblößung des inländischen Marktes mit Brotgetreide, zur Verteuerung des Brotgerreides und der Futterstoffe und damit auch zur Verteuerung von Vieh und Fleisch. «Sehr gut!) Ist das nicht geradezu ein Skandal, daß in der Zeit, wo die Regierung Umschau hält, um wiederum auszuklügeln, was für neue Steuern in Zukunft in Aussicht genommen werden sollen, in der Neichskasse, in der die Steuern ein Loch füllen sollen, schon im Juli dieses Jahres für 32 Millionen Mark Einfuhr- scheine zu finden waren anstatt des baren Geldes. (Hört! Hört!) Die Folge ist nicht nur die, die NoSke gestern ge- schildert hat, daß man deshalb für die Witwen- und Waisenversiche- rung kein Geld übrig hat, sondern wir haben weiter damit zu rechnen, daß man uns auch noch neue Steuer» zu den alten aufzu- erlegen gedenkt. Auf der einen Seite wird unsere Lebenshaltung berabgedrückt infolge dieses Wirtschaftssystems und auf der anderen Seite werden den Leuten, die unsere schlimmsten politischen Gegner sind, die Taschen gefüllt, und wird ihre wirtschaftliche, soziale Macht, ihr politischer Einfluß gestärkt, den Leuten, die in erster Linie die Schuld trifft, daß wir bisher als Staatsbürger zweiter und dritter Klasse im größten deutschen Bundes- staate, Preußen, behandelt werden. Es ist gewiß das Geringste, wenn in der Zeit der allgemeinen Teuerung, in der Zeit, in der selbst der König 3%. Millionen Mark Zulage bekommt, weil er infolge der Teuerung seinen Haushalt nicht mehr so auf- recht erhalten kann(Sehr guäl), die Arbeiterschaft verlangt: fort mit diesen Maßnahmen, die und in unserer Lebenshaltung, in unserer Leistungsfähigkeit an der Arbeitsstätte und im politische» und wirtschaftliche« Kampf herabdrücken.(Sehr wahr!) Es genügt aber nicht, daß wir hier diese Forderung erheben, fondern wir haben auch dafür zu sorgen, daß die am meisten Jnter- essierten, die großen Volksmassen, in immer weiterem Umfange die Träger dieser Forderungen werden, daß sie von selbst erklären: wir haben es satt, daß unsere politischen Feinde auf Grund unseres Hungers ihre Machtstellung aufrecht erhalten. Darum ersucht der Parteivorstand und die Kontrollkommission Sie in der vorliegenden Resolution, daß Sie, nachdem wir hier die Forderung erhoben haben, nachher draußen mit aller Schärfe den Kampf gegen dies System fortsetzen. Es ist das gleichzeitig die beste Gelegenheit, um die indifferenten Massen, die Männer und Frauen zu politischem Leben zu erwecken, sie politisch zu organisieren, und sie damit einzureihen «i das große Heer der proletarischen Klassenkämpfer, die in der Sozialdemokratie ihre politische Vertretung finden. Genossen und Genossinnen! Da ich hier nicht nur als Partei- Mitglied, sondern als weibliches Parteimitglied spreche, möchte ich bitten, daß Sie diese Bewegung ganz besonders zur Agitation unter dem weiblichen Proletariat ausnutzen. Gewiß ist es Sache des Volkes, gegen den Lebensmittelwucher zu kämpfen, aber in erster Linie Sache des weiblichen Teiles des Volkes, der am schwersten darunter zu leiden hat.(Sehr richtig!) Wenn Sie unsere Resolution annehmen und nach ihrem letzten Absatz ver- fahren, wenn Sie dafür sorgen, daß die Massen mehr und mehr Träger des Protestes werden, wenn Sie den roten Zorn ent- Jl a m m e n gegen die Auswucherung und ihre Träger, dann sind ie Vorbedingungen geschaffen, daß endlich einmal gründlich tsbuls rasa gemacht werden kann mit diesem System!.