erste Artikel sei Von Dal, sei geschrieben worden, andere öon Dietrich; er selbst habe den Artikel„Frau Wolf Wcrtheim und der Haupt- man» von Köpenick " geschrieben und sich darin gewiß nicht mit Unrecbt gegen die befremdcirde Tatsache ausgesprochen, daß Frau Wolf Wertheim für einen solchen Zuchthäusler, wie es der Haupt- mann von Köpenick doch gewesen, eine Dotation ausgesetzt hatte. Eine ganze Zeitlang seien Angriffe über Wertheim überhaupt nicht erfolgt, im Gegenteil mehrere ganz sympathische Artikel. Wenn nun etwa acht Tage nach dem letzten dieser sympathischen Artikel Herr Wolf Wertheim als neuer Besitzer des Passage-Kauf- Hauses Inserate an die„Wahrheit" aufgab, so kann das doch un- möglich als Ausslutz einer Furcht vor Angriffen aufgefaßt werden, sondern jeder seiner Bekannten hatte im Gegenteil angenommen, daß Herr Wolf Wcrtheim aus Freude über die ihm sympathischen Artikel die Inserate aufgegeben habe. Der„Wahrheit" konnte diese Aufgabe von Inseraten um so weniger auffallen, als das Passage-Knufhaus auch unter dem vorigen Regime schon immer inseriert hatte. Klebinders Entschuldigung. Nach einer kurzen Pause teilt der Borsitzende mit, daß vom Zeugen Klebinder eine Depesche etwa folgenden Inhalts einge- gangen sei:„War über Nacht außerhalb, komme eben nach Hanse, öffne Ladung, stehe auf telephonischen Anruf sofort zur Ver- fügung."— Bors.: Das ist doch eine etwas merkwürdige Sache Ganz abgesehen davon, von wem Herr Klebinder Nachricht von dem gegen ihn gerichteten Beschlutz des Gerichts erhalten hat, liegt doch die Tatsache vor, daß der Postbote auf der Ladung ver- zeichnet hat:„am 1. November selbst dem Adressaten in der Woh- nung übergeben."(Heiterkeit.)— Der Gerichtshof beschließt, den Zeugen Klebinder telephonisch zu zitieren. HintzeS Entschuldigung. Alsdann erscheint der Schutzmann Guthein, der zu dem aus- gebliebenen Zeugen Hintze geschickt war und berichtet unter lieber- reichung eines vom 5. Februar 1910 datierten kreisärztlichen Attestes: Herr Hintze ist krank, außerdem aber nicht zu Hause. (Heiterkeit.) Nach der Mitteilung des Hintzcschen Geschäftsführers liege noch ein anderes Attest vom Ib. Oktober yor, das er bei sich trage.(Heiterkeit.) Nach dem überreichten Attest ist Herr Hintze zuckerkrank und leide an Fettherz. Außerdem habe er schwere Angst- und Zwangszustände zu überwinden, könne keine Straßen- breite überschreiten, habe Furcht vor großen geschlossenen Räumen, ZwangSangst vor gerichtlichen Prozeduren usw. Bors.: Wenn der Zeuge ausgeht, kann doch die Platzangst nicht so erheblich sein. Charakteristisch ist, daß er das Attest vom 15. Oktober als vorsichtiger Mann immer bei sich trägt! Ich denke, wir lassen es bei dem Beschlüsse des Gerichts, den Zeugen zwangs- weise vorführen zu lassen. So lassen wir denn doch nicht mit uns spaßen! Der Staatsanwalt ist auch der Meinung, daß der Gerichts- beschluß aufrecht erhalten bleiben solle. Der Schutzmann wird mit dem Auftrage entlassen, Herrn Hintze vorzuführen. ES folgt alsdann die Verlesung der verschiedenen längeren und kürzeren Artikel der„Wahrheit' über das Thema Wertheim . Klebinder erscheint. Während der Verlesung erscheint plötzlich der Zeuge Journalist Ludwig Klebinder. Er behauptet, daß er zwar die Ladung zum Termin schon gestern abend erhalten, sie jedoch erst heute vormittag geöffnet habe. Hintze erscheint. Inzwischen erscheint auch der Zeuge Karl H. Hintze in Bc- gleitung seines Hausarztes, des Nervenarztes Dr. Warnte, im Ge- richtssaal. Dr. W. teilt dem Staatsanwalt mit, daß H. in der Lage sei, sich in seiner Gegenwart jetzt vernehmen zu lassen. Das Gericht beschließt auch die sofortige Vernehmung Hintze». Bors.: Weshalb sind Sie unserer Ladung nicht, gefolgt?