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\ auszulosen, ttmfo auch in der zweiten Lesung akge wiesen. Ein Antrag Groeber-Spahn lautete:Die Wahl der Schöffen soll auf Personen aller Berufsarten und Gesellschafts- t lassen gerichtet werden." Der Regierungsvertreter erklärte sich mit dem Sinn dieses Antrages einverstanden, wollte aber die Bestimmung nicht in das Gesetz übernommen sehen, da sich die Be- griffeBerufsarten" undGesellschaftsklassen" nicht klar genug umschreiben lassen. Nationalliberale und Konservative hielten die in dem Antrag ausgesprochene Forderung für so selbstverständlich, daß sie die gesetzliche Festlegung als überflüssig bezeichneten. Doch die Kommissionsmehrheit verlieh sich nicht auf dieseSelbstverständ- lichkeit" und nahm den Antrag Groeber mit 1b Stimmen an. Sodann verursachte der Vertreter des preuhischen Kultus- Ministeriums nochmals eine Debatte über die A u s f ch l i e h u n g de r Lehrer vom Schöffenamt. Der Negicrungsredner hielt die Interessen der Schule durch die Tätigkeit des Lehrers als Schöffen für ungeheuer gefährdet. Es war ungemein interessant, zu hören, mit welchem Eifer von dem preußischen Kultusvertreter auf die schon bestehenden Mängel im Volksschulwesen hingewiesen wurde, so daß eine weitere Beschränkung des Unterrichts nicht ein- treten dürfe. Die Polen nahmen auch in dieser Frage einen anderen Standpunkt ein als sie in der ersten Lesung vertraten, und von polnischerSeite wurde der Antrag auf Wiederherstellung der Regierungsvorlage gestellt, wonach die Volksschullehrer nicht als Schöffen zuzuziehen sind. In der Abstimmung wurde auch dies« Verschlechterung gegenüber dem Beschluß erster Lesung mit IS Stimmen angenommen. Für die dauernde Zurückstellung des Volksschullehrcrs hinter die Angehörigen anderer Werufsstände und Beamtcnkreife stimmten geschlossen die Konservativen, das Zentrum und die Polem Die iiiederlage derlfenbal)ner. Paris . 18. Oktober. (Eig. 35er.) Die Eisenbahner haben heute auf Weisung des Streik- komitees die Arbeit wieder aufgenommen. Die Lage zwang dem Komitee diesen Beschluß auf. Nicht etwa, daß der Streik, wie Briand geschwindelt hatte,virtuell beendigt" gewesen wäre. Wenn sich in den letzten zwei Tagen in Paris ein Ab- flauen bemerkbar gemacht hatte, so tvar der Ausstand in der Provinz stationär, ja in manchen Gegenden, so besonders an der Siidbahn. in entschiedener Ausdehnung. Trotzdem war eine Aussicht ans einen Sieg nicht mehr vorhanden. Die Weigerung der Regierung, mit den Streikenden in VerHand- lungen zu treten, denen sie durch die Einberufung geflissentlich den Stempel der militärischen Insubordination aufgedrückt hat; die flrupellose Parteinahme der Verwaltungsbehörden die Pariser Polizeipräfektur hatte gestern den Eisenbahnern bekanntgegeben, daß der Streik überhaupt nicht mehr bestehe und daß jeder Weiterstreikende unbedingt entlassen werden würde. DieN a t i o n a l i s a t i o n d e r E i s e n b a h n e n durchdiePolizei" nennt Jaurös treffend dieses System, wo die Präfekwr über die zu Soldaten gcnmchten Eisenbahner gebietet das Abführen der einberufenen Arbeiter durch Gcirdarmen, der gesetzlichen Einrückuizgsfrist zum Trotz: dann ganz besonders auch der Einfluß der infamen bürgerlichen Presse, die Verwirrung und Mutlosigkeit in die Reihen der Streikenden trug, all dieL wirkte zusammen, um die Kraft der mit großartigen! Elan, wenn auch vorzeitig begonnenen Bewegung zu brechen. Ueber die einzelnen Umstände dieser Niederlage wird noch zu sprechen sein. Welche Wirkungen sie haben wird, wird mau bald sehen. Das Streikkomitee hat sicher recht, wenn es die Verwirklichung der materiellen Verbesserungen, um derentwillen die Eisenbahner den Kampf unternommen haben, in feinem Manifest für eine nahe Zukunft voraussieht. Aber sehr wahrscheinlich ist, daß die Eisenbahner einen ernsten Kampf um ihrKoalitions. recht zu führen haben werden. Die Bourgeosie will ihre Beute ausweiden.