6cn Teten. Auf wiederholte Fragen der Verteidiger und des Del-sthers Landgerichtsrats Kriener bekundet Regierungsrat Juckenacknoch, daß die Polizei regelmäßig in den Schankstätten Probenvon Schnäpsen entnehmen lasse, um festzustellen, ob etwa denatu-rierter Spiritus dazu verwendet werde. Vor der Tätigkeit des An-geklagten Scharmach habe sich nie gezeigt, daß Methylalkohol inirgendwie auffälliger Menge verwendet worden ist. Er habe bisdahin überhaupt kein Methylalkohol in trinkbarem Branntwein ge-fundcn.Es werden dann mehrere Schankwirte vernommen, die vonScharmach. Meyen und Zastrow„Sprit" bezogen und statt dessenMethylalkohol erhalten haben.Nach der Mittagspause kommt es zu einererregten Szene.Bei der Vernehmung einiger Zeugen, die über den Verkauf einerFlasche Sprit durch Scharmach Bekundungen machen, sind die Ber-leidiger Scharmachs augenblicklich nicht zur Stelle. Statt ihrerrichtet Rechtsanwalt Dr. Jaffa zugunsten Scharmachs einigeFragen an die eine Zeugin, er wird aber durch StaatsanwaltDr. Gutjahr mit der Frage unterbrochen, ob er denn legitimiertfei. für Scharmach die Verteidigung zu führen.— RechtsanwaltDr. Jafse erklärt, daß schon einmal gesagt sei, daß sich die Ver-teidiger gegenseitig vertreten, wenn der eine oder der anderevorübergehend einmal abwesend ist. Das ist doch auch selbst.verständlich.— Staatsanwalt: So selbswerftändlich ist dies dochuicht.— Rechtsanwalt Dr. Joffe: Ich meine, es wäre angebrachtergewesen, wenn solche Bemängelung gestern bei einer Bemerkungdes Justizrats Ibers eingetreten wäre.— Vors.: Das geht nunober doch zu weit. Der Gerichtshof wird sich beraten.— Rechts.anwalt Dr. Josse will noch auseinandersetzen, daß seine Aeußerungnicht auf den Vorsitzenden, sondern auf den Staatsanwalt gerichtetsein sollte— er kommt aber nicht mehr zum Wort, vielmehr ziehtsich der Gerichtshof zur Beratung zurück.— Nachdem der Gerichts-hos wieder Platz genommen, verkündet der Vorsitzende: Der Ver-teidigerRechtsanwalt Dr. Joffe wird wegen Ungebühr in eine Ordnung?-strafe von 100 M. genommen.Rechtsanwalt Dr. Joffe: Welches ist der Grund zu diesem Be-schluß?— Bors: Der Grund ist der: Sie haben sich durch Ihre.leußerung einer Ungebühr schuldig gemacht.— Dr. Joffe: Ichhabe...— Bors,(unterbrechend): Die Sache ist erledigt.Antrag, eine Pause eintreten zu lassen.Rechtsanwalt Dr. Joffe: Ich habe einen Antrag zu stellen.Ich bitte um eine Ausfertigung dieses Beschlusses. Ferner bitteich, eine Pause eintreten zu lassen, da wir uns in unserer Ver-teidigung beschränkt fühlen. Die Verteidigung ist in ihren Fragenfortwährend vom Gericht und voni Staatsanwalt bemängeltworden und nun kommt auch noch plötzlich ohne erkennbaren Grundein Ungebührstrafe. Außerdem ist mir überhaupt vor der Beschluß-fassung des Gerichts nicht das Wort erteilt worden, um michäußern zil können. Ich bitte also, eine Pause eintreten zu lassen,damit wir uns mit den anderen Verteidigern darüber beratenkönnen, ob wir gezwungen sind, die Verteidigung niederzulegen.Rechtsanwalt Dr. Puppe: Ich schließe mich diesem Antragean. Es sind hier wiederholt Fragen in bezug auf andere An-geklagte gestellt, deren Verteidiger augenblicklich nicht anwesendivaren. Ter Staatsanwalt hat auch bei mir gestern eine Fragein bezug auf meine Berechtigung zu einer Fragestellung gerichtetund ich habe