It. 161. 28. ZahtMg. 1. KcilU b JoivW KMll KcksM. Sonntag, 16. Juli 1911. Ms der franzölifcben Partei. Nationalrat kontra Kongreß. Am letzten Sonntag tagte in Paris der Nationalrat der geeinigten Partei. Der Parteisekretär Genosse Dubreuilh erstattete den Bericht über die Enlwickelung der Organisation seit dem letzten Parteitag. Die Partei �ählt derzeit 82 Föderationen mit SS OOS eingeschriebenen Mitgliedern. Eine neue Föderation, die von Tunesien , hat um Ausnahme angesucht. Der Nationalrat be- willigte sie.— Der Kassenbestand beträgt 103 000 Fr. V a ill ant berichtete über seine Korrespondenz mit dem inter« nationalen Sekretär wegen der Marokkoaffäre. Nach kurzer Debatte wurde die Einberufung des Meetings am Mittwoch gutgeheißen und auf Antrag Jaurös der deutschen Sozialdemokratie und der englischen Arbeiterpartei eine tclegraphjscbe Einladung übermittelt. In der Diskussion über eine Sympathiekundgebung für Hervü und die anderen politischen Gefangenen führte Lafargue aus, daß von den bürgerlichen Parlamentariern eine Amnestie nicht zu erwarten sei. ES gebe nur ein Mittel, Hcrvs zu befreien: seine Wahl inS Parlament. Eine Sympathie- resolution wurde einstinimig angenommen, desgleichen ein Protest gegen die Gewaltpolitik Caillaux , im besonderen gegen die Verhaftung der drei Funktionäre der Bauarbeitergewerkschaft, die an« geblich wegen des„Sou du soldat" erfolgte, aber tatsächlich der Einschüchterung der streikenden Bauarbeiter dienen soll. In der Nachmittagssitzung erstattete Bracke Bericht über die »Humanitö'. Da» Blatt steht jetzt ausgezeichnet, der tägliche Verkauf beträgt S8— 70 000 Exemplare, davon 80 000 im Pariser Rayon. Im Norden ist die Auflage nach der Einrichtung einer regtonalen Sonderausgabe von ISOO auf 6000 gestiegen. Die Taktik gegenüber der Altersversicherung. Der Hauptgegenstand der Verhandlungen des Nationalrots war die Stellung zur Altersversicherung. Bekanntlich hat die Mehrheit des Kongresses in Nimes den Deputierten den Auftrag gegeben, für das— damals noch im Senat liegende— Gesetz su stimmen, nachher aber sofort mit einer energischen Aktion für eine Verbeflerung einzusetzen. In der Kammer stimmte dann nur G u e S d e, der in NrmcS nicht anwesend gewesen war, gegen das Gesetz, weil er den Arbeiterbcitrag für einen Raub hielt. Die ArbeitSkonföderation wiederum erklärte auf ihrem Kon« grcß in Toulouse die K a p i t a l i s a t i o n als einen Betrug, wo- gegen sie den Srbeiterbeitrag nicht unbedingt verurteilte. Die von ihr begonnene Agitation gegen das Gesetz zeigte ihr indes, daß das Interesse an der Frage: Kopitalisation oder Umlageverfahren? in der Masten gering sei, während man sich vom Kampf gegen de» Arbeiterbeitrag mehr versprechen konnte. Die unlängst abgehaltene Konferenz beschloß denn auch, die Verweigerung der BeitrogSleislung und die Verbrennung der Versicherungshefte, in denen die Kritiker des Gesetzes die Wiedereinführung des Arbeitsbuches mit einer Kon- trolle durch den Unternehmer sehen, zu betreiben. Damit war die Uebereinftimmung mit den Freunden I. G u« S d e S, die nament- lich im.SocialiSme' und in dem von ihnen redigierten Teil der Provinzpreste das Gesetz bekämpft hatten, erreicht. Zunächst beschloß eine aus GueSdisten und Syndikalisten bestehende Mehrheit der Seine-Föderation, die Aktion der E. S. T. gegen das seit dem S. Juli in Kraft getretene Gesetz zu unterstützen und sie brachte ihre Resolution auch im Nationalrat ein, der nun so in die eigen- tümlich« Situation gebracht wurde, einen ParteitagSbeschlutz zu revidieren. Die Debatte war stürmisch, heftig und zerfahren. Die Redner der guesdisttschen und der syndikalistischen Richtung bestanden nament- lich auf dem Grundsatz, daß die