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1. Beilage zumVomiirts" Berliner Volksblatt. !lr. 190. Dienstag, den 13. Angust 1893. 10. Jahrg. Internationaler ArdeitevKougreß in Zürich  . Erklärung. Am 10. August Abends hat in Berlin   eine Versammlung der Anarchisten und Unabhängigen stattgefunden, in welcher nach Zeitungsberichten ein Brief des Anarchisten Landauer verlesen wurde, welcher von den größten Unwahrheiten über Vorgänge auf dem hiesigen Kongresse strotzt. Zur Steuer der Wahrheit erklären wir: 1. Es ist eine Unwahrheit, wenn Landauer behauptet, daß Singer, der an jenem Tage Präsident des Kongresses war,Ge- waltthaten" gegen die Vertreter der Anarchisten und Unabhängigen veranlaßt habe. Die Anarchisten und Unabhängigen haben die ihnen wider- sahrene Behandlung durch ihr ungezogenes Benehmen provozirt. Singer als Präsident wurde von den durch die Anarchisten ec. provozirten Skandalvorgängen ebenso wie der itongreß über- rascht und sah sich gezwungen, eine viertelstündige Unterbrechung der Sitzung eintreten zu lassen. Erst nachdem eine Anzahl Delegirter vergeblich versucht hatte, die Störenfriede zu be- schwichtigen, hat Singer aus Anfrage eines Mitgliedes des Züricher   Organisationskomitees, was nun geschehen solle, die Weisung erlheilt, die Ruhestörer zu entfernen. 2. Es ist weiter eine Unwahrheit behauptet, Bebel habe ge- äußert: es sei doch nöihigenfalls für handfeste Leute gesorgt. Eine solche Bemerkung in dem von Landauer behaupteten Sinne ist nicht gefallen, sie konnte nicht fallen, weil sie unsinnig gewesen wäre. Es lag�für eine solche Aeußerung eben so wenig ein Grund vor,»vie für die dritte Behauptung Landauer's, daß deutsche  Delegirte den Polizeidirektor Vogelsanger zum Schutz gegen die Anarchisten und Unabhängigen angerufen hätten. Es wäre in der That der Gipfel der Lächerlichkeit gewesen, wenn aus der großen Majorität des 5kongresses heraus solche Schritte gemacht worden wären. Mit den 10 Mann Anarchisten und Unabhängigen fertig zu werden, dafür bedurfte es wahr- haftig keiner Anstrengungen. Die grenzenlose Anmaßung, durch welche die Herren Anarchillen und Unabhängigen sich überhaupt auszeichnen,� ward auch auf dem hiesigen Kongresse bestätigt, und wenn sie dafür in ungewöhnlicher Weise behandelt wuroen, so bedauern wir das im Interesse unserer Sache, aber ver- dient haben die Herren die ihnen gewordene Behandlung im vollsten Maße. Zürich  , den 12. August 1893. Bebel. Fischer. Singer, W. Liebknecht. »» Zürich  , 11. August 1893. Neunte Sitzung. Freitag Nachmittag.(Schluß.) Baudervelde(Belgien  ) begründet die bereits gestern mit- getheilte Resolution zu der Frage der Taktik der Sozial demokratie. Vandervelde  (Belgien  )(Uebersetzung von Liebknecht  ): Ter Kommission haben viele Vorschläge vorgelegen, ich will die nicht berühren, welche nicht in der Resolution Aufnahme ge sunden haben, erwähnen will ich nur, daß der detaillirte Vor schlag Allemane's bezüglich der direkten Gesetzgebung nicht des- halb aufgenommen worden ist, weil er ans prinzipielle Gegnerschaft gestoßen, sondern weil er in der Form über den Rahmen einer solchen Resolution weit hinausging. Dann lagen noch zwei Re- solutionen der Holländer vor, die eine Stellung zu den Anarchisten, die zweite Stellung zum Staatssozialismus nehmend. Auf den ersleren Punkt sind wir deshalb nicht eingegangen, weil durch die Haltung des Kongresses unsere Stellung zu den Anarchisten bereits scharf umgrenzt ist; auf den zweiten Punkt gingen wir deshalb nicht ein, weil diese Resolution nur in deutscher Sprache vorgelegen hatte und deshalb nicht diskutirt werden konnte und weil andererseits