sehr ruhig darauf geantwortet. Die Art und Weise,w.e hier gegen die Verteidigung vorgegangen wird, verletzt auchmich. Der Staatsanwalt seinerseits hat wiederholt direkt Fragenan die Angeklagten gerichtet, ohne daß es der Vorsitzende be-mängelt hat, obgleich diese prozessual unzulässig sind. Ich macheauch darauf aufmerksam, daß schon mitgeteilt worden ist, die An-geklagten seien damit einverstanden, daß wir für sie Fragen stellenkönnen. Die Bemerkung des Kollegen Jaffe hat sich auch gar nichtgegen den Vorsitzenden, sondern gegen den Staatsanwalt gerichtet.Ich muß ebenfalls um eine Pause bitten, damit wir uns über dieNiederlegung der Verteidigung beraten können. Ich habe außerdemfolgenden Antrag zu stellen: Der Landgerichtsrat Kriener hat vor-hin zur Auffrischung seines Gedächtnisses von einer im Saale an-wesenden Stenographin, die für ihn tätig ist, sich Mitteilungenmachen lassen. Ich halte dies für prozessual völlig unzulässig.Ich bitte, den Vorgang zu protokollieren, oder die Stenographindarüber zu vernehmen, daß sie hier nicht jedes Wort stenographiert,sondern nur bestimmte Zeugenaussagen nachschreibt.— Bars.: Ichlehne eine Pause ab.— Rechtsanwalt Dr. Puppe: Ich habe nochkeinen Beschluß des Gerichts bemerkt.— Vors.: Wollen Sie ge-fälligst warten, bis der Gerichtshof beschlossen haben wird.(Nachkurzer Besprechung mit den Beisitzern):Der Gerichtshof lehnt die Pause ab.Rechtsanwalt Dr. Puppe: Ich muß dann auch formell be-antragen, daß sämtliche Herren vom Richtertiscke so laut wiemöglich sprechen. Ich beispielsweise kann manck»� Fragen über-Haupt nicht verstehen.— Bors,(erregt und mit erhlhter Stimme);Sie wissen doch so gut wie ich, daß sich jeder hier so anstrengt,wir es ihm möglich ist. Ich bin gern bereit, so laut zu sprechen,wke ich es vermag.— Staatsanwalt Dr. Gutjahr: Die Ver-teidiger werden ihrerseits gut tun. das fortgesetzte Sprechen mitden Angeklagten zu vermeiden. Dadurch komttkt es wohl, daßmanches nicht verstanden wird.— Die Verteidiger erklären hierzu,daß sie doch genötigt seien, mit ihren Klienten zu sprechen.—Bors.: Die Sache ist erledigt.Die Rechtsanwälte Dr. Joffe und Dr. Puppe verlassen den Saal.Antrag auf Vertagung.Angkl. Meyer beantragt die Vertagung, bis ein neuer Ver-teidiger für ihn eingetreten sei. Er fühle sich in seiner Verteidi-gung durch diesen Vorgang, der ihn sehr erregt habe, beeinträchtigtund könne ohne Verteidiger der Perhandlung nicht folgen.—Vors.: Auch wir sind durch den Vorgang erregt, das ist ja natür-lich. Im übrigen haben die Rechtsanwälte die Verteidigungjormell noch gar nicht niedergelegt.Der Antrag auf Vertagung wird vom Gerichtshof abgelehnt.Fortsetzung der Beweisausnahme.Einige Zeugen, Kutscher von Kahlbaum u. a., die- den Methyl-alkohol an Scharmach abgeliefert haben, werden vernommen. Einerwill mit ihm über allerlei Fragen der Schnapsfabrikation gesprochenund ihn vor Methylalkohol gewarnt haben. Der Angeklagte Schar-Wach bestreitet dies entschieden.Auch der Bruder des Angeklagten. Franz Scharmach, Bankvor-fteher in Preustisch-Stargard, wird als Zeuge vernommen. Nachseiner Aussage war er Ende November in Berlin und hatte seinenBruder besucht. Dabei hat er in dessen Vorräten auch Methyl-ollohol wahrgenommen und seinen Bruder gefragt, wozu er diesenStoff gebrauche, und dieser habe ihm verschiedene