«Es ist eine gewonnene Schlacht. In Frankreich , in ganz Europa , wird der Widerhall dieses Triumphs der republikanischen Ordnung ungeheuer sein". An diesem Jubelruf desTemps" mag man die Angst erkennen, die die Bourgeoisie in diesen Tagen ausgestanden hat. In ihrem Siegesgefühl aber glaubt sie den Feind dauernd nn- schädlich machen zu können. Die CrSme der republikanischen Bourgeosie, die imrepublikanischen Komitee des Handels, der Industrie und der Landwirtschast" vereinigt ist, fordert von der Regierung die unentbehrlichen Maßnahmen, um den normalen Gang der öffentlichen Dienste definitiv zu sichern und die Initiative im Vorschlag der notwendigen Ab» änderunge» der bestehenden Gesetze, um die Rückkehr solcher Wirren zu verhindern". DiesesKomitee Maseuraud" ist die Gesellschaft, der Briand in der vorigen Woche seine große Rede gehalten lmt. Er ist ihr Mann der ersehnteMan n". nach dem die um ihren Profit zittern- den Kapitalisten ausgeschaut haben. Briands Feldkriegsgerichte. Paris , 18. Oktober. (Eig. Ber.) Der Schnellbetrieb der bürgerlichen Justiz funktioniert jetzt vorzüglich. Schon geht die Zahl der Verurteilungen wegenVerletzung der Freiheit der Ar- beit" in die Hundertc. Die Strafen betragen im allgemeinen zwischen 14 Tagen und 2 Monaten, aber zu ihrer richtigen Würdi- gung mutz man erst wissen, daß es sich um Angeklagte handelt, denen keine Gewalttätigkeit vorgeworfen wird, sondern Worte oder Gesten, in denen die Phantasie und die Logik der Staatsanwälte und Richter eineEinschüchterung" erblicken. Dazu gehört z. B. daS Drohen mit dem Finger und ganz be- sonders die Notierung der Streikbrecher, die die Ver- trauensmänner zu Jnformationszwccken vorgenommen haben. Die Taxe der 8. Pariser Strafkammer dafür ist IS Tage Gefängnis. Hervorgehoben muh auch werden, daß die bedingte Ver° urteilung, die Betrügern und Zuhältern zugebilligt wird, für streikende und demonstrierende Arbeiter nicht besteht. Der Streik- brccher ist noch heiliger als das Eigentum. ES kommt indes vor, daß selbst die Richter die Zumutungen der Briandschen Polizei zu stark finden. Gestern waren zum Bei- spiel zehn Heizer des Edison-Werkes angeklagt, weil sie vor Ver- lassen der Werkstätte die Feuer ausgelöscht hatten. Der Polizei- kommissär fand, daS sei Sabotage und verhaftete sie. Der als Zeuge vorgerufene Direktor dcS Werkes aber erklärte lohalerweise, ihr Vorgehen sei ein einfaches Verlasse« der Arbeit. Und der Werkführcr fügte hinzu: Das Auslöschen geschah vorschrifts- m ätz ig, da sonst ein Unglück unvermeidlich gewesen wäre. Der Staatsanwalt wollte nun im Auslöschen der Feuer wenigstens eine Verletzung der ArbeitSsreiheit sehen, da die anderen Arbeiter infolge des NichlfunkiionierenS der Kessel nicht hätten weiter- arbeiten können. DaS Gericht fand jedoch diese Argumentation gar zu toll und sprach die Angeklagten frei. Tann würde ein anderer Angeklagter vorgekührt, den die Polizei wegen Tragens einer verbotenen Waffe ver- haftet