Nr. 202.
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Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Die herfilthe Bauernbewegung.
Aus Oberhessen wird uns geschrieben:
Dienstag, den 29. August 1893.
Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.
semitismus zugegeben. An der Spitze des Ganzen standen scheinen mag, Nebensache, ein pikantes Gewürz, das der die Großgrundbesitzer: Standesherren, Majoratsherren, Masse der Landbevölkerung die Politik, die im Kerne rein hierzulande, wo vielfach das englische Großpachtsystem wirthschaftlicher Art war, schmackhaft machte. Antisemitische herrscht, die auf den standesherrlichen Gütern als Bächter Neigungen sind von jeher vornehmlich in unserer evangelifizzenden Dekonomen. Geistlichkeit und Beamtenschaft schen Geistlichkeit vorhanden und mächtig gewesen, deren Die stärksten Stützen der alten Gesellschaft wanken. leisteten freundwilligen Beistand, und die Masse der Bauern Einfluß auf die Bevölkerung durch Wort und Schrift noch Der antikollektivistische Bauernschädel beginnt sich mit und Landarbeiter, hier ebenfalls zum größten Theil noch sehr groß ist. Dazu steht thatsächlich der Bauer in revolutionären und sozialistischen Vorstellungen zu erfüllen. Kleine Besizer, folgten, bildeten die Heersäule der agrari- einem steten Interessengegensatze zu dem Handelsmann, der Und suchen die Herren, die das heute mit ohnmächtigem schen Armee. Das war das erste Stadium der agrarischen hier zu Lande fast immer Jude ist. Ist der Bauer VerGrimme schauen müssen, einen Schuldigen, so müssen sie, Bewegung: die Periode der Führung durch den Groß- käufer, so ist der Jude Käufer und umgekehrt. Die soweit hier von Personen und persönlichen Machern die grundbesiz. Schwankungen des Produktenmarktes treffen den Bauern Rede sein kann, an die eigene Brust schlagen. Denn die Seitdem, d. h. seit 1887 ungefähr, hat sich manches ge- durch Vermittlung des Juden, der an ihnen die alleinige Bauernbewegung ist zum guten Theil fünftlich, nicht geändert. Die Lebensmittelzölle schienen ein Band zu knüpfen Schuld zu tragen scheint. Die größere, durch Jahrhunderte macht, aber beschleunigt, von oben herab in die Bevölkerung zwischen allen Arten von Grundeigenthümern, die fast alle ihm aufgezwungene, Geschäftsgewandtheit des Juden, dazu hereingetragen worden. Getreide verkaufen, wobei der Zukauf, der bei den kleinsten die peinliche Empfindung eines vielfach unaushaltsamen Bis zum Ende der fiebziger Jahre hatte die soziale den Absatz weit übersteigt, übersehen wurde. Der Militaris- Rückgangs des Kleinbauernthums und die Wirkung des Gliederung der Bevölkerung in der politischen Gruppirung mus, der gerade die Landbevölkerung am schwersten trifft, Gegensatzes zwischen der Körperarbeit des Bauern und der mehr unbewußt ihren Ausdruck gefunden. Die vornehmlich zu gunsten des Großgrundbesizes, wurde in scheinbar bequemen Handelsthätigkeit des Landjuden , der bürgerlichen Parteien unterschieden sich im Wesents altgewohntem Patriotismus hingenommen: Aber die zum großen Theil von Juden betriebene Landwucher, lichen nur durch ihre Ideale". Mochten diese in Interessengemeinschaft wurde als Wahn enthüllt durch die lassen in manchen Schichten einen dumpfen Haß sich entReligiosität oder Freidenkerthum," Freiheit" oder" Königs- Branntweinstener, Reform" von 1887. Die Vierzigmillionen- wickeln, der von oben her behutsam lebendig erhalten wurde treue" bestehen, alle waren darin einig, daß sie das Liebesgabe bringt den Großbrennern ungeheure Summen, und in der antisemitischen Bauernbewegung zur helllodernden Gesammtintereffe" vertraten und mit tugendhafter Ent- bis zu Hunderttausenden von Mark für Einzelne; den Ruin Flamme entfacht wurde. So schien es fich eine Zeit lang wirk rüftung auf die Sozialdemokratie blickten, die durch ihr des Kleinbrenners kann sie nicht hindern, sollte sie vielleicht lich nur um einen Kampf gegen das Judenthum zu handeln. offenes Bekenntniß zum Klassenkampfe die vaterländischen gar nicht: ganz im Geiste eines Gesetzes, das den Jnteressen Inzwischen hat die Logik der Thatsachen weiter gearbeitet. War Interessen einem schnöden Klassenegoismus zum Opfer der Bauernleger dienen sollte. Aber der Hauptkonsument die erste agrarische Bewegung die Interessenvertretung des des Branntweins ist, im ist, im Westen Westen wenigstens, der feudalen oder großbürgerlichen Großgrundbesizes, so ist die sog.