Verwendungs-ziccckc angegeben. Auf seine Frage, ob man daraus auch Schnapsbereiten könne, habe der Binder gesagt, daß es ja azetonfreierMethylalkohol und deshalb unschädlich sei. Er habe dann vorge-schlagen, doch einmal einen Schnaps daraus zu sabrizieren. Diessei auch geschehen, man habe einen Schnaps mit etwa 40 Proz.Methylalkohol zusammengebraut und davon ein nicht unerheblichesQuantum getrunken. Es habe recht gut geschmeckt und sei auchganz gut bekommen. Am nächsten Tage sei es sehr kalt gewesen undda haben sie sich noch einmal solchen Schnaps gebraut, auch dies seiihm sehr gut bekommen.— Staatsanwalt Dr. Gutjahr: Das istdoch wohl nicht ganz nichtig, denn in einer Postkarte haben Sie anIhren Bruder geschrieben, daß Sie einen gehörigen Brummschädelaehabt haben.— Die Postkarte wird verlaien; es heißt darin:„Be-nachrichtige Dich, daß ich heute wohlbehalten nach Hause gekommenbin. Nur habe ich Dich auf dem Bahnhof vermißt. Weiß nicht, wasich dir Schlimmes getan habe, daß Tu mich so verlassen hast. Ichglaube, an allem hat der ausgewachsene, selbst fabrizierte Kornschuld, den» ich habe heute einen Brummschädel." Der Zeuge er-jllärt hierzu, daß er ja kein Gewohnheitstrinker sei. und da er hierIg Berlin verschiedene alkoholische Getränk; zu sich genommen« soset es doch ganz erklärlich, daß ihm etwas schwer im Kopfe ge-Wesen, sei. Auf den Methylalkohol sei dies nicht zurückzuführen.—Rechtsanwalt Bahn als Nebenkläger hält dem Zeugen vor, daß ihmdoch schlechte Folgen aus dem Methylgenuß erwachsen seien, daraufdeute doch der Inhalt der Karte hin.— Zeuge: Gar nicht. HabenSie in Ihrem Leben noch niemals einen Brummschädel gehabt?Regierungsrat Prof Juckenack schildert dann ausführlich seinenersten Besuch bei Scharmach, nachdem er durch seine Schnapsunter-suchungew bei Jsaac auf Scharmochs Spur geleitet worden tvar.Auch äußert er stch über den Selbstmordversuch Scharmachs. DemSachverständigen war es aufgefallen, daß Jsaac laut enner bei ihmvorgefundenen Rechnung für SOS M. Sprit von dem DrogistenScharmach bezogen hatte. Auch der billige Preis fiel ihm" auf.Infolgedessen begab er sich in Begleitung des KriminalkommissarsToussaint und eines Kriminalschutzutanns in das Scharmachs cheGeschäft. Scharmach bestritt zunächst, Methylalkohol zu befitzen, alsaber in einer Korbflasche solcher vorgefunden wurde, erklärte er, daßer von einem. Manne, der bei ihm vorgefahren sei. ein Quantumgekauft habe, wovon in der Korbflasche der Rest sei. Bei diesemMärchen von dem großen Unbekannten blieb er trotz aller Vor-Haltungen, bis in einem Keller 10. Ballons mit Methylalkohol, dieoffenbar aus einer Fabrik geliefert waren, vorgefunden wurden.Dann erst gab er zu, den Methylalkohol bezogen und als Spritersatzweiter verkauft zu haben. Prof. Juckenack ging dann wieder vor inden Laden und während er mit Komnnssar Toussaint überlegte, kamder Kriminalschutzmann hereingelaufen und brachte eine Flaschemit dem Bemerken, daß sich diese inzwischen Scharmach zureicht gemacht habe und soeben daraus trinken wollte. Die Flasche enthieltMethylalkohol mit Wasser und einer Reichelschen, Esssnz. Der Sachverständige war keinen Moment im Zweifel, daß es sich um einengeplanten Selbstmord handelte.— Rechtsanwalt Bahn: Hat dennder Angeklagte irgend eine Erklärung abgegebene, was er mit derFlasche wollte?