hatte. Diese Waffe aber war ein Korkzieher! Und die Staatsanwaltschaft hatte die Kühnheit/ eine Verurteilung zu verlangen. Darauf gingen die Richter nun doch nicht ein. Be- zeichnend aber bleibt dieser groteske Fall für die Gewissenhaftig- keit, mit der die Polizei während des Streiks die Freiheit der Bürgergeschützt" hat. "»» Nach dem Streik. Paris , lg. Oktober. Ter plötzliche Beschlutz des Streikaus- Schutzes, die Arbeit im vollen Umfange wieder aufzunehmen, hat unter vielen Eisenbahnern großen Unwillen hervorgerufen. Viele bezeichnen die Haltung des Ausschusses als Verrat. Sie erklären. daß sie ihre Mobilmachungsbefehle zerrissen und infolge dessen ernste militärische Strafe zu gewärtigen hätten. Bei einer einzigen Versammlung, die gestern abend in der Arbeitsbörse stattfand, sind, wie es heitzt, zweitausend Gestellungsbefehle zerrissen worden. Briand und Millerand haussuchen nach Entschuldigungen für ihr Vorgehen! Paris , 19. Oktober. Im Laufe des Vormittags fanden bei W Mitgliedern der revolutionären Kampforganisation der Syndi- kalisten und der Eisenbahner Haussuchungen statt nach Beweis- stücken für die Voruntersuchung wegen der auf den Bahnen be- gangenen Sabotage. Es wurde aber kein belastendes Schriftstück gefunden. Paris , 19. Oktober. Diese Nacht und heute früh hat die Polizei 49 Haftbefehle und Haussuchungen bei Revolutionären und Anarchisten ausgeführt. Die gesamten oberen Polizeibeamten sind im Laufe der Nacht nach der Präfektur befohlen worden, wo ihnen die notwendigen Befehle" zuerteilt worden sind. Die Verhaf- tungen beziehen sich meist auf die Organisatoren, welche angeblich die Attentate auf die Eisenbahnen veranlatzten. llioadit in Bremen . Man schreibt uns aus Bremen unter dem 18. Oktober: Wie ich Ihnen schon kurz telegraphisch mitteilte, ist es hier anläßlich des Stratzcnbahnerstreiks zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Die Streikbrecherkolonnen sind in den beiden Depots in Walle und in der Stbatze Am Haferkamp einquartiert. Bereits in den Frühswnden des heutigen Tages standen Arbeiter in größerer Zahl vor dem Logis. Gegen nachmittag wurde die Menge immer größer, und um 7 Uhr, als ich auf den Schauplatz kam, machte die Polizei die ersten Attacken. In der Nähe des Haferkamp, auf dem großen freien Platz vor der Schule an der Nordstraße, dem sogenannten Spielplatz, hatte sich eine große Zahl Neugieriger angesammelt. Ich stand ganz in der Nähe des in der an den Platz angrenzenden Wartburgstraße postierten Schutzmanns- aufgebots. Plötzlich zog die Schutzmanuschaft blank angeblich war ein Stein geworfen worden. Ich habe nichts gehört oder gesehen, obgleich ich ganz in der Nähe stand. Außer ganz vereinzel- ten Rufen und Pfiffen, die man hörte, verhielt sich die Menge in diesem Moment ganz ruhig. Nun hieben die Beamten auf die Menschen ein. Mit hochgeschwungenem Säbel und einer wahren Berserkerwut stürzten sie sich auf die Menge. Ich ging denAtta k- k i e r e n d e n" nach und als die meisten der Beamten bereits wieder zurück waren, sah ich einen Beamten, noch immer mit dem Säbel herumfuchtelnd, auf dem Platz. Ich ging auf ihn zu und sagte: Mann, was ist denn loS? Warum haben Sie denn den Säbel gezogen?" Der Beamte sah mich groß an und es kam mir vor, als wenn er sich erst besinnen mußte, was ich wollte. Dann steckte er den Säbel ein und ging zurück. Gleich darauf hörte ich in der Nähe eine Frau schreien. Sie hatte ruhig auf dem Trottoir