brachte. Diesem idyllischen Zustande, in dessen Frieden man Kleinbauer und der landwirthschaftliche Arbeiter, die antisemitische hier die zweite Etappe: die Klaffenbewegung so schön gemeinsam das Volk hatte schröpfen können, machte zu gewissen Zeiten, z. B. im Winter bei Waldarbeiten, des niedergehenden Mittel- und Kleinbauernstandes. Thre die schutzöllnerisch- agrarische Richtung ein Ende. War auf den Branntwein angewiesen sind, zu anderen Zeiten Spize richtet sie in erster Linie gegen den jüdischen Zwischenauch bereits in der Gründerzeit von einigen der konser ihn nicht entbehren zu können glauben. handel. Der Gegensatz gegen den Großgrundbesitz wird noch vativen Partei attachirten Sozialpolitikern, wie Glagau, Die gewaltige Bertheuerung dieses Lebensmittels er nicht hinlänglich klar erkannt, wohl aber bereits empfunden. Rudolf Meyer u. a. mancher Feßen der gleißenden Hülle des zeugte tiefe Unzufriedenheit; zum ersten Mal trat in einer Die antisemitischen Führer sahen sich zu durchaus oppoKapitalismus abgerissen worden, so hatten damals diese Be- großen politischen Frage der neueren Zeit der Klassen- fitioneller Haltung genöthigt. Hielten sie auch an der mühungen wenig Erfolg aufzuweisen. Die nationalliberale gegensatz unter den Grundbesitzern selbst deutlich zu Tage. Fabel des bauernschützenden Getreidezolles fest, so mußte und die ihr verbündete freikonservative Partei, die Parteien Dazu kam, daß die gehofften Erfolge der Schuzzoll- Politik Böckel fich doch als Gegner einer Ausdehnung des früher des entwickelten Großkapitalismus, blieben Herren der für den Bauern sich nicht zeigen wollten; kurz, die Bauern- sorgsam geschonten indirekten Steuersystems bekennen, und Lage, und im Volke folgte man noch immer der nationalen schaft fand es gerathen, ihre Interessen selbst in die Hand ihre ganze Hilflosigkeit offenbarte die antisemitische Demagogie Fahne und glaubte an die Harmonie der Interessen. Da zu nehmen und sich von den alten Parteien: der ton- in der Frage, die bei den letzten Wahlen maßgebend war: trat die agrarische Partei auf den Kampfplan. Ihr Ent- fervativen Adels- und Pfaffen, der nationalliberalen der Stellung zur Militärvorlage. zur Militärvorlage. Zuerst war die stehen verdankte sie dem gegen Ende der 50er Jahre im Dekonomen- und Beamtenpartei, loszusagen. Die anti Parole: keinen Mann und feinen Groschen! da Vergleiche mit dem vorhergegangenen Jahrzehnte ein- semitische Bauernbewegung entstand. In Lob und Tadel das Volk keine weitere Belastung tragen könne. getretenen Sinken der Grundrente, die durch mancherlei ist dem Organisator dieser Bewegung in Oberhessen, Darauf erklärte man sich zur Bewilligung bereit, wenn Umstände eine ungeheure Höhe erreicht und im Güter dem Dr. Böckel, zu viel gethan worden. Politisch 1. die finanziellen Erfordernisse von der Volksmasse weg