diese Frage wichtig genug ist, um den nächsten Kongreß zu beschäftigen. Die Resolution wurde sodann in ihrer gegenwärtigen Fassung einstimmig angenommen. Es wurde festgestellt, daß die parlamentarische Taktik nur ein Mittel zum Zweck sein könne, der Hauptzweck ist die Emanzipation des Proletariates, aber um dies zu erreichen, sind auch andere Mittel nolhwendig als der Parlamentarismus allein, vor allem auf dem Gebiet der Gewerkschaftsbewegung und der Organisation des klassenbewußte» Proletariates. Die Gewerk- schastsbewegung ist selbst bei einer starken politischen Agitation durchaus unentbehrlich, denn ohne eine vollkommene Arbeiter- Organisation ist es unmöglich, die Durchführung der Arbeiter- schutz-Bestimmungen zu überwachen. Jeder Arbeiter muß«in eigener Fabrikinspektor sein, das kann er aber nur sein, wenn eine starke Organisation hinter ihm steht Die Gewerkschafts- bewegung steht in derselben Reihe mit der politischen Aktion. Es wäre demnach verkehrt, wollte man die eine oder die andere Thätigkcit in den Hintergrund drängen; so können wir auch den Standpunkt nicht billigen, die politische Vethätigung zu gunsten der Gewerkschaftsbewegung vollständig zu vernachlässigen. Wir fordern vielmehr durch unsere Resolution die Arbeiter aller Länder ans, von ihren poli- schen Rechten Gebrauch zu machen, wo sie dieselben besitzen, sie mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote stehen, zu erobern, wo sie sie noch nicht besitzen aber nur zu dem Zwecke, sich die poli- tische Macht zu erobern zur Befreiung des Proletariates von der Herrschaft des Kapitalismus.   Es ist geltend gemacht worden, daß die Arbeiterschutz-Gesetze nichts schützen, daß sie den Arbeitern nichts nützen und daß es demgemäß nutzlose Mühe sei an der Ausgestaltung der Arbeiter- schntz-Gesetzgebung mitzuarbeiten. Demgegenüber aber steht doch das Zcugniß der englischen Gewerkschaflsbewegung. Durch ihre Agitation für die Zehnstundenbill ist es gelungen, eine physische und moralische Hebung der Arbeiterklasse anzubahnen; aber das ist gerade das, was wir von der Arbeiterschutz-Gesetzgebung wollen. Wir verkennen nicht die Gefahren der Korruption durch den Parlamentarismus, da zu den unnatürlichsten Kam- promissen, selbst zum Prinzipienverrath führt. Aber diese Ge- fahr der Korruption liegt nicht im Parlamentarismus selbst be- gründet, sondern darin, daß die Parlamente sich in der Hand der Bourgeoisie besinden, gelangen die Parlamente erst in die Hand des befreiten Proletariats, so ist der Korruption die Wurzel untergraben. Weil wir aber die Gefahren des Parlamentarismus in der bürgerlichen Gesellschaft erkennen, haben wir gewisse Garantien gestellt, indem wir verlangen, daß diejenigen Arbeiter- Vertreter, welche in die Parlamente kommen, gewisse Bedingungen erfüllen. Sie dürfen im Klassenkampf unter keinen Umständen außer Auge lassen, daß keine Kompromisse mit bürgerlichen Parteien eingegangen werden dürfen, durch welche auch nur ein Tüpfelchen von dem Klassencharakter des Proletariats verloren gehen könnte. Nur so kann der Sieg des Proletariats erzielt werden, wenn nicht der Kapitalismus vernichtet zu Boden ge- schmettert wird, kann das Proletariat nicht triumphiren; aber jeder Kompromiß hält die Vernichtung des Kapitalis- mus auf. Freiheit> Gleichheit Brüderlichkeit diese Forderung hat die heutige Gesellschaft schon aufgestellt. Aber diese Drei- einigkeil ist in der heutigen Gesellschaft nur eine Lüge. Die einzige Partei, welche diese Worte verwirklicht hat und auch nur verwirklichen kann, ist die Partei des Proletariats Gleich­heit in den wirthschaftlichen Verhältnissen alles dessen, was