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Nr. 165.

Erscheint täglich außer Montags. Breis pränumerando: Viertel­jährlich 3,30 Mart, monatlich

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Vorwärts

10. Jahrg.

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Bolksblatt.

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Der Schluß der Session

ist 12 Tage nach dem ersten Zusammentreten des neuen Reichstages erfolgt. Unter diesen 12 Tagen sind vier Feier tage und ein Sonntag, so daß die Session in Wirklichkeit genau 7 Tage gedauert hat.

Sonntag, den 16. Juli 1893.

Durch seine Opposition gegen den Militarismus hat das deutsche   Volk, nachdem es Jahrzehnte lang im Molochs­dienst seine Kulturmission schnöde vergessen hatte, sich würdig erwiesen, an der Spize der Zivilisation zu marschiren". Wir werden unser Volk weiter anfeuern im Kampf gegen den Militarismus; wir werden verhindern, daß die Frage Und in dieser kurzen Session, der kürzesten, die( außer zur Ruhe kommt; wir werden fortfahren, den Vorkampf der rein formalen Session, welche die Ratifikation des spa- zu führen in dem Bewußtsein, daß jeder Schlag, der den nischen Handelsvertrages zum Zwecke hatte) der deutsche Militarismus trifft, auch ein Stoß ins Herz des Kapitalis­Reichstag jemals gehabt hat ist die Militärvorlage an- mus ist, der ihn erzeugt hat und ohne ihn nicht mehr genommen und dem deutschen   Volk eine neue Last aufgelegt leben kann. worden, so schwer, daß sie den alten, schon schier unerträg­lichen Lasten hinzugefügt, entweder das Rückgrat des Volkes brechen muß oder seine Geduld.

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Wir werden die Zeit bis zur nächsten Seffion gut aus­nußen. Und tritt der Reichstag   im Herbst wieder zusammen und gilt es, die nöthigen Deckungsmittel für die Militär­Zu langen Debatten fehlte die Neigung. Und das war vorlage zu beschaffen, dann wird sich uns neue und beste wenigstens ein Gutes. Das Thema der Militärvorlage Gelegenheit bieten, die Gemeinschädlichkeit und Kultur­war in der vorigen Session und während des Wahl- Feld- widrigkeit des Militarismus den noch nicht ganz aufgeklärten zuges nach der Auflösung des vorigen Reichstages so gründ- Massen zu vollem Verständniß zu bringen, und den Haß lich behandelt worden, daß Neues nicht mehr zu sagen war, und Abscheu der aufgeklärten noch mächtiger auflodern zu und das ganze Interesse sich von vorn herein auf die Ab- machen. stimmung richtete, die das Ergebniß der letzten Wahl zum Ausdruck zu bringen hatte.

Für keinen, mit den Personen und Dingen einigermaßen Vertrauten konnte nach dem Bekanntwerden der Stichwahl­ziffern ein Zweifel bestehen, daß die Vorlage eine wenn auch fleine Majorität finden würde.

Die Militärvorlage ist angenommen! Nieder mit dem Militarismus!

Eine gleich große- oder kleine ja eine größere Die Sozialdemokratie und die

letzte Wahl.

I.