verkehr und der Lebenshaltung die Ansprüche der Grund- ist er nicht bedeutend( von seinem Charakter ist auf die Schultern der Reichen gewälzt würden, 2. die zweibesitzer entsprechend erhöht hatte. Dazu kam der wachsende hier nicht die Rede), wohl aber ist er ein guter Kenner der jährige Dienstzeit gefeßlich festgelegt würde. Vor den StichNeid auf die zunehmende soziale Bedeutung des mobilen ländlichen Verhältnisse, ein nicht übler Agitator und Organi- wahlen ließ man mit Rücksicht auf die sächsischen KonserKapitals, die wirthschaftliche Krise und das Sozialisten- sator, über dessen Haupt auch manche sozialpolitischen Er- vativen noch die zweite Bedingung fallen, und schließlich geset, die die breiten Massen nunmehr als ge- tenntnisse hingestrichen sind. Aber er hätte vergebens gear- bewilligten die Herren glattweg ohne Erledigung der eignetes Objekt reaktionärer Demagogie erscheinen beitet, hätte er nicht einen vorbereiteten und aufnahme- Deckungsfrage, nach einer nichtssagenden Erklärung des ließen. Eine lebhafte Agitation für die Getreidezölle wurde fähigen Boden gefunden. Seine Bewegung entsprach ge- Kanzlers, stolz auf die ausschlaggebende Stellung im Reichsin Szene gesetzt, der Gegensatz des Grundbesitzers zum wissen, im Landvolke herrschenden Instinkten. Daher ihr tag und auf die„ achtungsvolle" Behandlung durch die ReRapitalisten( nach Bismard war bekanntlich der Handel rascher, überraschend großer Erfolg. Bisher war von dem gierung. unproduktiv, produktiv aber das Grundeigenthum) scharf rein antisemitischen Theile der Bewegung noch nicht die Dieses Verhalten bildet den Anfang vom Ende. Mögen betont, auch nach Bedarf schon eine gewisse Dosis Anti Rede. Er ist auch, so befremdlich es dem Fernerstehenden sie sich" Volkspartei " oder„ Reformpartei" nennen: die Anti- Rede.
Feuilleton.
Nagbrua verboten.)
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Die Bekehrung André Savenay's.
Sozialistischer Roman von Georges Renard.
Autorisirte Ueberfegung von Marie Kunert . Nun, Sigismund ," sagte Vater Deschamps, ihn auf die Schulter klopfend," Du bist wohl nicht damit zufrieden, daß neue Rekruten zu uns kommen?"
" Gewiß, aber die jungen Rekruten dürfen die alten Soldaten nicht fortjagen."
Was willst Du damit sagen?"
" Herr Savenay hat mich schon aus der Sozialdemotratie hinauswerfen wollen!"
pedantischen Sozialismus zu predigen, dann haben Sie nicht unrecht gethan. Ich habe ihm manches Mal ver fichert, daß die alten Graubärte von 1848 auch ihr Gutes hatten. Damals war es einem Sozialisten noch nicht verboten, ein Herz zu haben und daran zu denken, daß die Andern auch eines haben."
Sigismund erwiderte nichts. Sein Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Dann sagte er mit leise bebender Stimme:
" Und Sie, Johanna, glauben Sie auch, daß Herr Savenay mir gegenüber im Recht ist?"