gestanden, als drei Schutzleute kamen, sie packten und die wehrlose Frau hin und herzerrten und schließlich nach dem Polizeibureau brachten. Alle, die diesen Akt mit ansahen, waren entrüstet. Sie versicherten, es sei geradezu unmenschlich gewesen, wie die Beamten die Frau behandelten. Eine andere Frau, die mit ihrem Manne ruhig ihres Weges ging, und zwar sich vom Schauplatz entfernend, wurde ohne Anlaß mit dem Säbel bearbeitet, trotz ihres Jammern?. Als bei einer weiteren Attacke die Fliehenden in eine Wirtschast liefen, folgten die Beamten und rissen die Gäste auf die Straße. Ein höchsten» siebenjähriger Junge wurde von zwei Beamten mit der Plempe bearbeitet. Eine Frau wurde aus ber- selbe» Wirtschaft von Beamten herauSgeschleift nnd ge° schlagen. AIS ich im Vertrauen auf meine Legitimation ruhig in der Haustür eines Zigarrenladens stand, ritz ein Schutzmann mich am Mantel und verlangte, daß ich herauskommen sollte. Der Hinweis ans meine Legitimation nützte nichts, und nur dem Mn- greifen ber Hausbewohner, die mich zurückrissen, habe ich es zu verdanken, dah ich mit heiler Haut davon gekommen bin. An der Ecke der Nord- und Hansastratze hieben vier Schutzleute so lange auf eine Frau ein, bi» sie zusammenbrach. Man ließ sie liegen und stürmte weiter zu neuen Heldentaten. In einer Wirtschaft, worin keine Gäste mehr waren und die bereits geschlossen war, verlangte ein Polizeioffizier mit S Schutzleuten Einlaß. Ms der Mrt auf- schloß, fielen sie über ihn her und fragten ihn w«S er im Lokal wolle! Die Frau, die hinter dem Ladentisch stand, wurde mit der blanken Waffe bedroht. Der 14jährige Dohn, der Lehrling bei der Aktiengesellschaft Weser" ist und die Treppe hinauf in seine Kammer flüchtete, wurde von den Rasenden verfolgt und mit dem Säbel bearbeitet. Die Menge war natürlich auch nicht untätig. Bereits um 9 Uhr waren die Laternen in der Nordstratze von Kahrwegs Asyl an bis fast zur Bremerhavener Straße sämtlich zertrümmert. Nach meinen Informationen sind zirka 39 Schwerverletzte mittels Sani- tätswagen nach dem Krankenhaus geschafft. Darunter soll ein sijähriger Junge sein, dem durch einen Säbelhieb die Schädeldecke gespalten ist. Wie ich höre, haben auch im Vorort Walle schwere Zusammenstöße stattgefunden. An dem dortigen Depot sollen samt- liche Scheiben eingeworfen sein, und die Polizei soll ebenso gehaust haben wie in der Stadt. Als ich um 12 Uhr denKriegsschauplatz" verließ, war die Ruhe ziemlich wieder eingekehrt. Uebrtgens haben die Streikenden heute einen Ausflug in» Oldenburgische gemacht. Man kann ihnen also nicht etwa die Ausschreitungen anhängen. » Die angebahnten Verhandlungen in Sachen des Straßenbahuer- streik« in Bremen sind wiederumnichtzu stände gekommen. Nicht nur die Straßenbahndirektion, sondern auch die AufsichtS- behördc weigert sich, den Transportarbeiterverband irgendwie anzu- erkennen. Nicht einmal soll gestattet werden, daß Vertreter des Verbandes bei den Verhandlungen zugegen sind. Darauf wollen sich die Straßenbahner nicht einlassen, denn hinter diesem starr ablehnenden Standpunkt der genannten Körperschaften steht nichts anderes, als der scharfmacherische Versuch, den Angestellten das Koalitionsrecht zu nehmen, wie es ju Hannover bereits ge- schehen ist. Bremen , 19. Oktober. (Privattelcgramm desVorwärts".) In der heutigen Bürgcrschaftssitzung wurde der Antrag unserer Ge- Nossen betr. Einschreitens der Polizeidirektion, die Gesellschaft zur Erfüllung ihrer