— Dr. Juckenack: Die Sache war für mich ganzzweifellos: er wollte sich vergiften.— Justizrat Dr. Jvers: DerHerr Sachverständige war ja selbst Apotheker: kommt es denn vor.daß ein solcher„Gelegenheitskauf" gemacht wird?— Dr. Juckenack:Das halte ich für ganz ausgeschlossen.— Rechtsanwalt Bahn: DerAngeklagte soll doch angeblich so stolz auf seine„Erfindung" gewesensein; hat er von diesem Stolz etwas merken lassen?— Dr. Juckenack:Nicht im mindesten.— Angeklagter Scharmach: Ich erkläre hiernoch einmal: ich habe niemals Selbstmordgedanken gehabt und hierin der Flasche befand sich Methylalkohol im Verhältnis von% zu%. Damit kann sich kein Mensch vergiften. Aber so etwas wirdeinfach in die Welt hinausposaunt. Ich wollte Sie davon über-führen, daß Methylalkohol nicht giftig ist.— SachverständigerDr. Juckenack: Nein, Herr Scharmach, diese Absicht haben Sie nichtgehabt, denn dann hätten Sie gesagt: ich werde jetzt einmal einenSchnaps mischen und vor Ihren Augen austrinken.— Scharmach:Der Schutzmann kam mit seiner Schlauheit hinzu und nahm mirdie Flasche weg.— Dr. Juckenack: Sic müssen doch wohl zugeben,daß ich zu Ihnen gesagt habe: Lassen Sie das doch, wir wollen dieSache vernichten.— Rechtsanwalt Bahn: Wollte sich denn der An-geklagte mit dem Inhalt der Flastyp stärken?— Scharmach: Gewiß»ich habe mich ja dann mit vieo Flaschen Schultheiß gestärkt. Wennich mich hätte vergiften wollen, dann hätte ich Gifte genug zurHand gehabt.Es folgt sodann die Vernehmung des Sachverständigen ArthurWolf. Dieser ist. wie er angibt, seit 40 Jahren in der Spritfabri-kation tätig und hat mit den Stoffen, die hier in Frage stehen, vielzu tun gehabt. Er hat nie geglaubt, daß Methylalkohol giftig sei.— Staatsanwalt Dr. Gutjahr: In Nr. 1 der Zeitschrift für dieSpiritusindustrie steht aber doch ein Artikel des Dr. Förster, inwelchem schon auf die Gefährlichkeit des Methylalkohols hingewiesenwird. Ist dem Sachverständigen dies bekannt?— Sachverständiger:Diese Zeitschrift ist das spezielle Organ einer Jntevessenten�gruppe.Es ist immerhin nicht unmöglich, daß dieser Artikel ganz bestimmtenZwecken dienen und vielleicht verhindern sollte, daß ein SpiritusVerwendung finde, der nicht aus landwirtschaftlichen Brennereienstammt.Wiedererscheinen der Verteidiger.Während der Ausführungen des letzten Sachverständigen sinddi« Rechtsanwälte Dr. Werthauer, Dr. Alsberg, Dr. Joffe undDr. Puppe wieder in den Saal getreten.Borfitzender: Weitere Zeugenvernehmung ist für heute nichtzweckmäßig, ich schließe daher die heutige Verhandlung.Rechtsanwalt Dr. Joffe: Ich bitte um das Wort zu omer Er-klärung.Borsitzender: Die Verhandlung ist geschlossen! Ich habe es dochwohl deutlich genug gesagt?Rechtsanwalt Dr. Joffe: Ich bitte aber trotzdem, um daA Wortzu einer Erklärung.Borsitzender: Nein! Die Sitzung ist geschlossen�Nächste Sitzung: heute 0 Uhr.Bus der partcüDas Recht der Staatsbeamten auf eigene Uebcrzeagung.Rom, den 28. März.