Menschenantlitz trägt, Brüderlichkeit in der moralischen Welt. Die Frage der Kompromisse und Alliancen hat in der Kom- Mission zu heftigen Debatten geführt, aber man gelangte schließ- lich zu voller Einigkeit. In denjenigen Ländern, in welchen die proletarischen Parteien voll entwickelt sind, wo die Parteien stark dastehen, bedeutet jeder Kompromiß einen Verrath an der Arbeitersache; aber es wurde in der 5kommission geltend gemacht, daß in den Landern, in welchen die Arbeiterparteien wenig stark entwickelt seien, wo das allgemeine Wahlrecht nicht vorhanden ist, das strikte Verbot jedes Kompromisses mit bürgerliche» Par- teien den Arbeitern die Hände fesseln würde. Deshalb hat sich die Mehrheit der Kommission entschlossen, an diese Länder eine gewisse Konzession zu machen, indem sie die Alliancen mit bürgerlichen Parteien den Arbeitern nicht vollständig verboten hat, aber unter der ausdrück- lichen Bedingung, daß durch einen solchen Komvromiß nicht die geringste Konzession gemacht werden dürfe, welche von den Prinzipien der Arbeitersache auch den kleinsten Theil ver- wischen würde. Hier ist es nun Sache der einzelnen Nationen, dafür zu sorgen, daß diese Bestimmungen überall befolgt werden. Das Proletariat ist eins in allen Ländern in seinem Kampfe gegen den Kapitalismus. Daß dieser Kampf weit länger sein wird, weit furchtbarer und mehr Opfer erfordern wird, als je die Klassen- kämpfe zuvor, das wissen wir lange, und auch das wissen wir, daß der politische Kampf wie der wirthschastliche manche Ent- täuschung bringen wird und es kann auch keinem Zweifel unter- liegen, daß die Machtsrage nicht auf dem Boden der Parlamente entschieden werden wird, denn die Parlamente, wie sie heut existiren, fälschen den Willen des Volkes. Um die Gesetzgebungs- Maschine möglichst in Uebereinstimmung mit dein Willen und den Bedürfnissen des Volks zu bringen, um den Widerspruch zwischen dem Willen des Volkes und den Beschlüssen der Parlamente zu beseitigen, um den jungen Bronnen der Volkssouveränetät zu stärken, sind wir in der Kommission übereingekommen, die Ein> führung der direkten Gesetzgebung, des Vorschlags- und Vev werfungsrechtes durch das Volk anzustreben: Wir haben es ja erst vor kurzem in Deutschland   gesehen, wie die Parlamente den Willen des Volkes fälschen und zwar erst letzthin bei den Wahlen Das Volk erklärte sich gegen die Militärvorlage, das von dem Volke gewählte Parlament aber nahin sie trotzdem mit Mehv heit an. Durch Einführung von Referendum und Volks- Initiative wäre ein solches Vorkommniß gänzlich unmöglich ge- macht. In Uebereinstimmung mit den Anschauungen einzelner Kom- inissionsmitglieder wurde dann weiter noch Nachdruck auf das Proporlional-Wahlsystem gelegt, welches verhindern soll, daß die Minoritäten vergewaltigt werden. Schließlich habe ich noch im Namen der österreichischen Delc- gation dem Wunsche Ausdruck zu geben, daß der Kongreß durch eine eiumüthige Sympathie-Erklärung an die österreichischen Ge- nossen, welche jetzt im Kampfe um das allgemeine Wahlrecht stehen, den österreichischen Arbeitern seine nwralische Unter- stützung verleihen möge. Durch eine einmüthig angenommene Resolution werden wir sie in ihrem Beginnen fördern, werden wir ihren Sieg erleichtern, der gleichzeitig ein Sieg des genannten Proletariates ist. Noch ein Wort: Wir haben im Anfang des Kongresses Debatten gehabt, welche die Gegner hoffen ließen, als ob unter uns keine Einigkeit herrsche; es gab Szenen, die den Anschein erweckten, als ob einzelne Stationen sich freuen, wenn eine andere Nation eine kleine Niederlage erlitten. Verwischen wir diesen Eindruck, zeigen wir