Majorität wäre aber schon im alten Reichstage zu finden gewesen, hätte die Regierung den Kuhhandel" etwas ge­schickter betrieben und hätte sie am 6. Mai gesagt, was ste am 15. Juli bezüglich der zweijährigen Dienstzeit sagte Die Erfolge der Sozialdemokratie bei der letzten Reichs­( Worte sind ja billig wie Brombeeren). Und da der kleinen tagswahl liegen unseren Gegnern schwer in dem Magen. Majorität von Abgeordneten, die der Regierung die Und es ist ergöglich anzusehen, welche Anstrengungen die Militärvorlage apportirt hat, eine entschiedene Majorität Herren machen, um das Publikum und sich selber über die des deutschen   Volkes gegenübersteht, wie die Wahlstatistik Thatsachen und deren Bedeutung zu täuschen, und im Punkte des 15. Juni 1893 unwiderleglich beweist, so ist die Reichs- der Selbsttäuschung hat das deutsche Bürgerthum es bes regierung, auch speziell in bezug auf die Militärvorlage, fanntlich zu einer wahren Virtuosität gebracht. So jezt in einer weniger günftigen Situation als im Anfang ziemlich alles abgeschmackte und boshafte Beug, das in Mai dieses Jahres, wo man noch behaupten konnte, die bezug auf unsere Partei über die letzte Wahl ausgeheckt Majorität des deutschen   Volkes sei für die Militärvorlage. worden ist, findet sich zusammengefaßt in einem Leitartikel Das kann heute, ehrlicher Weise, fein Mensch mehr der Kölnischen Zeitung  ", den wir zur Erbauung und Be behaupten. Und überdies ist die Thatsache nicht aus der Welt zu schaffen, daß die klägliche Majorität für lehrung unserer Leser veröffentlichen wollen. Er ist betitelt die Militärvorlage durch den schmählichen Verrath eines" Die Aussichten der Sozialdemokratie" und lautet: halben Duzends Polen   und einer gewissenlosen Klique vou Demagogen zu Stande tam, die ihre Mandate durch Er­klärungen gegen die Militärvorlage erschlichen haben.

So hat der Reichstag  , indem er die Militärvorlage annahm, sich in Widerspruch mit dem ausgesprochenen Willen der Mehrheit des deutschen   Volkes gesetzt. Und wir, die intransigenten, prinzipiellen Feinde des Militaris­mus, wir haben das erhebende Gefühl, nicht blos die Interessen des deutschen   Volkes zu vertreten, sondern auch die Majorität des deutschen   Voltes hinter uns zu haben.

Feuilleton.

Nachbruc verboten.)

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Wenn man heute die sozialdemokratischen Blätter liest, so findet man in ihnen nur Kundgebungen der Freude über die bei den Wahlen errungenen Erfolge und den Ausdruck zuver­fichtlicher Hoffnung, daß es bei fünftigen Wahlen nicht nur ebenso, sondern- im sozialdemokratischen Sinne noch besser gehen werde. Nun soll feineswegs in Abrede gestellt werden, daß die Sozialdemokratie Siege erfochten hat, die vom bürgerlichen Standpunkt höchst betrübend sind; es muß ferner zugestanden werden, daß ihre Organisation sich so gut bewährte, daß an ein Zusammenbrechen in absehbarer Zeit nicht wohl gedacht werden kann; und endlich ist auch nicht zu übersehen, daß ein großer Theil der von den Konservativen an die Antisemiten abgegebenen Stimmen aller Wahrscheinlich­

thümlichen Gegensatzes für ihn eine Quelle neuer und starker Empfindungen. Hier erhielten seine alten, tief ein­gewurzelten Ueberzeugungen den ersten heftigen Stoß. Er wurde zum Denten angeregt und gezwungen, in die Tiefen seines Innern prüfend hinabzusteigen. Ein neues kräftiges

Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.