sozialistische Partei der von der organisierten Lrbeiterklaste— als solche wurde die derzeitige Mehr- hcit der E. S. T. hingesiellt— ausgegebenen Parole unbedingt zu folgen habe. Der.Arbeiter- und Bauernprotest" gegen die Beitrags- leiftung der Versicherten, behaupteten diese Redner, sei vou elemen- tarer Gewalt. Die StimmungSberichtr der Redner aus der Provinz lautete» verschieden, indes ist unleugbar, daß die Beitragspflicht nicht populär ist. Die Minorität der Seine« Föderation f. (ln�ucbt. In den bürgerlichen Zeitungen herrschte in den letzten Wochen ein steigendes Fieber der Entrüstung vor. Die Kunst, die heilige, fchöne, erhabene, dre süße und freie Kunst wurde durch verschiedene Staatsanwälte hartnäckig verfolgt. In München trieb der Prozeß BahroS-Semerau Staub aus den ehrwürdigen Brettern des Ge- »i/stssaals, in Berlin saß Herr Paul Cassircr mit seinem geistigen Beirat Herzog auf dem Sünderbänkchen, erhabene Märtyrer weiland FlaubertS, in einer Kunsthandlung der Friedrichstraße wurden Ansichtskarten nach Gemälden im National-Museum zu Stock- Holm, dem Göteborg -M useum, dem Staatsmuseum in Helsingfors usw. beschlagnahmt, und vom Landgericht I wurde am 12. Juli einig«„Kaufleute" wegen Verbreitung unzüchtiger Abbildungen. Reproduktionen von Bildern des Parfter Salons, zu Geldstrafen verurteilt. Das sind ein paar dieser Fälle. Jeder Leser des .Vorwärts" hat schon von mehr oder weniger ähnlich albernen t allen gehört. Die Ehrsamkeit kommt nicht zur Ruh. Es regnet rkenntniste gegen das Nackte und Halbnackte in der Kunst und in der Literatur. Es weht ein Keuschhcits-, TugendsamkeitS- und Ehrbarkeitswind. Man spiegelt sich an Joseph und Potiphar . Würde gern das alte Testament konfiszieren, das tatsächlich Sachen erzählt, die sogar verheiratete Leute nicht zu wissen brauchen. und ärgert sich mit Recht über den Irrtum der Natur, die die Menschheit ohne das vorschriftsmäßige Feigenblatt auf die Welt kommen läßt. Es gibt Vertreter des Nackten, gewissenlose dumme Jungen, die sich darüber lustig machen, daß man an nackten Körpern in Badewannen oder am Strand keinen Unterschied wahrnimmt, daß die Exzellenz in der Schwimmhose denselben Nabel, dieselben Körpcrhaare und eventuell auch dieselben Hühneraugen wie der erste beste Arbeiter präsentiert— es gibt philosophische Betrachter de» Nackten, die davon faseln, daß ein General a. D. nichts von seinen Epauletten und Orden mehr hat, sobald die brave Mutter Erde sein Fleisch und seine Knöchlein verlangt— es gibt auch Esel, die nach weniger Bekleidung schreien, weil Sonne und Licht dem menschlichen Körper notwendig sind— aber alle diese vcr- worrencn Köpfe werden von den Tugendsamen üb«'.raffen, die da» Nackte lediglich für die Wohnung, hinter geschlossenen Gar- dincn gelten lassen, um anständigen Nachbarn ja kein AergerniS zu geben. Weil diese letzteren die gesunde Mehrheit bilde», ent- stehen Strafsachen mit Ausführungen wie folgt: „In der Strafsache N. N. wird die Beschlagnahme der bei den Akten befindlichen Ansichtskarten N. N. angeordnet Die Karten, auf denen nackte und halbnackte Frauen dargestellt sind, werden zumal im Hinblick auf den Zweck der Massenverbreitung für un- züldtig erachtet. Sie unterliegen nach 8 184 i 40, 41 Strafgesetz- buchs usw. der Einziehung und Beschlagnahme..." Oder es folgt die Verurteilung zu Gefängnisstrafen— oder Geldstrafen. • Ich glaube nicht, daß der Spektakel der bürgerlichen Blätter, die in edlem Zorn über Kunst. Sittlichkeit usw. spöttische, be- «nruhigende oder lyrische Episteln schreiben, für uns irgendwelches Interesse hat. Während es einerseits schwierig festzustellen»st. «b die Verkäufer von Büchern. Zeitschriften. Ansichtskarten usiv.. die durch das