(Eig. Ber.) Der konservative Abgeord-nete Gallenga hat am 27. März den Unterrichtsminister überdie Haltung des Parteigenossen Colasanti befragt, der imlokalen Parteiblatt von T e r n i gegen den Krieg Stellung ge-nommen hatte. Da Colasanti als Gymnasiallehrer Staatsange-stellter ist, wollte ihm Gallenga aus feiner Kriegsfeindlichkeit einenStrick drehen. Der Unterswatsfekretär V-icini stellte sich derFrage gegenüber aber auf einen anderen Standpunkt ynd erklärte,daß Colasanti in seinem Fach tüchtig wäre und in der Schule nichtfür seine Ideen Propaganda machte. Was die Ueberzeugungen be-träfe, die er außerhalb der Schule zur Schau trüge, so würden siedie Regierung nur etwas angehen, wenn durch sie die Achtbarkeitdes Lehrers beeinträchtigt würde. Das sei bei Colasanti nicht derFall. Daher läge kein Grund vor, gegen den Gymnasiallehrer vor-zugchen. Das Ministerium sei entschlossen, fügte Vicini auf dieä ständigen Unterbrechungen der Rechten mW des Zentrums hinnzu, die volle Ueberzeugungsfreiheit der Lehrersckaft zu schützenund keinerlei Beeinträchtigung dieser Freiheit zu dulden. Den Re-aktionären klangen diese Worte sehr unsanft in den Ohren.In Preutzen-Deutfchland wäre ein solcher Lehrer und einsolcher Unterstaatssekretär unmöglich.Sozialdemokratische Wahlerfolge in Bulgarien.Als glänzenden Sieg feiert im„Peuple" Genosse Cyrill Ko-l a r o s f das Ergebnis der am 25. Februar beendeten, nach demProportionalwahlsystem vorgenommenen Gemeinde- und Pro-vinzialrats wählen: den ersten Wahlsieg nach 20 Jahrenunermüdlicher Organisations- und Erziehungsarbeit. In S Pro-vinzialräten wurden 20, in 3ö städtischen Gemeinderäten 97 Sitzeerobert. In der Hauptstadt Sofia und in mehreren anderenStädten ist unsere Fraltion stärker als jede einzelne bürgerliche.Freilich wird der Erfolg stark beeinträchtigt durch die bedauerlicheSpaltung der Partei in zwei Fraktionen: die Geeinigten oder„Weitherzigen" und die„Engherzigen". In etwa 30 Gemeinden istdurch diese Zerreißung ein Erfolg der Partei verhindert worden.Die„Geeinigten" haben in 0 Provinzialräten 11. in 15 Gemeinde-räten 46 Sitze erhalten, die„Engherzigen" in 5 Provinzialräten 9.in 20 Stadträten 51 Sitze. Die Furcht, daß das zum erstenmalangewandte Proportionalverfahren den Klassenkampf abschwächenkönne, hat sich als unbegründet erwiesen.Ueber die Spaltung sagt Äolaroff:„Man kann sagen, daß beideFraktionen mehr Energie auf ihre gegenseitige Zerreißung ver-wenden als auf die Bekämpfung der Klassengegners Die sogenanntenEngherzigen wollen nichts wissen von einer gemeinsamen Aktion,noch weniger von endgültiger Vereinigung. Und doch haben beideParteien dasselbe Programm, dieselbe Grundlage, dieselbe Art desVorgehens. Die Spaltung hemmt die Entwickelung. Noch trau-riger: sie sät Verzweiflung und Korruption unter die Arbeiter.Ohne sie hätte die Arbeiterklasse von selbst ihre Vertreter im Par-lament', Sofia, Warna u. a. hätten Sozialisten gewählt, wenn beideGruppen im Einbernehmen vorgingen.� Ein Eingreifen derInternationale im Interesse der so hoffnungsvollen unddoch in ihrer Entwickelung gehemmten bulgarischen Bewegung seidaher geboten._polizeiliches« Gerichtliches uftv.Pressesünder im Kohlenrevier.Vor der Essener Strafkammer wurde am 30. März undl. April eine Beleidigungsklage verhandelt, die der Bergwerks-direktor Bunge von Zeche Graf Schwerin bei Castrop gegen diebeiden Vorsitzenden Werner und Mantel vom Steigerverband, denRedakteur Wagner der„B e r g a r b e i t e r- Z e i t u n g", denRedakteur Schmidt vom„Bergarbeiter"(Hirsch-Dunckersche Rich-tung), den Redakteur N e u m a n n von der Essener„Ar-beiter-Zeitung" und den früheren Obersteiger Buk ange-strengt hatte.Der Anklage lag