feit nach berufen ist, später die Stimmen der Sozialdemokratie zu verstärken. Trotzdem find Anzeichen vorhanden, daß die Sozialdemokraten mit den Wahlen vom Jahre 1893 auf dem Gipfelpuntt ihrer Entwicklung angekommen sind, und daß man in Zukunft eher auf eine Abwärtsbewegung als auf ein Steigen rechnen darf. Obgleich die Sozialdemokraten das natürlich nicht aussprechen, so giebt es doch viele unter ihnen, die diese Ansicht theilen, und zwar auf grund folgender Betrachtungen. Bei den meisten frühern Wahlen hatte die Partei in der Regel im wesentlichen ihren Besihstand zu be haupten vermocht, und es hatte den Anschein gewonnen, als ob ein einmal der Sozialdemokratie verfallener Kreis ihr auch un­wiederbringlich gehöre. Diesmal ist es nun aber den bürgerlichen Parteien gelungen, sie aus verschiedenen Kreisen hinauszuwerfen, und das bisweilen unter Verhältnissen, die für die Sozial demokraten so günstig lagen, wie sie vielleicht nicht wieder­tehren werden. Wir erinnern nur daran, daß theils politische Verbissenheit, theils die Gleichheit der Wahlparole, gegen das Militärgeset" Mitglieder anderer Parteien in vielen Fällen verleitet hat, entweder den Gegner des Sozialdemokraten nicht mit aller Kraft zu unterstützen oder sogar für einen Sozial­demokraten einzutreten. Da sie trotzdem diese Kreise nicht be= haupten konnten, so kann man das als einen Beweis ansehen, daß ihre Entwickelungsfähigkeit an diesen Orten auf dem Gipfelpunkt angekommen ist, und daß sie in Zukunft Stimmen über das jetzt Erreichte hinaus nicht mehr werden aufbringen fönnen. Und daß die Sozialdemokraten alles, was sozial­demokratisch ist, an die Wahlurne gebracht haben, darüber kann niemand im Zweifel sein. Weitaus bedenklicher noch als diese Erwägung ist aber für die Sozialdemokraten folgende. Es ist nicht zu leugnen, daß in vielen Kreisen unserer Bevölkerung eine recht starke Unzufriedenheit herrscht, die nach einein möglichst kräftigen Ausdruck rang. Theile ist es die schlechte wirthschaftliche Lage, die diese Unzufriedenheit geschaffen hat, theils find es besondere Umstände, die erbitternd gewirkt haben, theils endlich sind es unpopuläre Gesetze, deren Ein­wirkung namentlich auf den kleinen Bürgerstand sich sehr deutlich zeigte. Wir erwähnen hier nur das Klebegesez, dessen Ausführungs- Bestimmungen sich gar keiner Beliebtheit erfreuen, und das Gesetz über die Sonntagsruhe und die Handels­verträge, welche sonst ganz ruhige und ordentliche Leute über die Maßen aufgebracht haben. Alle diese unzufriedenen Elemente suchten, wie gesagt, nach einem möglichst starken Ausdruck für ihre Unzufriedenheit, und sie glaubten ihn in furzsichtiger Verblendung nicht selten am besten dadurch zu finden, daß sie ohne weiteres für die Sozialdemokratie ein traten, obgleich sie sich nicht im entferntesten zu den sozial­demokratischen Lehren bekennen. Wie stark der Prozentsaz dieser der Sozialdemokratie zugefallenen Stimmen ist, kann mit auch nur annähernder Bestimmtheit nicht festgestellt aber wenn werden, man gewisse Vorgänge, nament­lich in Berlin  , beobachtet, so muß man zu dem Schlusse gelangen, daß er nicht unerheblich gewesen sein kann. Von allen Seiten hört man, daß nicht nur einzelne Personen, die mit der Sozialdemokratie auch nicht das mindeste zu thun haben, sondern daß auch zusammenhängende Gruppen ge­schloffen für deren Kandidaten eintraten. Wenn nun einerseits die Folge davon ein Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen war, so hat dieser Stimmenzuwachs andererseits auf die Sozialdemokraten den Eindruck gemacht, daß sie nicht mehr unter sich sind, und man konnte unter ihnen die Besorgniß äußeru hören, daß die revolutionäre Arbeiterpartei im Begriff

des Volkes vertheidigte, wenn er einen der Grundsätze, die dem Alten so theuer waren, angriff, dann widersprach der greise Sozialist in der heftigsten Weise. Dann raste auf seinen Gegner ein wahrer Orkan unvorhergesehener Argu­mente, packender Worte, beredter Wendungen hernieder. Er schien ihn dann förmlich unter der Wucht seiner Worte Die feurige Beredtsamkeit Vater Deschamp's schien zu Boden beugen und zermalmen zu wollen. Dann brauchte unermüdlich. Sein ganzer Körper, sein Verstand schienen, nur ein freundschaftliches Wort zu fallen und plötzlich wenn er in seiner lebhaften Weise sprach, unausgesetzt zu wurde er sanfter und ruhiger, und von dem heißen Streit arbeiten. In gewissen Womenten war man versucht, seinen noch innerlich glühend, reichte er seinem Gaste die bebende Worten nicht zu glauben, wenn er behauptete, den Muth Hand.

Die Bekehrung André Savenay's. Innenleben erſtand in ihm.

Sozialistischer Roman

von Georges Renard.

Autorisirte Uebersetzung von Marie Kunert  .