Gesetz betroffen werden, wirklich nur.Schönhcits- zwecke" verfolgen(bei der Großindustrie scheint das a priori ausgeschlossen). ist tf«ndukkseits doch höchstens r« fanltt Spaß, hatte eine Resolutton vorgelegt, die im Sinne des Beschlusses von NimeS die Unterwerfung unter da? Gesetz mit gleichzeitiger Agitation für seine Verbesserung wollte. Vaillant wies den Gedanken einer Opposition gegen die C. S. T. zurück, deren revolutionären Charakter er anerkannte, ober er berief sich auf die Autonomie der gewerkschaftlichen und politischen Organisation und wandte sich dagegen, daß man die Genossen, die für das Gesetz ge- stimmt hätten, nicht al« Sozialisten gelten lassen wolle. Das Gesetz sei ein Bourgeoisgesetz, die Partei sei dafür nicht verantwortlich. Sie müsse es aber zu vrrbessern trachten. Der Redner erklärt, dem Beschluß von Rimes treu zu bleiben, so lange ihn nicht ein neuer Kongreß aufgehoben hat. I a u r ö S bestritt ebenfalls die Kompetenz des Nationalrats, den Beschluß von NimeS aufzuheben. Hundert- tausend« von Arbeitern haben sich von ihm leiten lassen, dürfen wir sie desavouieren? 1700 000 Personen haben sich eintragen lassen.— Die Partei hat die Kammer und die Regierung gezwungen, sich zur Verbesserung des Gesetzes noch in diesem Herbste zu verpflichten. Wir haben alle Kräfte nötig, um die Er- füllung des Versprechens zu sichern.— Man hat uns in NimeS ge- sagt: Stimmt für das Gesetz I Wer für da« Gesetz war, muß aber auch für seine Ausführung sein. Ander« wäre e« widersinnig. Während wir unS in den Haaren liegen, legen die bürgerlichen Selbsthilfskassen, die klerikalen Landwirtschaftsvereine und die Unter- nehmerorganijation ihre Hand auf die Kassen. Die Arbeiter find nicht für die Zerstörung de? Gesetzes. G u e s d e: Sozialisten dürfen nicht für eine Verminderung des Lohnes stimmen, Keine einzige Partei in der Inter - nationale hat für eine auf Lohnabzügen basierte Altersversicherung gestimmt. Ich war während des Kongresses von NimeS in Berlin . Ich sah Bebel, KautSky und Rosa Luxemburg . Sie waren über die Mehrheit für den Diebstahl an den Lohnen einfach verblüfft. Seit der Annahme deS Gesetze« ist aber eine neue Tatsache dazu ge- kommen: die Protestbewegung der Arbeiterschaft. Sollen wir für die Bourgeoisie Wache stehen? Man hat uns gesagt: Ihr werdet die Altersversicherung begraben. Ich sage: Sie werden lebendige Renten erzwingen, eine Reform, die nicht unterwirft, sondern de- freit. Die Bourgeoisie hat sich hinter Sie gesteckt, sie hat Sie zum besten gehabt! Vaillant verliest eine von Groussier. Jaurös, Albert , Thomas , Renaudel, HölisS u.«.gezeichnete Er- klärung, die dem Nationalrat die Kompetenz zur Umänderung von Kongreßbeschlüssen abspricht. Rolde« bringt eine Vermittelungsresolutton ein, die den B« schluß vn Rime« auftecht erhält, aber die Aktion zur Abänderung des Gesetze« im Sinne der C. G. T., also Abschaffung des Arbeiter- beitrages und der Kapitalscheine proklamiert. Die GueSdisten lehnen indes ihre Annahm« ab, da RoldeS sie in dem Sinne interpretiert, daß sich die Arbeiter vorläufig dem Versicherungsgesetz unterwerfen sollen. In der Abstimmung wird hierauf die Resolution der E e i n e- M e h r h e i i mit 87 gegen 61 Stimmen angenommen. 9 Delegierte enthalten sich. 13 Föderationen sind nicht vertreten. Die Resolution lautet: Der Rationalrat erklärt, daß jedesmal, wo es sich um eine Arbeiterfrage handelt, die sozialistische Partei im Einvernehmen mit den Beschlüssen der C. G. T. zu handeln hat. In Erwägung, daß der Kongreß von NimeS eine unverzüg liche Kampagne sozialistischer Propaganda für die Verbesserung des Gesetzes beschlossen hat In Erwägung, daß die sozialistische Partei die Pflicht hat, ihren Protest mit dem der Arbeiterklasse zu vereinigen, namentlich in bezug auf folgende Punkt«: 1. gegen die obligatorischen Beiträge, 2. gegen die Kapitalisatton, S. gegen den lächerlichen Satz der Rente, 4. gegen da» Bezugsalter. 