der Welt der Gegner, daß wir einig sind, daß wir nur einen Feind kennen, und wir bekunden diese Einigkeit am besten, am deutlichsten durch einstimmige Annahme der eingebrachte» Resolution. V l i e g e n spricht für die Majorität der Holländer. In der Resolution der Kommission sind unsere Forderungen großen- theils ausgenommen; nur e i n Punkt befriedigt uns nicht. Da- gegen sind wir einverstanden, daß auch der ökonomische Kampf ausgenommen wurde. Politische Aktion kann immer nur ei» Mittel sein, die ökonomische Macht für die Arbeiterklasse zu erlangen. Die Oekvnomie beherrscht die Politik, nicht um- gekehrt. Dieser Gedanke war in der Resolution der Deutschen   nicht enthalten. Das Kennzeichen des Possibilismus ist, daß ein Mittel zum Zweck erhoben wird. In einigen Ländern handelt man possibiliftisch, wenn man es auch nicht sagt, und nicht schreibt. Wir verwerfen den Parlamentarismus nicht, aber wir wollen ihn einschränken. Manches Gute liegt in der politischen Aktion, Wahlzeiten sind Agitationszeiten. Das allge- meine Stimmrecht bietet ein gutes Mittel zur Organisation. Das Böse am Parlamentarismus ist die Korruption. In der Kom- Mission hat Allemane die Folgen des Parlamentarismus in sehr dunklen Farben gezeichnet. Aber nicht nur bei den Gewählten, auch bei den Wählern bricht die Korruption hervor. Uni die Kandidaten durchzusetzen, macht man Kompromisse mit den bürgerlichen Parteien. Man verhüllt die Prinzipien der Partei und verfolgt nur die Augenblickszwecke. Ich habe keine Zeit, meine Behauptungen mit Thatsacheu zu belege», diese sind aber da.(Rufe: Her damit.) Was ich sagte, gilt nicht blos von Deutschland  , sondern auch für England und Frankreich  . Und so ist es in der ganzen Welt. Vor zwei Jahren haben wir in Brüssel   den Standpunkt des Klassenkampfes akzeptirt; auf dem Boden des Klassenkampfes giebt es keinen 5kompromiß. Sehr viel Freude hat uns die Ausnahme der direkten Gesetzgebung ge- macht. Wir haben ein bestimmtes Mandat, für unseren Antrag zu stimmen; wir können also nicht für die Resolution der Kom- Mission, aber auch schlecht dagegen stimmen, deshalb werden wir uns der Abstimmung enthalten. Die holländische Resolution lautet: Ter Kongreß, in Erwägung, daß, wenn die Regierungen dazu übergehen, durch Arbeiter- Reformgesetze kleine Verbesserungen in der Lage der arbeitenden Klasse herbeizuführen, sie dies nur unter der Be- dingung lhun können und werden, daß diese Berbesserungen unter ihrer Aufsicht zur Ausführung kommen; in Erwägung, daß solche Verbesserungen zur Reglementirung der Arbeit von Regieruugs wegen und zur Stellung der Arbeiter unter obrigkeitliche Vormundschaft führen, kurz, uns einen Staats- sozialismus bringen, welcher seinen Charakter als Staatsfozialis- mus auch dann beibehält, wenn die Regierer durch das allge- meine Wahlrecht gewählt werden; in Erwägung endlich, daß eine dauerhafte Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen nicht möglich ist auf dem Boden des Privateigenthums an den Produktionsmitteln; erklärt: daß es die Aufgabe der Arbeiter aller Länder sein muß, bei der Regelung des Arbeitsvertrags das Prinzip der Selbstbestim- mung und Selbstverwaltung für die in Betracht kommenden Ar- beiter zu vertheidigen und so alle zur Unterdrückung der Arbeiter bestimmten Waffen umzuschmieden in Waffen für die Befreiung der Arbeiter; erklärt weiter, daß Verbesserungen in der Lage der Arbeiter innerhalb der heutigen Gesellschaft von den Arbeitern nur im Sinne einer Verbesserung ihrer Kampsstellung willkommen� ge- heißen werden können, und zwar als ein Mittel zur besseren Organisation und zur leichteren Durchführung der