— Zeuge Hinbe: Ich bin krank. — Vors.: Ebenso wie Sie jetzt ,n Be- glcitung Ihres Arztes an Gerichtsstelle erscheinen, konnten Sie doch wohl auch eher in Begleitung erscheinen. Haben Sie dem Journalisten Klebinder das Material zu dem Artikel in der„Wahr- heit" gegeben?— Zeuge: Nein. Der Herr Klebinder hat sich unter dem falschen Namen Binder bei mir eingeschlichen und hat mich ausgehorcht. Hätte ich gewußt, daß daraus ein Artikel entstehen würde, so hätte ich natürlich nichts gesagt, denn daraus entstehen bloß alle möglichen Zänkereien. Die Journalisten unter sich zanken sich ja heute und morgen vertragen sie sich wieder. Binder hat dann einfach einen Artikel daraus gemacht und mich am Neujahrsmoracn noch angeklingelt und mir dies mitgeteilt. Ich sagte dem Klebinder gleich: Mensch, sind Sie denn verrückt geworden'? Ist das vielleicht eine Neujahrsgratulation?(Heiterkeit.) Ich teilte darauf sofort meinem Rechtsanwalt Dr. Rosenstock mit, was Binder für einen „Quatsch" gemacht hatte. Mir selbst war es sehr unangenehm, daß mein Name in der„Wahrheit" genannt worden war. Ich erhielt bald darauf mehrere anonyme Karten, in welchen mir gesägt wurde, ich solle doch ein paar Inserate aufgeben, dann sei die Sache er- ledigt. Ich habe dann auch ein Inserat über die Schiedmayer Pianinos aufgegeben. Ich ging dabei von der Ansicht aus, daß man natürlich als Inserent mehr Entgegenkommen findet. Ich hoffte, daß eine Besprechung erscheinen würde, natürlich nicht eine solche, wie die etste. Ich werde doch keinem Menschen Inserate geben, wenn ich wüßte, daß ich nachher angegriffen werde.— Angeklagter Wilh. Brnhn: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß in dem Artikel nicht Sie, sondern Frau Berg-Lindemann angeulkt werden sollte?— Zc-ze: Jawohl. Ich wurde in dem Artikel nicht ange- griffen, mir was es jedoch trotzdem unangenehm, daß mein Name genannt worden war. Auf direkte Anfrage des Staatsanwalts erklärt Zeuge Hintze, daß er sich durch Bruhn nicht für bedroht gefühlt hat, er habe es als selbstverstäudlich vorausgesetzt, daß Zeitungen, in denen man inseriert, keine Angriffe gegen den betreffenden Inserenten ver- öffentlichen, ehe sie ihn nicht um eine Erklärung ersucht haben.— Ter Zeuge betlagt sich weiter darüber, daß seine Gegner aus Brot- neid alles mögliche in Bewegung setzen, um ihn zu schädigen und seinen Verdienst zu untergraben. Sein Umsatz betrage IMi Millionen, d. h. mehr als der Umsatz der gegen ihn vorgehenden Kon- kurrenten zusammen genommen. Die Artikel in der„Wahrheit" seien ihm„unangenehm", wenn auch nicht gerade bedrohend ge- Wesen; er habe geglaubt, durch die Inserate zu erreichen, daß die „Wahrheit" ebenso, wie andere Zeitungen, in denen er viel iuse- riere, bei solchen Angriffen der Konkurrenz ihn erst befrage, was daran wahr sei. Der Gerichtshof hebt die über den Zeugen ver- hängte Ordnungsstrafe wieder auf. Ludwig Klebinder unauffindbar. Als sodann der Zeuge Klebinder vernommen werden soll, meldet er sich auf den Aufruf nicht. Der' Gerichtsdiener ruft wiederholt seinen Namen mit lauter Stimme aus, der Zeuge ist aber im Gerichtsgebäude nicht aufzufinden. Die zum Falle Wertheim vorgeladenen Zeugen sollen auch heute entlassen werden, weil die Verlesung der Artikel noch geraume Zeit in Anspruch nehmen werde. R.