kontraktlichen Verpflichtungen an- zuhalten, verhandelt. Nach auSsührlicher Begründung durch den Genossen Rhein wurde die Direktion von bürgerlicher Seite in Schutz genommen, sofort Schluß beantragt und angenommen. Rur unsere Genossen stimmten für den Antrag. politische Gebcvficht Berlin , den 19. Oktober 1919. Herr v. Jagow in London . Herr von Jagow, Polizeipräsident von Berlin , hält sich zurzeit mit einigen anderen hohen Beamten in London aus, um wenngleich das eigentlich in Anbetracht seiner emi- nenten Kenntnisse und vielseitigen Befähigung ganz un- nötig ist die Verkehrsverhältnisse Londons und die Ein- richtungen der Londoner Polizei gründlich kennen zu lernen. Die englische Presse hat es sich nicht nehmen lassen, diesen für sie h ö ch sl interessanten Mann interviewen zu lassen, und Herr von Jagow hat sich denn auch herbeigelassen, einem Vertreter derM o rn i n gp oft" seine tiefgründigen An- sichten über das Polizeiwesen im allgemeinen und die Ber - liner Polizeiverhältnisse im besonderen darzulegen. Nach einem telegraphischen Bericht des«Verl . Lokalanz." sagte Herr von Jagow:. In großen Städten wie Berlin und London müsse die Polizei seiner Meinung nach nicht unter der Stadtverwaltung, sondern unter der Zentralregierung stechen.Ich erinnere mich eines griechischen Zitates," fuhr Herr von Jagow fort,ich glaube aus der Jliade des Sinnes, daß im Falle von Ruhe« störungen es ein übles Ding sei, zweierlei Be« Hörden zu haben, damit stimme ich vollkommen überein. Ich habe 8909 Mann unter mir. fast alles Unteroffiziere, die wenigstens neun Jahre in der Armee gedient, gehorchen gelernt haben und andere Personen im Zaume halten können. I n der Tat bilden sie ein Elitekorps, und ich kann ihnen absolut vertrauen. Eine ihrer Aufgaben ist die Rege- lung des Straßenverkehrs." Herr von Jagow sprach dann davon, was er in dieser Beziehung bereits Rühmenswertes in London gesehen habe, meinte aber, der hiesigen Polizei käme dabei die größere Bereitwilligkeit der Kutscher und Fuhrleute zu statten. In Berlin gehorchten diese Leute nur unwillig, oft gar nicht. Polizisten würden mitunter von Wagen umgerannt. Leider seien die hierauf bezüglichen Strafver- ordnungenzumilde. Mit Bezug auf die Moabiter Unruhen äußerte Herr von Jagow, dah die Berichte darüber wohl übertrieben waren. Die Krawalle könnten nicht von langer Tauer sein, meinte er, denn die Berliner seien ein sehr nüchternes und vernünk- tiges Volk, und Barrikaden wären seit 1843 außer Mode gekommen.Die Berliner sind stolz auf ihr Vaterland und ihren Kaiser und König, aber wenn Leute hungrig sind, verlieren sie manchmal den Ko p f. Tasselbe kann hier in London oder irgendwo anders passieren. Niemand be« dauert so sehr wie ich. daß englische Journalisten dabei ver« wundet wurden, aber sie begaben sich selbst indre gefährdete Zone; sie befanden sich zwischen erregten Strei- kern und der Polizei, und die Polizei wurde mit Steinen und Flaschen beworfen.' Was die Engländer zu dieser Polizetwelsheit sagen werden, wissen wir noch nicht. Vielleicht werden sie von ihrem Standpunkt aus die Ansicht, die Polizei der großen Städte müsse verstaatlicht werden, für w e st k a I m ü ck i s ch halten. Tatsächlich ist ja auch in manchen Fällen kalmückisch und preußisch so ziemlich dasselbe. Möglicherweise werden sie sogar die klassische griechische Bildung des Herrn von Jagow bewundern, der seine Polizeiansichten aus den Werken Homers begründet. Freilich