Tas junge Mädchen zögerte einige Sekunden. Der Ton Sigismunds, die Lebhaftigkeit, mit der der Wort kampf schließlich geführt worden war, der brennende Blick, den André auf sie heftete, vielleicht auch der den Frauen eigene geheime Justinkt, alles warnte sie davor, daß ihr Urtheil wie eine Wahl ausfallen würde, die sie zwischen ihren beiden Berehrern traf.
,, Nun, Kleine, Du willst Dich nicht aussprechen?" sagte der Großvater. Ich habe Dich noch nie so schüchtern
Verzeihung," sagte André." Ich habe nur mit gesehen. Sprich doch." gleichen Waffen gedient! Sie und einige der Ihrigen Sie zögerte noch immer, schlug die Augen nieder und machen aus dem Sozialismus eine so winklige, niedrige sagte endlich mit Anstrengung:" Ich denke wie Herr und enge Kirche, daß man Ihnen zurufen muß: Ber - Savenay ." größert Eure Kirche. Sie ist zu eng für die Menschheit. Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als sie es Erweitert Eure Lehren, Euren Verstand und vor allem auch schon bereute, so furchtbar war ihre Wirkung auf Euer Herz. Alles dies wird niemals groß genug sein können, um die Zukunft der Welt aufzunehmen. Ich bin sicher, daß Herr Deschamps meiner Meinung sein wird."
Meiner Treu!" sagte der Alte, ich bin bei Ihrer Diskussion nicht zugegen gewesen. Aber wenn Sie unserm Freunde Sigismund gerathen haben, einen weniger trockenen, weniger blutdürftigen, weniger gelehrten und weniger
Sigismund . Er erbleichte, sein Gesicht verzerrte sich und wie von Sinnen stammelte er:
,, Dann weiß ich, was mir zu thun bleibt." Und, nach seinem Hut greifend, öffnete er die Thür und sagte erregt: ch gehe, ich gehe. Adieu, Vater Deschamps!"
Bater Deschamps versuchte ihn zurückzuhalten.
Wie kann man so empfindlich sein. Sie sind in der Diskussion einmal geschlagen worden. Ein kleiner Unfall! Sie werden ein anderes Mal Revanche nehmen."-
Aber Sigismund hörte nicht und eilte wild mit gewaltigen Schritten davon. Vater Deschamps hob die Arme empor und rief:
" Ist das ein sonderbarer Mensch! Was hat er nur? Was hat er nur?"
Was er hatte? Johanna und André mußten es ahnen, denn sie saßen stumm und beunruhigt da. Infolge einer jener plöglichen Regungen des Mitleids, die der weiblichen Senfibilität eigen sind, sagte Johanna jetzt mit voller Aufrichtigkeit:
Armer Sigismund ! Wir haben ihm Rummer bereitet." Mit einem Male wurde sie kälter gegen André wie um ihn für seinen allzu großen Triumph zu strafen. André, der anfangs seiner überströmenden Dankbarkeit nicht Worte leihen konnte, wußte jezt nicht, was er von dem plöglichen Umschlag in Johanna's Stimmung halten sollte. Seine Hoffnungen, die schon einen hohen Flug genommen hatten, fielen schwer, wie verwundete Vögel wieder zurück. Unruhig, erregt, nervös gab er Vater Deschamps ganz verkehrte Antworten und nahm dann bald Abschied, um in seine strömenden Gedanken wieder etwas Ordnung zu bringen.
Liebte Johanna ihn wirklich? Die Freude, die er in ihren Augen gelesen, das Geständniß, daß sie dachte wie er, die Eifersucht Sigismunds, das alles waren gewiß bedentungsvolle Anzeichen, fast Beweise. Aber warum dann diese plögliche Kälte? Und was wollten die räthselhaften Worte Sigismunds:" Ich weiß, was mir thun bleibt" sagen? Ach, das war nur zu leicht zu errathen!
Er besaß Rechte, die er nicht verfehlen würde, jetzt zu fordern. Johanna's Zurückhaltung war eine Mahnung an