-.A Dr. Schwindt: Nach meiner Kenntnis der Akten möchte ich anregen, ob denn die Verlesung all jener Artikel überhaupt nötig ist. Ich würde vorschlagen, doch zunächst einmal Herrn Wolf Wertheim zu hören und dann werde sich ergeben, daß seine Aus- sage die Behauptung der Anklage, daß er erpreßt werden'sollte, nicht stützt. Wenn dieser Belastungszeuge erklärt, daß er sich nicht durch Drohungen zu Inseraten veranlaßt gesehen hat, so erübrigt sich doch wirklich die Verlesung dieser Artikel.— Bors.: Der Zeuge hat dies aber in der Boruntersuchung mit dürren Worten ausge- sagt. Deshalb müssen wir uns durch Kenntnisnahme der Artikel selbst ein Urteil bilden. Tie Zeugen für den Fall Wertheim werden hierauf bis heute 10 Uhr entlassen. Die Verlesung der Wertheim -Artikel beginnt sodann. Nach der Verlesung einiger Artikel geben die Verteidiger an- heim, von dein Sachverständigen Dr. Liman einen kurzen Bericht über die übrigen zu den allgemeinen Kritiken über das Warenhaus Wertheim gehörigen Artikel entgegenzunehmen und dann einige Artikel zu verlesen, die speziell Herrn Wolf- Wertheim betreffen.— Der Angekl. W. Bruh» hält diese Verlesung für-durchaus not- wendig, um die Ansicht der Anklage zu widerlegen, daß auf der dritten Spalte der„Wahrheit" immer solche Angriffsartikel mit erkennbarem Zweck veröffentlicht worden seien. Die Verlesung soll heute fortgesetzt werden. Der Vorführungsbeschluß gegen den Zeugen Ludwig Klebinder wird vom Gerichtshof aufrechterhalten. Der Vorsitzende macht wiederholt darauf aufmerksam, daß nach dem Gange der Verhandlung eine Beendigung des Prozesses vor frühestens Mittwoch nächster Woche nicht zu erwarten ist. Nach 3 Uhr wird die Sitzung auf heute 9�> Uhr vertagt. Gericdts- Reitling. Dienstbotenelend und Junkcrschmach. Dieser Tage fand vor dem Amtsgericht Berlm-Mitte ein Prozeß statt, dessen Verhandlung die völlige Schutzlbsigkeit des Gesindes gegen die Preisgabe ihres Körpers an die Söhne ihrer Herrschaft klarlegte. Das Dienstinädchen Anna K. klagte gegen den Sohn ihrer früheren Herrschaft S i m o n L ö b e l, D i r ck s e n st r. 33. auf Zahlung von Alimenten. Das völlig unerfahrene Dienstmädchen ivar mit 16 Jahren von Schlesien nach Berlin gekommen und trat bei den Löbelschen Eheleuten in Dienst. Der Beklagte, ein Sohn der Dienstherrschaft, stellte dem unerfahrenen, kaum den Kindcsjahren entwachsenen Mädchen nach, erbrach das Schloß der Tür zum Mä d chenzimm er gewaltsam und nahm dem Kinde seine weibliche Ehre. Die Frau erhielt von dem Verhältnis Kenntnis. Sie schützte das Mädchen nicht, schalt es Vielvehr. Diese Scheltworte schüchterten das junge Ding vollends ein. Sie war nun den Nachstellungen beider Kinder ihrer Dienstherrschaft gegew über willenlos. Als sie im März sich Mutter fühlte, mußte sie die S t e l l u n g v e r l a s f e n. In dem Termin beschwor der jüngere Sohn der früheren Herrschaft des Mädchens, Adolf Löbel, daß er in der Empfängnis eit ebenso wie sein Bruder init dem ädchen verkehrt habe. Eine Zeugin konnte dies aus eigener Wahrnehmung bestätigen. Der Vor