handelt es sich an der Stelle, die allem Anschein nach Herr von Jagow meint(Jlias, zweiter Gesang, Vers 202206), nicht um die Polizei und auch nicht um einen Fall von Ruhestörung, sondern um die Frage, ob die Vielherrschast oder die Einherrschaft nützlicher sei, heißt es doch dort: Niemals frommt Vielherrschaft ein Volk; nur einer sei Herrscher, Einer König «llein, dem der Sohn des verborgenen KronoS Szepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei Doch so genau kommt es ja bekanntlich nach Berliner Polizeibegriffen auf die Richtigkeit nicht an.... Auch die Versicherung, daß die Berliner Polizei em aus ehemaligen Korporalen zusammengesetztes Elitekorps sei, und die englischen Journalisten ihre Vermöbelung selbst verschuldet hätten, da sie sich, wenn anch mit polizeilicher Erlaubuks, m diegefährdete Zone", das heißt indiev ander Polizei gefährdete Zone gewagt hätten, wird sicherlich den Eng- ländem sehr imponieren, wenigstens wenn sie Verständnis für unfreiwilligen Humor besitzen. Weniger dursten die Aeußerungen des Herrn von Jagow seinen agrarischen Freunden gefallen. Ihre Presse sucht mit dem Aufgebot der skrupellosesten Lügen zu beweisen, daß die Moabiter Krawalle von der Sozialdemokratie verschuldet seien, die feit Jahren durch ihre Agitation die Bevölkerung der ärmeren Stadtteile iöerlins zur Roheit, Unbotnmßigkeit, Zuchtlosigkeit, Skandaliersucht, Messerstecherei usw. erzogen habe und nun kommt Herr von Jagow, der Leiter der Ber - liner Polizei und erklärt das 3Zerliner Volk für nüchtern und vernünftig. Und außerdem nennt er gar noch als Motiv der Unruhen den Hunger, scheint also ber antiagrarischen Auf- fassung zu sein, daß in letzter Instanz die Wirtschaftspolitik der Konservativen durch ihre Verteuerung der notwendigsten Lebensmittel schuld an den Moabiter Krawallen ist! Armer Jagow, Du hast Dir eine schöne Suppe einge- brockt!___ Muam enique. Die Schutzleute, die bei den Moabiter Straßenkrawallen be- sonders tapfer eingehauen haben, sollen sür ihre Verdienste um das preußische Staatswohl königlich belohnt werden. Wie dieKieler N. Nachr." melden, sind dem Kaiser vom Berliner Polizeipräsidium über 89 Schutzleute und 7 Polizeioffiziere zur besonderen Aus- Zeichnung in Vorschlag gebracht worden. Da die Schutzleute, die über die vier englischen Journalisten hergefallen sind, trotz de» bekannten Spürsinns der Berliner Polizei noch immer nicht ermittelt sind, können sie leider nicht dekoriert werden, obgleich sie doch mindesteiiS den roten Adler vierter Güte daS bekannte Ehrenzeichen genügt nicht- verdient haben. Stichwahltaktik. Der Abgeordnete Albert Traeger veröffentlicht imPester Lloyd" einen Artikel, in dem er sich mit der Staatsphilosophie Bcthman des Dunklen von Hohenfinow und den nächsten Reichstagswahlen beschäftigt. Er kommt zun) Schluß auf die Stichwahlfrage zu sprechen und empfiehlt gegenseitige Unter« stützung der LinkSliberalen und der Sozialdemokraten bei den Stichwahlen: Bei den bevorstehenden Wahlen werden nach allen Anzeichen erst die Stichwahlen die Entscheidung und da» eigentlich« Gesicht des Reichstage» zur An» schauung bringen. Große Erwartungen werden auf ihn gesetzt, da» Volk begehrt mit stürmischem Verlangen, aus der qualvollen Ungewißheit des Hängens und Bangens, durch ein«»ndgüllige Entscheidimg erlöst zu werden, sein« Rechte anerkannt und verwirklicht zu sehen, der schmählichen Aushungerung ein Ziel gesetzt zu wiss«,. DaS Boll schrie nach