ein Artikel zugrunde, der im„Techn. Gruben-beamten", dem Organ des Steigerverbandes, erschienen war. Indiesem Aufsatz war ein Gespräch zwischen dem Direktor und demObersteiger geschildert, das von einem Rechtsanwalt in einer Ver-Handlung vor dem Amtsgericht Castrop in einer Klage des Ober-sieigers gegen die Gewerkschaft Graf Schwerin erwähnt worden war.Der Rechtsanwalt hatte damit zeigen wollen, welchen Umgangstonhöhere Beamte gegenüber ihren Untergebenen gebrauchen, währendsie gleichzeitig das Recht haben, die Angestellten mit ganz erheb-lichen Summen durch Entziehung von Prämien zu bestrafen. Denneine Kürzung der Prämie lag der Caftroper Verhandlung zugrunde.Anschließend an die Wiedergabe dieser Unterhaltung, die inschwer beleidigenden Aeutzerungen gegen den Obersteiger bestand,waren die Folgen auf die gesamten Betriebsverhältnisse geschildert,die zu einer großen Verschärfung der gesamten Gegensätze führten.Diesen Artikel batten die Mitangeklagten Redakteure über-nommen und mit Kommentaren versehen, die besagten, daß auchdie Arbeiter unter diesem Umgangstone litten. Der Direktor stellteStrafantrag. Im Februar d. I. fand vor dem Schöffengericht dieerste Verhandlung statt.— Der Obersteiger wurde freigesprochen.Werner und Mantel zu je 40 M., die übrigen Angeklagten zu je100 M. Geldstrafe verurteilt.Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung wurde am Sonn-abend und Montag verhandelt. Der Wahrheitsbeweis konnte nichtgeführt werden, da der eine Zeuge des Gespräches vor dem Schöffen-gericht sich an nichts mehr erinnern konnte. Es war ein Steiger,und die Verteidiger erklärten sein mehr als eigentümliches Be-nehmen in der Weise, daß sie meinten, er fürchte sich aus An�st voretwaigen Schädigungen, ungünstig gegen seinen früheren Direktorauszusagen. Die Wahrung berechtigter Interessen wurde nur denbeiden Vorsitzenden des Steigerverbandes zugebilligt. Da auch dasBerufungsgericht annahm, daß die Absicht der Beleidigung vor.gelegen habe, ließ es die Strafe für sie in Höhe von 40 M. bestehen.Ebenso wurde die Berufung der anderen Angeklagten verworfen.Gerichts- Zeitung»Kapitalistische Schwindeleien.Der Leipziger Prozeß gegen die Kaufleute Ulrich, Ratgeber,Lambers und Sitza, der aus Anlaß des Zusammenbruchs der Ge»werkschaft„Glückauf" seit 10 Tagen geführt wurde, ist gestern be-endet. Wir haben über die dem Prozeß zugrunde liegenden Tat-fachen bereits am 24. März berichtet.Die Ergebnisse des Prozesses sind in der Hauptsache folgende:Es ist festgestellt, daß bei der Gründung der Gewerkschaft„Glück-auf" Leipzig 125 000 M. Kapital eingezahlt war; aber das Geld istauf irgendeine Weise wieder aus der Kasse verschwunden, nachdemdie Buchungen und die Registeranmeldungen beim Gericht erfolgtwaren. Wohin das Geld gekommen ist, war nicht zu ermitteln.aber man nimmt an, daß der Einzahler, der Angeklagte Ratgeb-r. �es wieder zurückgezogen hat. Die 125 000 M. sollten demnach keineernstliche Grundlage für die Gewerkschaft sein, sondern die Ein-.