6. gegen die Wiederherstellung des Arbeitsbuches. gegen das„Nackte und Halbnackte", gegen das Unsitlluhe und Un- züchtige zu protestieren. Die bürgerlichen Verteidiger und die bürgerlichen Bekämpfer de? Nackten spielen das gleiche fade Spiel. Von der großen tragischen Unzucht in der Welt nehmen beide keine Kenntnis, und wo sie Kenntnis davon nehmen, weinen sie Krokodilstränen. In denselben Blättern, die Feuilletons, glänzende, geistvolle. sarkastische oder herabsetzende Feuilletons über„Die literarisch« Moral",„Kunst und Sittlichkeit",„Das Nackte in der Kunst" usw. publizieren, macht sich in langen Spalten über dem Strich das Klassenintereffe breit. Das Entsenden eines Kriegsschiffes nach Marokko , ohne Zustimmung eines echten Bolksparlamentes, nur auf Verantwortlichkeit sogenannter Diplomaten hin. die außer dem Schuß bleiben, ist sittlich. Die Verweigerung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts und das Spielen mit dem Kriege, dessen Kosten da»„unmündige" Volk zu tragen hätte, ist sittlich. Man erkennt eine literarische Moral an, als ob Literatur eine aparte Sache wäre: um die andere, höhere, einzige, weil allgcmein-mensch- liche Moral zerbricht man sich im Klassenegoismus nicht den Kopf. Pfarrer Jatho wird in den Himmel gehoben, dem Bibelübersetzer von der Wartburg gleichgestellt, und über den Skandal eines auS politischen Gründen verurteilten sozialistischen RedatteurS, der gezwungen wird, gewöhnlich« Gefängnisarbeit zu verrichten, schweigen sich die vortrefflichen bürgerlichen Redakteure zu 09 Prozent auS. Auf der Vorderseite eines derartigen freisinnigen Blatte» findet man Artikel über„Sittlichkeit und Kunst", auf der Rückseite Annoncen wie folgende: „Damen sind, diskr. Auf», bei erf. Arzt. Kein Heim- bericht. Entbindung in Dämmerschlaf." oder auch: „Aufnahme zur Entbindung findet vornehme Dame. Diskretion absolut gesichert. Nur Ersatz der Unkosten." oder auch: „Rittmeister, Militär-Attache, Ritter höh. Orden, Sohn eines der bedeut. Staatsmänner, 30 Jahr, wünscht disting. wohlhab. Dame beh. Heirat kennen zu lernen..." oder auch: „Für Nichte, mos., 23 Jahr, vorn. Schönheit, Barmitgift 120 000 M., wird Rechtsanwalt, Arzt außerhalb Berlin gew." Aber das sind nur kleine komische Beispiele der Moral mit dem doppelten Gesicht. Man will das Nackte nicht sehen— aus erklärlichen Motiven. Die Unzucht der Kohlenbarone, die ein Syndikat bilden, deren Raubbau über Menschenleichen geht, wird mit einem goldenen Schleier verhüllt. Das Abstoßend-Nacktc eines militärischen Systems, das gegen den Willen der Völker die Na- tionen ausmergelt, wird vertuscht. Das Ekelhaft-Nackte eines Heeres von Prostituierten, das eine Sittenpolizei kontrolliert, wird als normale Angelegenheit betrachtet. Die durch Erpressung an Heimarbeitern betriebene Unzucht wird gesetzlich sanktioniert. Das Vollkommen-Nackte der Kirchen, die sich überall, ohne Ausnahme, auf kirchliche Macht und Theologie beschränken, und mit der be- sitzenden Klasse wie verliebte Tauber turteln, wird nicht durch Verleger von Ansichtstartcn in den Handel gebracht. Kurzum, und es braucht kaum weiter detailliert zu werden, weil wir alle genügend davon unterrichtet sind, neun Zehntel der„Kulturwelt" geht mit dreister, ärgerlicher, sich vor keinem Nachbar genierender Nacktheit umher, die aber kein Richter im Hinblick»auf den Zweck der Rasselwuöreiwog" für lUlziMig erachtet'—' In Erwägung, daß die Gewerkschaftsorganisationen ihre Kampagne fortsetzen, fordert der Nationalrat