Expropriation der besitzenden Klassen. Wegen allgemeiner Abspannung infolge der großen Hitze und schlechten Ventilation im Saal fällt die Abendsitzung aus und wird die Sitzung um 7 Uhr abgebrochen. Zehnte Sitzung. Sonnabend Vormittag 8 Uhr. Den Vorsitz übernimmt die Genossin K o l i s ch o f f(Mai- land). Man werde von ihr keine lange Rede erwarten; Dis» ziplin, Toleranz, Ruhe das sind die Forderungen, die wir heute stellen müssen. Als erster Redner spricht Liebknecht  : Es erfüllt uns mit freudiger Genugthuung, daß nach den heftigen Verhandlungen der ersten Tage sich nun eine wunderbare Harmonie in der Frage des Parlamentarismus herausgestellt hat. Gegen den Antrag der Holländer besteht keine prinzipielle Gegnerschaft. Wir akzeptiren ihn nur deshalb nicht, weil wir uns mit dem Staatssozialismus auf einem neuen Kongreß auseinandersetzen wollen. Vliegen hat gestern seine Verwunderung darüber ausgesprochen, daß auch wir den Standpunkt.vertreten, die politische Aktion sei nur Mittel zum Zweck. Das hat uns so recht gezeigt, ivie das kleinliche, un- brüderliche Gefühl gegen uns entstanden ist. Man macht sich von der deutschen Bewegung eben falsche Begriffe. Ich habe mit Genugthuung den Holländern zu erklären, daß in unserein Programm der Grundgedanke des Klassenkampfes klar und deutlich ausgesprochen ist. Im Programm der Internationale, i»n Pro- gramm, das sich unser erster Kongreß in Nürnberg   im Jahre 1383 gab, ist dieser Passus schon aufgenommen. Wir können uns Glück wünschen, daß der Kongreß nach heftigen Auseinander- setzungen über die Mythen zur Klarheit gekommen ist, die über uns Deutsche von der Bourgeoisie und der Polizei angefacht worden sind, als ständen wir nicht mehr auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes. Unser Programm ist das radi- kalfle von allen Programmen der Bruderparteien. In keinem anderen Lande der Welt herrsche eine solche Klarheit über diesen Punkt, wie bei uns. Diejenigen, die uns angreifen, haben erst von uns gelernt.(Beifall.) Auch über die Frage der Taktik ist ge- sprachen worden. Die Taktik ist keine Frage des Prinzips, son- deru eine der Praxis. Es giebt keine revolutionäre und keine reaktionäre Taktik, sondern nur eine Taktik zu revolutionären oder reaktionären Zwecken. Nach den Verhältnissen richtet sich die Taktik. Wenn an einem Tage sich vierundzwanzigmal die Verhältnisse ändern würden, würden wir vierundzwanzigmal unsere Taktik ändern.(Zustimmung.) Nach dem Verhalten der Gegner richtet sich unsere Taktik. Gäbe es in Teutschland russische Zustände, dann würde uns deutschen Sozialdemokraten nichts anderes übrig bleiben, als die Taktik der Nrhiliften! (Stürmischer Beifall.) Dem Streit über die Taktik liegt eine Verwechselung von Ursache und Wirkung zu Grunde. Ums Ziel handelt es sich! Bei den Zuständen, wie sie in Deutschland   herrschen, ist es unsere Ansicht, die von allen Bruderparteien, mit Ausschluß der Holländer, in der Kommission getheilt wurde, daß wir verpflichtet sind, alle diejenigen Mittel, die Staat und Ge- sellschast uns zur Verfügung stellen, anzuwenden gegen diesen Staat und gegen diese Gesellschaft. Daß wir'.das allgemeine Wahlrecht benutzen, darin sind auch die holländischen Genossen mit uns einverstanden. Nur die Ausübung der parlamentarischen Thätigkeit wollen die Holländer beschränken. Wir sollen nur protestiren im Parlamenr, weil der Bertretungskörper reaktionär sei und die Theilnahme an seinen Arbeiten zu Kompromissen und zur Korruption führe. Auch hier liegt eine Verwechselung des Thatvestandes vor. Ebenso wenig wie es eine revolutionäre oder reaktionäre Taktik giebt, ebenso wenig ist die Staatsmaschinerie an sich reaktionär. Sie ist nichts als ein Werkzeug zur Aus- Übung der Macht, eine gewaltige, schneidende Waffe. Wenn mich ein Feind mit der Waffe angreift, so werde ich nicht dadurch seiner Herr, daß ich die Waffe verachte, ich werde sie ihm zu entwinden trachten, wenn ich sie nicht am eigenen Leibe empfinden will. Die Macht, die uns gegenübersteht, können wir nur dadurch besiegen, daß wir ihr das gewallige Schwert entreißen!