(Lebhafter Keifall.) Linchen Bauin ann begründet den Antrag 98.') Selbst in der bürgerlichen Presse mutz die Fleischteuerung und die damit ver- bundene Not der breiten Massen des Volkes zugegeben werden. Im Berliner Tageblatt" wurde erst dieser Tage gemeldet, daß in Sachsen der Fleischkonsum bedeutend niedriger ist, als der Reichsdurchschnitt ausmacht. Die sächsische Re- gierung hat den Landeskulturrat nach Maßnahmen gegen die Fleischteuerung befragt. Dieser Landeskulturrat aber besteht fast ausschließlich aus Mitgliedern des Bundes der Land- Wirte. Was die Leute vorschlagen mögen an Maßnahmen, wird keine Beseitigung der Teuerung mit sich bringen, sondern eine Verstärkung der Fleischnot. Die Grenzsperren werden ganz ungeheuer rigoros gehandhabt. Jedes Stück Fleisch, das bei Reisenden im Koffer an der deutsch -dänischen Grenze gefunden wird, wird konfisziert und einfach v e r b r o. n n t, damit um Gottes willen niemand der Wohltat teil- haftig wird, ein Stückchen dänisches Fleisch in den Topf zu be- kommen. Die Wucht der letzten großen Agitationsversammlungen gegen den Fleischwucher wurde durch die Verguickung mit dem Pro- test gegen die Kaiserrede abgeschwächt. In Zukunft muß die Teuerungsagitation gesondert geführt werden. Wir möchten wünschen, daß das von uns geforderte Flugblatt des Parteivorstandes an die Frauen illustriert würde. Solche Jllu- strationen verstärken sehr die Wirkung. Wir haben bereits 82 000 weibliche Mitglieder in unseren Organisationen. Eine kraftvolle Agitation gegen den Lebensmittelwucher wird in nächster Zeit diese Zahl noch steigern. Der Eintritt der Frauen in die sozialdeino- kratische Partei ist der wirksamste Protest gegen das System der Vollsauswucherung.(Beifall.) Kunert-Berlin : Noske bezog sich in seinem vorzüglichen Refe- rat bei seinen Darlegungen über die ungeheuren Kosten des Milita- rismus lediglich auf die durch den Etat bewilligten Ausgaben. Auf Grund von Material, das ich später veröffentlichen werde, will ich darauf hinweisen, daß nebenbei der Militarismus noch durch Ge- Heimfonds, schwarze Fonds in den Händen sogenannter hoher nnd allerhöchster Personen gespeist wird. Diese meine Ausführung soll ein Lllarmruf sein für die, die es zunächst angeht, für unsere parla- mentarischen Vertreter in den Bundesstaaten, und wir haben ganz besonders ein Musterland nicht Baden, sondern ein anderes, wo dieser ungesetzliche und verfassungswidrige Zustand aufs stärkste ausgebildet ist. H e i l m a n n hat bei einer früheren Debatte eine Schilderung der Abstimmung über den Etat gegeben, die kein wahres Bild, sondern eine Karikatur war. Und doch müssen wir ihm dafür dankbar sein. Bebel hat idealisierend er- klärt, daß bei der Budgetablehnung efn feierliches Moment in Be- tracht kommt. Ich stehe jetzt zwanzig Jahre im Parlamentaris- mus und habe bei keiner Abstimmung den Eindruck gehabt, daß wir wirklich vor einem großen oder feierlichen Moment stehen. Das liegt an dem furchtbaren Durcheinander bei der Ab- st i m m u n g, so daß kaum ein Mensch weiß, was geschieht.(Teil- weise Zustimmung.) Natürlich handelt es sich nicht um den Inhalt, sondernum die Form, und die können wir dadurch ändern, daß wir eine schriftliche Erklärung über unsere prinzipielle Stellung im Budget und über die aktuellen Vorgänge des letzten Jahres abgeben. Ich stehe im übrigen nicht auf dem Standpunkt, daß die Form ausschlaggebend ist, nicht einmal, daß der Parlamentarismus in künftiger Zeit ausschlaggebend sein wird; sondern wenn wir das Pro- letariat befreien wollen, dann werden wir es schließlich vom Parlamentarismus emanzipieren und drastische Mittel anwenden müssen.(Lebhaftes Bravo!) Genossin Zieh: Der Vorstand schlägt vor, daß das von den weiblichen Parteitagsdelegierten gewünschte Flugblatt finanz- schwachen Kreisen unentgeltlich geliefert wird, während die finanzstarken Kreise zu zahlen hätten. In dieser Form empfiehlt der Vorstand einstimmige Annahme des Antrages. Heilmann-Chemnitz : Ich bin ganz Kunerts Meinung, daß die Form der Vudgetablehnung im Reichstag wirkungsvoller ausge- staltet werden soll. Ich meine aber, daß unsere Gründe für die Ablehnung des Budgets bereits in der ersten Lesung des Etats in feierlicher Weise dargelegt werden. Auf diese Erklärung in erster Lesung hört die ganze bürgerliche Welt, und auf diese müssen wir doch wirken, weil wir aus ihr unsere neuen Anhänger gewinnen wollen.