mund nahm darauf die lediglich auf die Tatsache der Schwängerung gestützte Klage zurück, da leider ja nach dem Gesetz der Einwand, daß innerhalb der Empfängniszeit mehrere mit der Mutter verkehrt haben, die auf die Beiwohnung gestützte Klage hinfällig macht. Das Mädchen ist nun dem Elend preisgegeben— dank dem„patriarchalischen Schutz", den die Gesindeordnung ihr verheißt und der sie tatsächlich zur willenlosen Beute der beiden Söhne ihrer Dienstherrschast gemacht hat. Ob eine Klage gegen die beiden mn derjährigen Söhne der Dienstherrschaft Erfolg haben würde, die sich darauf stützt, daß diese jungen Herren die Unerfahrenheit und Schutzlosigkeit des Kindes in der schmählichsten Weise ausgebeutet haben, dürfte dem Rechtsgefühl entsprechend zu de- jähen sein. Eine andere Frage ist die, ob im Rechtscin und Rechtbekommen für ein Gesinde in Deutschland gleich- bedeutend ist. Die Dienstherrschaft hätte sicherlich die moralische Verpflichtung, zumal sie wohlhabend ist und einen gutgehenden Stand in der Z e n tr a l m a r kt- Halle hat, dem Mädchen und dem Kinde des Mädchens Unterhalt in vollstem Maße zu gewähren. Hierzu dürfte sie auch nach dem Gesetz verpflichtet sein, da sie verpflichtet ist, das Dienstmädchen vor den Nachstellungen der Hausangehörigen zu schützen. Aber freilich, leider gilt hier, was vor hundert ahren der Minister Suarez im Hinblick auf die preußische lesindeordrnmg erklärte: daß im Zweifel der Richter sich immer auf die Seite der Herr- schaft stellen werde. Leider steht der von uns geschilderte Fall keineswegs vereinzelt da, sondern ist geradezu typisch für die Wirkungen unserer Gesellschaftsordnung und der Gesindeordnung. Wie tief stehen die Junker und Junkergenossen und die anderen Stützen der heutigen Gesellschaft, die beim Anblick des jannnervollen Resultats ihres Wirkens pharisäisch ausrufen: Warum hat sich das Kind verführen lassen, warum ist das schutzlose Kind den ssiachstellungen der Söhne der reichen Dienstherrschaft erlegen? Mag sie für sich selber sorgen I Ohne Vernichtung der politischen Herrschast der Junker und Jnnkcrgenofsen, die bei Beratung des Bürgerlichen Gesetz- buches die Schmach der Gesindeordnungen und den schmäh- lichen Einlvand aufrecht erhielten, der Schwängerer braucht nicht zu zahlen, wenn noch ein anderer in der Empfängnis- zeit der Mutter beigewohnt hat, ist eine Aenderung auch dieser zum Himmel schreienden Zustände kaum möglich. Möge der geschilderte Fall dazu beitragen, die Erkenntnis von der Notwendigkeit des Kampfes für eine andere Gesellschafts- ordnung weiter zu verbreiten. Der dolose Teckel. Wegen fahrlässiger Körperverletzung hatte sich der Eigen- tümcr August Blödow aus Kaulsdorf vor dem Schöffengericht in Lichtenberg zu verantworten. Das Haus des B. wird von zwei alten Teckelhunden bewacht. Dem Polizridiener NeprajewSki, der im selben Hause wohnte, schenkten sie keine besondere Auf- merksamkeit. Blödow kündigte dem Polizeidiener die W»hnung aus einem Grunde, mit dem die Teckel nichts zu schaffen hatten. Trotzdem sollen die Teckel nach der Kündigung in ihrem Per- halten dem Polizeidiener gegenüber wie umgewandelt gewesen sein. Einer derselben biß den N., als er in Zivilkleidung über den Hof ging, in die Hosen und in eine» von den Hosen bedeckten Fleischteil. Diesen Vorfall meldete der Polizeidiener dem Amt. Auf dem Amt wurde in diesem