die Genossen, die Abgeordneten, die Sektionen und Föderationen der Partei auf. mit all ihren Kräften den Arbeiter- und Bauernprotest zu unterstützen. Der Beschluß bedeutet also die Verleugnung der Kongreß- enlscheidung in NimeS . Wie sckon die Debatte gezeigt hat, wird er keineswegs dazu beitragen, die Einigkeit der Altion in der französischen Partei zu erhöhen. Die gueSdistische» Genossen haben ihren Sieg durch ihre Allianz mit den Syndikalisten errungen. Aber es wird sich noch zeigen, ob die Aufgebung der Antonomie der Partei und ihre unbedingte Unterwerfung unter die Anschauungen, die in den Gewerkschaften die Mehrheit haben. der prinzipiellen Klärung und der taltischen Stärkung des französischen Sozialismus sörderlich ist. )Ziis Induftrie und Handel. Ankündigung einet Flcischnot. In unserem vorigen Wochenbericht hatten wir auf die An« zeichen einer neuen Fleischnot hingewiesen. In ihrem letzten Saatenstandsbericht vom 16. Juli geht nun tuch die Preisberichtsstelle des Deutschen LandwirtschaftSrats aus das Thema ein. Aller- dingS, die ungünstige Temperatur soll das Karnickel sein. ES heißt in dem Bericht: „In der letzten Woche herrschte in fast ganz Deutschland eine außergewöhnliche Trockenheit und Hitze, welche um so Verhängnis- voller waren, als weite Gebiete Deutschlands bereits in den Vor- Wochen nur ungenügende Niederschläge hatten. Nur in den Küstenländern der östlichen und mittleren Ostsee und in den höheren Lagen Mittel- und Süddeutschlands war die Dürre von Niederschlägen und kühlerem Wetter unterbrochen. So sehr die anhaltende Trockenheit für die qualitativ gut«, quantitativ aber vielfach geringe Heuernte, sowie für die Bergung der gut lohnen- den Wintergerste und für die beginnende Roggenernte als günstig angesehen werden muß, so dringend notwendig sind Nieder- schlage, wenn nicht Winterweizen uni) das Sommergetreide, das mehrfach bereits zur Notreife neigt, in ihrer Körnerbildnng leiden und die Hackfrüchte und vor allem die Futterpflanzen nicht unheilbare Schäden davontragen sollen. Falls die Trockenheit noch in den nächsten Wochen anhalten sollte, scheint die deutsche Landwirtschaft einer ähnlichen Zeit entgegenzugehen, wie in den Erntejahren 1893 und 1904, die sich durch mittlere und gute Llörnererträge beim Wintergetreide gegenüber geringeren Er- trägen vom Sommergetreide, besonders von Hafer und durch schlechte Stroh- und Futtererträge auszeichneten und eine starke Reduktion des Viehbestandes zur Folge hatten. Es wäre dringend erwünscht, daß schon jetzt, sei es von den Genossenschaften, sei es von anderer Seite, Vorsorge gegen eine Verschleuderung des Viehs getroffen würde. In welchem Grade die Trockenheit auf dem größten Teil der Landwirtschaft ruht, geht besonders daraus hervor, daß die Mehrzahl der beim Deutschen Landwirtschaftsrat eingegangenen Berichte selbst für die Kartofseln, deren Stand bis- her als gut zu bezeichnen»oar, dringend Regen wünscht, wenn dieselben nicht in ihrer Enttvickelung zurückgehen sollen. Hin- sichtlich der Zuckerrüben teilen verschieden« Berichterstatter mit, daß die Blattläuse endlich verschwunden sind. Für einen zweiten Schnitt der Futterpflanzen scheint wenig oder gar keine Hoff- nung mehr zu sein." Wenn auch die anhaltende Trockenheit der Ernte noch Abbruch tun mag, die hier geschilderten Wirkungen erscheinen denn doch weit übertrieben. An der Börse weiß man von dergleichen Be- fürchtungen nichts. Die angebliche Futtcrnot soll die wirkliche Ur� fache des drohenden Notstandes verschleiern. Die grassierende» Viehseuchen und der Verkauf von nicht schlachtreifem Vieh aus Be» svrgnis vor Verlusten dezimieren den Bestand. Das wollen die Agrarier natürlich nickst gern wahr haben, darum