(Sehr richtig!) In dieser Beziehung habe ich gemeint, daß die schließliche Budgetabstimmung nicht die ihr zugeschriebene Be- deutung hat. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Berichterstatter Noske verzichtet aufs Schlußwort. Die Anträge 38 und 39 werden der Reichstagsfraktion überwiesen. Die Anträge 40 un� 84 werden angenommen, ebenso die Resolution 98 des Partei- Vorstandes und der Kontrollkommission. Angenommen wird weiter der Antrag 98 mit der von der Genossin Zietz beantragten Aende- rung. Auf Antrag Liebknecht wird nunmehr mit Rücksicht auf die Anwesenheit eines Vertreters der finnischen Partei der An- trag 7b"). Slimpathieknndgebnng für Finnland , zunächst verhandelt. Dr. Liebknecht begründet den Antrag und bittet zunächst, am Schluß dieses Antrages hinzuzufügen, der Parteitag brandmarkt das Verhalten der preußischen und der hessischen Regierung, die den Repräsentanten einer barbarischen, gesetzlosen und hochverräteri- schen Willkürherrschaft gegen die Empörung des deutschen Volkes zu schützen versuchen, wobei die deutschen Gesetze rücksichtslos mit Füßen getreten und so auch in Deutschland eine barbarische Will- kürherrschaft etabliert wird. Seit sechs Jahren hat sich die deutsche Sozialdemokratie Jahr für Jahr mit irgendwelchen russi- schen Angelegenheiten zu befassen gehabt, bald hatten wir es mit der russischen Revolution selbst zu tun, die von 1904 bis 1906 unsere Hoffnung war, bald mit Hoch Verratspro- z e s s e n, bald mit Ausweisungsskandalen, bald mit Geheimbundsprozessen und anderen Liebedienereien *) 98. Von der durch die Steuer- und Zollpolitik hervor- gerufenen künstlichen Teuerung sämtlicher Lebensmittel, besonders durch den durch die skrupellose Raubpolitik der agrarischen Clique entstandenen Fleischwucher werden in erster Linie die Frauen der Arbeiterklasse getroffen. Der Parteitag beschließt deshalb, noch in diesem Herbst die proletarischen Frauen im ganzen Lande zu ener- gisthem Protest gegen die verbrecherische Politik aufzufordern. Zu diesem Zwecke sind öffentliche Frauenversammlungen zu veranstalten, für die eine umfassende Agitation entfaltet werden mutz. Der Parteivorstand wird beauftragt, ein Flugblatt heraus- zugeben, das sich besonders an die proletarischen Frauen richtet. Dieses Flugblatt wird den einzelnen Organisationen unentgeltlich geliefert. ") 75. Osthavelland : 1. Der Parteitag wolle gegen die infame Vergewaltigung Finnlands durch den Zarismus prote- stieren; dem um seine Freiheit und sein Recht kämpfenden finni- schen Volke seine brüderliche Sympathie aussprechen und ihm für diesen Kampf die opferbereite Unterstützung durch das klaffen- bewußte deutsche Proletariat zusichern. 2. Der Parteitag möge aufs schärfste dagegen protestieren, daß der russische Zar, der Mitschuldige an allen Gräueln und Infamien der Gegenrevolution, der Auftraggeber und Schirmherr der Azew, Harting und sonstigen Lockspitzelschurken, der Mitverantwortliche auch der neuen niederträchtigen Judenverfolgungen, das Haupt jener verbrecherischen Verschwörung gegen die finnische Freiheit und Selbständigkeit als gefeierter Gast den deutschen Boden hat betreten dürfen, und daß deutsche Beamte und Soldaten zum Schutze des gekrönten Verbrechers kommandiert, die Steuergroschen deutscher Steuerzahler für ihn verschleudert werden konnten und damit die Ehre des deutschen Volkes, das in seiner übergroßen Mehrheit diesen -Gast" verabscheut, tief herabgewürdigt worden ist. unserer Regierung gegen den Zarismus. Im vorigen Jahre ist der Zar durch Deutschland hindurch geflüchtet. In diesem Jahre müssen wir es erleben, daß der Zar von einem deutschen Fürsten