André erwiderte nichts. Aber er mußte sich gestehen, verloren zu haben und von den Träumen seiner Jugend Die Diskussion hörte auch gewöhnlich an einem Punkte daß es etwas anderes bedeutet, diese Leute mit Oftentation längst zurückgekommen zu sein. Immer wieder kam das nur auf, um auf einen anderen überzugehen. So veranlaßte zu unterstützen, als sie soweit zu bringen, daß ihnen keine alte jugendliche Feuer in ihm zum Durchbruch. Die Bes die Erbschaftsfrage einen langen Redekampf. Stüße der Welt mehr nöthig wäre. Er fühlte, daß es geisterung von 1848 stieg ihm noch immer von Zeit zu Zeit nicht darauf anfam, die Armuth zu unterstützen, sondern sie zu Kopf. Und dann trug ihn die Kraft seiner Zuversicht aufzuheben. Er sagte sich, daß die wahre Wohlthätigkeit über die Gegenwart hinweg in die Zukunft, oder es erfaßte diejenige ist, welche daran arbeitet, sich überflüssig zu ihn auch ein heiliger Zorn gegen die Ungerechtigkeiten der Gegenwart.

machen.

Sehen Sie," sagte Water Deschamps, wie das Prinzip des Erbrechts mit der Zeit immer mehr an Strenge nachließ. Jahrhunderte lang war der, welcher in Schande gerieth, auch der Enterbte. Sogar der Sohn eines gericht­Bu gleicher Zeit betrieb er seine sozialistischen Studien Man mußte es einmal mit anhören, wie er gegen lich Bestraften war verachtet und enterbt wie sein Vater. mit großem Eifer, und er fand eine Art bitteren Ver- die Ausbeuter donnerte. Er verkündete im Anschluß daran Dann sah man ein, daß das ein Unrecht war. Man begriff, gnügens daran, aus den Salons, in denen es von Seide den bevorstehenden, unvermeidlichen Zusammenbruch der Ge- daß ein Bergehen nur an dem Thäter bestraft werden müsse. rauschte und von Lichtern glänzte und funkelte, in das sellschaft. Jede Regierung," sagte er, tödtet sich selbst Man fing auch an zu begreifen, daß Ehren, Aemter, bescheidene Stübchen unter dem Dache zu flüchten, wo durch die Uebertreibung ihrer Grundsätze. Die Bourgeoisie Titel u. s. m. ebenso nur auf Lebenszeit zuerkannt werden er auf einem Rohrstuhl neben dem kleinen Kamin- wird an dem Mißbrauch des Geldes sterben. Sie wird an müssen wie das Verdienst. In fünfzig Jahren wird alle feuer plauderte und die Gluth schürte, so daß Feuer- der durch den Kapitalismus hervorgerufenen Fäulniß zu übertragbar sind wie der Adel." Welt begreifen, daß Geld und Reichthum ebenso wenig und Gedankenfunken zugleich aufsprühten. Hier in diesem Grunde gehen."

bescheidenen Heim fühlte er sich wohl; hier genoß er das André hörte ihm mit Interesse zu: er empfand einen André schüttelte den Kopf. Er war unruhig, erregt, für ihn so seltene Vergnügen, frei vom Herzen weg zu gewissen Respekt vor der freien Originalität dieses Geistes, aber sein Geist sträubte sich gegen diese kühnen Schlüsse. sprechen. Er gab sich ganz dem intimen Reiz hin, den man der sich ganz allein gebildet hatte, vor dieser Herzensgüte, Durch sein Mitleid für die Armen und Zurückgesezten, empfindet, wenn man dieselben Möbel und dieselben Per- welche soviel Enttäuschungen nicht verbittern konnten. Be durch sein angeborenes Gerechtigkeitsgefühl fühlte er sich sonen immer wieder auf dem alten bekannten Blaze findet. sonders bewunderte André die jugendliche Lebendigkeit des zum Sozialismus hingezogen. Die Furcht, in utopistischen Und dennoch war diese ruhige Stätte infolge eines eigen- Alten; und in der That, wenn André irgend einen Feind Grübeleien aufzugehen oder zu schrecklichen, gewalt­