(Bravo  !) Um einen Kamps um die Macht handelt es sich, und dieser Kampf muß aus politischem Boden gefochten werde», um die Gesetzgebungsmaschinerie in die Hand zu bekommen, die unsere Gegner seit hundert Jahren in rafsinirter Weise zur Unter- drückung und Ausbeutung des Proletariats anwenden.(Eornelissen- Holland ruft: Lesen Sie das kommunistische Manifest!) Das haben wir gelesen, ehe Sie noch aus der Welt waren! Ich wünschte dem holländischen Genossen nur, daß er es ver- stehen lernt.(Lebhafter Beifall.) Die Frage der Korruption ist eine Frage der Organisation der Partei! Die Engländer haben noch keine starke Partei-Organisaiion, deshalb konnte dort Korruption bei einzelnen Führern, die sich von den Gegnern be- stechen ließen, vorkommen. Bei uns wäre ein solcher Abgeordneter sofort ein todter Mann, ausgestoßen mit Schimpf und Schande ans der Partei.(Lebhafter Beifall.) Nur in einem Punkt herrschte Meinungsverschiedenheit in der Kommission. Es war bei der Frage der Kompromisse mit bürgerlichen Parteien. Wir Deutsche  sind gegen jedes Kompromiß. Wir wollten der betreffenden Stelle in der Resolution die schärfste Fassung geben, die(jede Allianz mit bürgerlichen Parteien ausschließt. In der Kommission wurde aber geltend gemacht, daß in einzelnen Ländern, wo die Partei noch jung ist, die Verhältnisse so lägen, daß sich gelegentlich ein Kompromiß nicht zurückweisen ließe. Da wir nicht glaubten, das Siecht zu haben, den Genossen derjenigen Länder, in denen ein Kompromiß möglich ist, ihre Taktik vorzuschreibe», billigten wir ein kkompromiß aber nur unter der Bedingung, daß die Unab- hängigkeit der Partei und die Reinheit des Prinzips dadurch nicht verletzt würden. In Deutschland   ist jedes Kompromiß unmöglich.(Beifall.) Wären alle Länder so einig wie Deutsch- land in dieser Frage, dann brauchte sie den Kongreß gar nicht erst zu beschäftigen. Die Differenzen, die zwischen uns lagen, waren nicht prinzipieller Natur, das trat sofort zu Tage, sobald die Wolken der revolutionären Phrase, die sich dazwischen geschoben, verweht waren. Die Sozialdemokratie muß sich emanzipiren von der Phrase!(Lebhafter Beifall.) Die revolutionäre Phrase allein hat allen Skandal verursacht. Brüderlich soll man fühlen sür den Freund, der schweiß- und blutbedeckt aus heißer Schlacht kommt, nicht nach irgend welchen Blößen bei ihm spähen! Freilich wer nichts zu thun hat, der macht auch keine Fehler.(Stürmischer! Beifall.) In der Hitze des Kampfes kann ein Schritt leicht nach rechts oder links gethan werden, der von der Linie abweicht. Aber die Marschroute muß die richtige sein. Die Marschroute der deutschen Beivegung ist klar und bestimmt, sie wird jetzt durch diese Resolution der ge- amniten internationalen Arbeiterschaft empfohlen. Nehmen Sie die Resolution einstimmig an.(Stürmischer Beifall.) Dr. Ellenbogen(Wien  ): Wenn auch wir Oesterreicher  die Gefahren des Parlamentarismus nicht verkennen, so sind wir doch einverstanden mit der vorgeschlageneu Resolution. Bei uns bedeutet der Ausschluß der Arbeiterklasse aus den gesetz­gebenden Körperschaften für die herrschenden Klassen ein wohl- thätiges Dunkel, unter dem sie ihren Herrschaftsgelüsten sröhnen.