in prunkvoller Weise empfangen wird, daß zu seinen Ehren beut- sches Militär und deutsche Polizei requiriert wird, daß zu Ehren des Repräsentanten des Systems, unter dem die Schändung der Spiritonowa die gesamte Kulturwelt empört hat, Ehrenjungfrauen aufgestellt wurden. Unter dem Schutze der deutschen Polizei bewegt sich der Zar so frei in Deutschland , wie er niemals in Rußland selbst sich bewegen kann. Weder in Frankreich , noch in Italien ist so etwas möglich, und daß in Deutschland der Mann, der in seinem eigenen Lande unstet, flüchtig hin und her reisen muß, sich allenthalben verbergen mutz wie ein Verbrecher, die Möglichkeit hat, sich frei und offen zu be- wegen, wie ein Mensch, der Anrecht auf die Achtung der Mitmenschen hat, das ist eine Schmach für Deutschland. (Sehr wahr!) Es ist eine ganz törichte Senti- Mentalität, den Zaren für persönlich unschuldig zu halten. Er hat sich bekanntlich ganz offen für die Schwarzhunderter ausge- sprachen, hat das Abzeichen der Schwarz Hunderter bis vor kurzem auf seiner Brust getragen.(Pfuirufe.) Bekanntlich hat F ü r st B ü l o w vom Verband echt russischer Leute ein Gratulationstelegramm bekommen, und Oldenburg -Ja- n u s ch a u ist von dem berüchtigten Purischkewitsch, dem Führer der Schwarzhunderter, als sein lieber Freund und Bruder be- zeichnet worden. Die russische Reaktion ist eben deutsche Reaktion, die zaristische Reaktion ist mit der borussischen Reaktion auf Gedeih und Verderb verbunden. Die russische Gegenrevolution hat zurzeit wieder einmal ganz besonders bösartige Dimensionen angenommen. Es wird mit Blut und Gewalt gearbeitet, wie niemals in früheren Jahren. Eins aber veranlaßt uns heute, ganz besonders unseren Protest mit aller Leidenschaftlichkeit zu erheben, als Pflicht der internationalen Solidarität des Proletariats. Das so außer- ordentlich sympathische f i n n i s ch e V o l k, so verdient um Kultur und Literatur, ist seit langer Zeit dem Zarismus ein Dorn ün Auge und ein Stachel im Herzen. Schon früher machte man den Versuch, dem finnischen Volke ein neues Militärgesetz ge- setzwidrig aufzuzwingen, das durch den W e h r p f l i ch t st r e i k abgeschlagen wurde. Dann kam die Reaktion, die durch die Namen P I e h w e und B o b r i k o w gekennzeichnet worden ist. Die Er- regung des finnischen Volkes gegen dies System gipfelte in �dem Attentat des S ch a u m a n n, dein der Terroroist Bobrikow (Sehr gut!) erlag. Das war eins der Signale der russischen Revolution, ein Signal, das in der ganzen Welt mit Freude begrüßt wurde. Dann trat eine Periode größerer Freiheit und Beweglich- keit für das finnische Volk ein. Nachdem aber die russische Re- volution niedergeworfen war, begann sofort wieder die Reaktion und der Kampf gegen die finnische Freiheit einzusetzen. Gesetz- widrig und verfassungswidrig wurde der finnische Senat m i t russischen Generälen und Admirälen besetzt und zum gefügigen Werkzeug des Zarismus gemacht. Und schließlich kam darin der berüchtigte Gesetzentwurf, den die russische Duma mit den Stimmen der Oktobristen und der Rechten annahm, in dem die gesamte Reichsgesetzgebung auch aus Finnland er- streckt w i rd. Der finnische Landtag hat erklärt, daß er hon Gesetzentwurf für ungesetzlich und Verfassungswidvig hält, und daß er es ablehnen müsse, ihn zu beraten und zu be- schließen. Damit ist die finnische Frage in ein akutes Stadium eingetreten. Die finnischen Genossen haben ein besonderes Recht darauf, daß wir in diesem Moment unseren Protest aussprechen gegen die verfassungswidrige Vergewaltigung des finnischen Volkes. 