Tatbestand ein Kriminalfall er- blickt. Der Teckel konnte nicht angeklagt werden, alldieweil das Strafgesetzbuch noch nicht so weit vorgeschritten ist. Hunde zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen und der Nachweis eines Dolus gegen den Teckel noch viel mehr Schwierigkeiten als gegen einen Beamten bereitet hätte. Also wurde— gegen den Eigentümer des Hundes Anklage erhoben. Er soll sich strafbar gemacht haben, weil er den Teckel nicht an die Kette gelegt hatte, wiewohl er wußte oder wissen mußte, daß das Tier bissig sei. Im gestrigen Termin vor dem Lichtcnberger Amtsgericht führte Blödsw gegen die eigenartige Anklage aus, er sei nicht strafbar; für Kaulsdorf bestehe kein Maulkorbzivang, weswegen der 12 Jahre alte Teckel gebissen habe, könne er nicht angeben. In seinem nachdenklichen Leben habe das brave Vieh sich stets freundlich und gesittet be- nommcn und auch dem Polizeidiener gegenüber bis zu dem Tage der Tat mit völliger Nichtachtung beobachtet. Der Teckel wurde vor Gericht nicht vernommen, konnte deshalb auch über die Gründe der plötzlichen Anziehungskraft der Hosen auf ihn Auskunst nicht erteilen. Trotzdem beantragte der Amtsanwalt eine Geldstrafe von 15 M. Er vertrat die Ansicht, die Hunde hätten, da sie bissig wären, an der Kette liegen müssen. DaS Gericht kam zur Frei- sprechung dcS Angeklagten . Begründend wurde ausgeführt: Der Angeklagte konnte nicht ahnen, daß die Viecher, die sonst dem Polizcidiener aus dem Wege gingen, nach der Kündigung einen Angriff auj ihn machen würden. Der Teckel hat nach dem Vorfall eifrig Rechtsstudien getrieben. Er ist zu dem Ergebnis gekommen: Die Sache war ja nur ein Zibilrechtsfall; es hätte ein Straffall daraus nicht gemacht werden sollen. Im unklaren ist er aber darüber geblieben, weshalb Polizeihunde, die auf Menschen gehetzt werden, nicht auf die An- klagebank kommen, sondern meist die Gebissenen. Er wird noch lange studieren können, ohne im Gesetz Aufschluß zu finden: Im Gesetz ist diese Bevorzugung von Polizeihunden nicht zu entdecken. Den Schlüssel zu dem Rätsel gibt der Satz: Macht geht vor Recht. Versammlungen. Erster Wahlkreis. Der Sozialdemokratische Wahlverein für den 1. Berliner Reichstagswahlkreis hielt am Dienstag in den Festsälen„Zentrum". Niederwallstraße, eine Generalversammlung ab. Der 3. und 4. Punkt der Tagesordnung: Vortrag des Genossen Düwell über: „Die politische Lage", und Aufstellung des Kandidaten zur Reichs- tagswahl wurden zuerst erledigt. In einem fesselnden Vortrag schilderte der Genosse Düwell die politischen Zustände in Deutsch - land und ihre wirtschaftlichen Ursachen sowie die Entwicklung der politischen Lage seit den Hottentottenwahlen von 1907. Im Ver- gleich mit anderen Kulturländern erscheint Deutschland außer- ordentlich rückständig in politischer Hinsicht; es gleicht gewissermaßen einem erweiterten Gutsbezirk. Wenn das deutsche Volk noch nicht die Kraft gewonnen hat, mit diesen Zuständen aufzuräumen, so liegt das zu einem großen Teil an dem KonfcssionalismuS auf reli- giösem Gebiet. Heute noch sind Millionen Arbeiter auS Welt- anschauung Gegner der Sozialdemokratie. Wer die gemischt kon- fessionellen Gegenden Deutschlands kennt, wer dort aufgewachsen ist, der weiß, welche Macht die Kirche hier noch über die Leute aus- übt.