suckln sie sckion jetzt ein unabwendbares Geschick für den drohenden Notstand der- cmtwortlich zu machen. Die Wahlen nahen, und da möchte man Die heuchlerische Moral der herrschenden Klaffe verleugnet sich nicht. Sie überwacht die„Tugend" des Volkes, das keine Ansichtskarten mit nackten Frauen sehen oder kaufen darf, und beschirmt die Sektgelage in einem blühenden und Geld gewinnenden „Palais de Dans«". Sie bestraft die Uebersetzung eines Flaubert - schen JugendtverkS, verfolgt die Veröffentlichung eines Zolaschen Romans in einem Volksblatt— und prämiiert die Unzucht durch Zahlung von Hungerlöhnen an arbeitende Frauen und Mädchen. Sie hat den Mund ans der Kanzel und im Richtersaal voll von „Sittlichkeit" und tritt diese Sittlichkeit in die Ecke, sobald ihre Interessen darunter leiden. Sie firnißt im Kleinen und vernichtet im Großen. Sie eifert gegen Erotik und schwelgt selbst darin. Sie„rettet" die Volksseele und mordet den Volkskörper. Sie be- schlagnahmt„nackte und halbnackte Frauen" und reißt Dutzenden von Frauen die Kleidung vom Körper. Sie schwärmt für Kunst und hat ihre Künstler derartig dressiert, so in das Joch gespannt, so mit ihrer„Weltanschauung" durchtränkt, daß diese sich daS „häßliche" Leben abgewöhnt haben, um bei erlogenem Mondschein und erlogenen Idealen zu„träumen". Ueberall hat man dem Nackten einen deckenden Fetzen um» gehängt. Es wird von den höchsten Machthabcrn, von der Presse, den ehrsamen Bürgern, den Literaten glcid)mätzig gehaßt. Es ist ein leidenschaftlicher Kampf, nichts UnverhülltcS zu sehen, ein ängstliches Getue, die nackte Wahrheit als kostümierten Clown zu maskieren. Sollen wir uns über Ansichtskarten, unzüchtige Reproduk« tionen usw. auflegen? Wenn diese naiven Sachen Unzucht dar- stellen, hat die Bourgeoisie selbst das faule Ei ausgebrütet.... Für Wachaewordene ist das bißchen Unzucht, das von den Be- Hörden angetastet wird, noch nicht ein tausendstel Prozent de* großen, tolerierten Wcltunzucht. Heinz Sperber. Musik. — In der sommerlichen Hagin- Oper bei Kroll gab eS am Freitag Richard Wagners„Götterdämmerung ". Das heißt: ein Werk dieses Namens gibt eS gar nicht, so wenig wie eS ctiva eine„Walküre " gibt. ES gibt nur das vierteilige Bühncnfest- spiel,»Der Ring des Nibelungen ", dessen Schlußteil den obigen Namen führt. AuS dem Gesamtwerk Teile herauszureißen und bald diesen, bald jenen aufzuführen, heißt einfach, sowohl die Gabe des Schöpfers wie auch den Gewinn deS Empfängers verdrehen, mehr oder weniger bis zur Vernichtung. Wenn es diesmal eher weniger als mehr bis zur Vernichtting kam. und wenn wir von vielem Guten aus der Aufführung zu be« richten vermöchten, so wird trotzdem immer allgemeiner aistchaulich, was man längst wissen konnte: daß nämlich der Berschluderuna R. Wagners kein Einhalt mehr zu gebieten ist, ebenso wie längst schon größte Meister und kleiuste Geistesarbeiter sich an ihren Leistungen derartiges müssen gefallen lasse». Was zu tun war. als fast alle Welt Wagner verkannte, ist jetzt, da sie sich im Anerkennen überbieten möchte, erledigt. WaS noch zu tun bleibt, ist hauptsächlich eine Fürsorge für das Verständnis seiner Werke, vor ollem beim nachwachsenden Jungpublikum. Und da kann eine instruktive Veranstaltung, wie sie etwa unser Berliner Bolls- chor zu geben vermag, besseres leisten, als jede Sommer- oder selbst Winteroper. Ohne solche Hilfe gibt eS für den DurchschnittSchor kaum etwas Langweiligeres, als eine typische Aufführung aus einem der Spätwerke Wagners— falls man sich nicht mit einer un- gefähren Stinimung vom Rauschen eines Weltstrome« oder mit cmem Amüsement über szenifche Effekt« und Lächerlichkeiten begnügt.
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