73 Etatposten für Kulturzwecke hat die russische Regierung aus dem finnischen Etat gestrichen, um Geld für das Militär f l ü sts i g z u machen. Vergessen wir auch nicht, daß Finnland Wohl die freieste Verfassung auf dem ganzen europäischen Kontinent hat, daß es ein glänzend organi- siertes Proletariat hat, daß eine gewaltige sozialdemokratische Fraktion in seinem Landtage sitzt, daß es eine Oase war bisher in der blutgetränkten Wüste der russischen Reaktion und ein Asyl für die russische Revolution. Die schnöde Behandlung der Proteste deutscher und auswärtiger Parlamentarier gegen die Vergewalti- gung Finnlands darf uns nicht abhalten, unsere Stimme immer und immer wieder zu erheben. Und wenn in Frankfurt und in Langen die deutschen Gesetze mit Füßen getreten werden, wenn versucht wird, die russische Willkürherrschaft auch in Deutschland zu etablieren, so haben wir gleich- zeitig mit ihr auch die preußische und die hessische Reaktion an den Pranger zu stellen. Unmöglich kann der Zarenbesuch in Deutschland noch weiter ruhig hingenommen werden. Die allgemeine Em- pörung des deutschen Volkes muß den Vertreter des verbrecherisch- steu Regierungssystems, das jemals auf der Erde herrschte, nötigen, den deutschen Boden ferner nicht mehr durch seine Anwesenheit zu besudeln.(Stürmischer Beifall-X Der Vorsitzende gibt darauf dem Vertreter der finnischen Bruderpartei, dem Genossen Wiik, das Wort. Wiik- Finnland : Ich überbringe Ihnen den herzlichsten Dank ter finnischen Bruderpartei dafür, daß Sie diese Frage auf Ihrem Parteitage hier erörtern. Wir Finnländer sind uns unserer Kleinheit und Schwäche genügend bewußt und sind für jede Sympathieäußerung des Auslandes dankbar. Besonders freudig berührt uns Ihr Interesse, die Sie an der Spitze der Jnter- nationale marschieren und die Sie die kleine Schar nicht ver- gessen, die im äußersten Norden Europas unter dem roten Banner kämpft. Wir führen einen schweren Kampf gegen die russische Reaktion. Von feiten der finnischen Bourgeoisie ist keine Hilfe zu erwarten, obwohl der russische Despotis- mus auch mit dem bürgerlichen Konstitutionalismus nicht verein- bar ist. Aber in wenigen Ländern ist die Sozialdemokratie so stark und der Klassenkampf so heftig wie in Finnland . Vor 10 Jahren gab es in Finnland nur drei wenig verbreitete Arbeiterzeitungen, heute zählt unsere Partei 70 900, die Gewerkschaften 30 000 Mitglieder. Wir haben 20 Zeitun- geil mit 40 000 und 10 Fachblätter mit 20 000 Abonnenten. Tausende von Arbeitern haben ungebeugt durch einen rasch empor- sprießenden Großkapitalismus und unter dem Druck alter feudaler Gesetze geknebelt, ein Ziel gefunden. Diese Tatsache schon mußte der Bourgeoisie unangenehm werden, die noch immer bestrebt war, die Fiktion der patriarchalischen Zustände aufrecht zu erhalten. Die Bourgeoisie hat sich den Generalstreik von 1905 zunutze ge- macht. Nach dem Siege über die russische Reaktion war es ihr unangenehm, wieder in einen neuen Kampf mit uns verwickelt zu werden. Wir weigerten uns, in die bürgerliche Regierung einzutreten und errangen bei den letzten Wahlen 4 0 Proz. aller Stimmen. Das zwang die Bour- geoisie, ihre Maßnahmen zu treffen. Die Folge war die Ver- söhnung der verschiedenen bürgerlichen Parteien, was noch zwei Jahre früher jeder bürgerliche Politiker für unmöglich gehalten hätte. Die Bürgerlichen kamen jetzt auch den Wünschen der russischen Reaktion entgegen. Die finnischen We- Hörden lieferten zahlreiche russische Revolutionäre den russi- schen Henkern aus. Wir allein protestierten dagegen. Erst in der letzten Zeit sind die Bürgerlichen wieder gezwungen worden, einen entschiedenen oppositionellen Standpunkt einzunehmen. Wir haben in Finnland zur Genüge erfahren, daß daS Parlament für die Befreiung des Proletariats nur in dem Maße von Bedeutung i st, wie das Proletariat außerhalb des Parlaments Kräfte zu dessen Unterstützung hat.(Sehr richtigl) Wir So­zialdemokraten haben eingesehen, daß der Konflikt mit der russi- scheu Regierung nicht zu vermeiden ist, denn er hat tieferv.ölono-