— Aus eigener Erfahrung schildert der Redner, wie die pro- testantischen und katholischen Schulkinder gegen einander aufgehetzt wurden, sodaß sie sich förmlich tagtäglich Schlachten lieferten, wie sie so belehrt wurden, daß sie gelegentlich einmal die Türen einer Kirche zertrümmerten, die Fenster einwarfen, weil diese Kirche durch Andersgläubige entweiht worden sein sollte.— Infolge der religiösen Vorstellungen von der ewigen Seligkeit und der ewigen Verdammnis hat das Zentrum noch eine solche Macht, daß es ruhig die Interessen seiner Wählermasscn verraten kann, ohne daß der Zentrumsturm ernstlich ins Wanken gerät. In früheren Jahren kämpfte diese Partei in Westdeutschland, wo das Kapital sich in liberalen Händen befindet, noch gegen den„gottlosen" Kapitalismus , während es allerdings im Osten des Reichs den katholischen Kapi- talismuS den Arbeitern gegenüber als die gottgewollte Ordnung pries. Aber heute hat die Zentrumsdemagogie auch in Westdeutsch- land den Kampf gegen das Großkapital eingestellt, nachdem die Großindustriellen es auch aufgegeben haben, das Zentrum zu be- kämpfen. Sie haben es als die sicherste Partei für den Hochschutz- zoll und zur Niederhaltung der Arbeiter in der Bedürfnislosigkeit und in blindem Gehorsam erkannt. Seit den Wahlen von 1907, wo es Bülow zwar nicht gelang, das Zentrum zu erschüttern, wohl aber der Sozialdemokratie eine Reihe von Mandaten abzunehmen, haben die Nachwahlen bewiesen, daß unsere Partei gewaltige Fortschritte macht. Daß die Sozialdemokratie bei den 16 Nachwahlen 9 Man- date gewann, und mehr noch, daß sie einen Stimmenzuwachs von 32 000 zu verzeichnen hatte, gibt den kapitalistischen Parteien Per- anlassung. auf die Durchführung von Arbeiterknebelungsgesetzen zu sinnen. Zu dem Zweck möchte man da? Spießbürgertum gegen die organisierte Arbeiterschaft aufhetzen und eine ähnliche Stimmung hervorrufen wie 1878 oder wie zur Zeit der SeptennatSwahlen. Da kamen die Vorgänge in Moabit den Herrschaften wie gerufen. Die Gegner sind an der Arbeit, die Arbeiterschaft niederzuschlagen, nicht aus irgendwelchen ideellen Gründen, sondern infolge ihrer mate» riellen Interessen. Die Situation bildet eine glänzende Rechtferti- gung der dialektischen und historisch-materialistischen Erklärung der Arbeiterbewegung. Aus der ganzen wirtschaftlichen Entwick- lung heraus zeigt es sich, daß wir sehr schweren Konflikten ent- gegengehen. Ein verkehrter Optimist ist, wer jetzt noch glaubt, daß wir sanft wie auf geölten Schienen in den Zutunftsstaat hinein- rutschen. Der Aufprall der Klassengegensätze mutz immer schärfer werden. Aber wir haben deswegen keinen Grund zu enter pesst» mistischen Ausfassung der Lage, tm Gegenteil: wir können konsta» tieren, daß die Sozialdemokratie immer mehr vorwärtsschreitet. Auch die Großindustriellen sind von dem endlichen Sieg der Sozial- demokratie überzeugt, aber sie wollen das Heft natürlich so lange in Händen behalten wie nur irgend möglich, und sie sind ent- schlössen, zu diesem Zweck auch die äußersten Mittel anzuwenden. Wir stehen vor großen Ereignissen und Konflikten, und es fragt sich nun, ob das Proletariat reif ist für diese Kämpfe. Der nächste Reichstag wird, wenn er nicht ein vorzeitiges Ende erreicht, sich mit der Verlängerung der Handelsverträge zu befassen haben. Wenn es nun auch nicht zu erwarten ist, daß aus den nächsten Wahlen ein freihändlerischer Reichstag hervorgeht, so müssen wir doch dahin wirken, eine Mehrheit zu erreichen, die an dem Abbruch des Schutz- zollsystemS arbeitet. ES wird notwendig sein, das Kleinbürgertum aufzuklären, das noch jetzt in seiner politischen Unwissenheit die Preissteigerungen als eine Folge von Erhöhung der Arbeiterlöhne ansieht und kein Verständnis für die Wirkungen der internationalen kapitalistischen Verbindungen hat. Unbeschadet unserer Grundsätze können wir versuchen, diese Leute zu gewinnen. Neben der Be- tonung unseres Endziel» können wir ruhig die Forderung erheben: „Zurück aus Caprivi!" gegenüber der Losung der agrarischen und industriellen Schutzzöllner:„Hinauf zu'Kanitz!" Unter allen Umständen aber werden wir die Fahne unseres Endziels hochhalten. Es kann bei uns von einer blinden Feind- schaft gegen den Kapitalismus nicht die Rede fein. Der Kavita- lismus hat eine Kulturmisfion zu erfüllen und er hat sie erfüllt. Er hat die geistigen und physischen ArbeitSmöglichkeiten gewaltig gesteigert und sie in den Dienst der Gütererzeugung gestellt. Er ist nun soweit gekommen, daß er in Widerspruch mit sich selbst geraten ist. Wenn früher Hungersnot herrschte, so laa das daran. daß die Erzeugung oder Herbeischaffung der notwendigen Güter nicht möglich war. Aber heute herrscht der wahnsinnige Zustand, daß Produkte im Ucbermahe hergestellt und aus fernsten Ländern herbeigeschafft werden können, und daß dennoch die Bevölkerung zeitweilig der bittersten Not ausgesetzt wird, weil der Kapitalismus seine Maschine stillstehen läßt. Mit allen den gewaltigen Pro- duktivkräften, die der Kapitalismus geschaffen hat, können wir uns eine Gesellschaftsordnung vorstellen, welche die Menschheit auf eine ganz andere und viel höhere Kulturstufe hebt. Aber die Scharf- macher versperren uns das Tor und werden die Maschinengewehre auffahren lassen, wenn wir uns davor stellen wollten. Der Kampf, der uns bevorsteht, wird viele und schwere Opfer kosten, aber wenn das Proletariat diese Opfer nicht bringen wollte, wäre eS nicht wert, das hohe Ziel zu erreichen. In den schweren Kon- flikten der Zukunft muß jeder von uns es sich zur Pflicht machen, das Banner der Freiheit und deS Sozialismus Hochzuhalten in Kampf und Sieg.— Der Vortrag fand lebhaften Beifall. Zur Diskussion wurde daS Wort nicht gewünscht. Zur Aufstellung deS Kandidaten zur ReichstagSwahl berichtete der Vorsitzende Genosse T ä t e r o w, wie sich die Ge- nosien in den Zahlabcnden sowie der Vorstand eingehend mit der Kandidatenfrage befaßt haben. Der Vorstand hat dann eine Unter- kommission zur Prüfung der verschiedenen Vorschläge eingesetzt und ist schließlich zu dem Entschluß gekommen, den Genossen Düwell, Redakteur des„Vorwärts", als Kandidaten zu empfehlen. Dieser Vorschlag wurde dann auch von der Kreiskonferenz ein» stimmig gutgeheißen.— Wie der„Vorwärts" schon mitteilte. nominierte dann auch die Generalversammlung den Genossen Düwell einstimmig zum Kandidaten des Kreises. Hierauf gab Genosse T ä t e r o w seinen Bericht über den internationalen Kongrest in Kopenhagen . Der Redner schilderte in großen Zügen die Eindrücke, die er in der dänischen Haupt- stadt empfangen hatte, die' Arbeitsmethode deS Kongresses sowie die Bedeutung der gefaßten Beschlüsse. Der Redner, der auch zw Jahre IM dev Kongreß in Paris beigewohnt hat, konnte sest»
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