�»Zahlung war nur eine Scheinoperation. Das Hausgrundstück derGewerkschaft, das die Bank nach der Pleite erwarb, ist um 75 000Mark zu hoch eingesetzt worden, um damit der Bank, die lediglicheine Fortsetzung der Gewerkschaft ist, Gewinne zuzuschanzen.Ferner sind Scheinkäufe von Aktien vorgenommen worden, um dieBeschlüsse der Generalversammlung zu„korrigieren". FalscheBuchungen sind vorgenommen worden, um einen„Reingewinn"erscheinen zu lassen zu dem Zwecke, Dividenden und Tantiemenauszuzahlen. Und endlich sind die schwindelhaften Manöver beimVerkauf der Bohranteile der„Glückauf Galizien" festgestellt worden.Das Urteil erging dahin: Der Angeklagte Ulrich wurde zu500 M. Geldstrafe, der Angeklagte Ratgeber zu 3000 M. und derAngeklagte Sitza zu 40» M. Geldstrafe verurteilt. Der AngeklagteLambers wurde freigesprochen.Eine Behörde darf ihre Pflicht nicht auf eine andere abschieben.Dieser selbstverständliche staatsrechtliche Grundsatz sollte denHütern der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung inFleisch und Blut übergegangen sein. Und doch ist demnicht so. Das Reichsgericht hat ihn am Montag wiederder Königsberger Staatsanwaltschaft und Oberzolldirektioneinpauken müssen. Schon einmal— zur Zeit des Sozialisten-gesetzes in den achtziger Jahren— mutzte das Reichsgericht Ver.waltungsbehörden und Staatsanwaltschaft über diese Grundlagejeder staatlichen Ordnung belehren. Damals handelte es sich um dieGrünauer Lassallcfeier. Eine Anzahl Genossen war nachüblichen hochnotpeinlichen Verhören und Haussuchungen desVerstoßes gegen das Sozialistengesetz angeklagt. Sie hatten ein„behördliches" Verbot nicht befolgt, alldieweil nicht die das Verbotaussprechende untergeordnete, sondern nur die höhere Verwaltungö-behörde zu solchem Verbot berechtigt gewesen sei. Da konstruiertendann die Hüter der bestehenden Ordnung ein Delegationsrecht derhöheren an die niedere Behörde: sie könne ihr Recht auf ihr unter-geordnete Organe übertragen. Das Reichsgericht zerriß dies zumEinfangen schuldloser Genossen in die Schlingen des Sozialisten-gesetzes gesponnene Netz und erklärte: es widerspricht dem Grund-sah jeder geordneten Gesellschaft, daß eine Behörde die Erfüllungihrer Pflicht der ihr nachgeordneten überträgt.Zur Wiederholung dieses Grundgesetzes war das Reichsgerichtam Montag auf einem unpolitischen Gebiet gezwungen.Russische Gänse trotz der Bichsperre eingeführt zu haben, warder Gutsbesitzersfrau Olga Maidenbaum zur Last gelegt worden.Das Landgericht Memel hatte sie am 31. August v. I. freigesprochen.Gegen dies Urteil hatten die Staatsanwaltschaft und die Oberzoll-direktion in Königsberg Revision eingelegt. Am 18. Oktober 1910war durch ein Extrablatt eine Verfügung des LandrateS bekannt-gegeben, daß wegen Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche imMemeler Bezirk Gänse aus Rußland auf dem Landwege nicht ein-geführt werden dürfen'. Trotzdem hatte die Angeklagte etwa1000 Gänse über die Grenze gebracht. Sie konnte nicht bestrastwerden, weil nicht der Landrat, sondern allein der Regieruug?«Präsident solche Verfügung erlassen durfte und der RegierungS-Präsident nicht in der Lage ist, seine Verfügungen durch eine unter-geordnete Behörde ausführen zu lassen. Das Reichsgericht ver-warf deshalb die Revision als unbegründet und legte gleichzeitig zurKlarstellung, daß es sich um eine durchaus hinfällige Anklage ge-handelt habe, der preußischen Staatskasse die Verpflichtung auf.der M. die ihr erwachsenen notwendigen Auslagen zu ersetzen.Cingegangene Druchrdmften.„Der Kampf". Sozialdemokratische Monatsschrift(Wien). 5. Jabr-gang. Heft 7. Aus dem Inhalt beben wir bcrvor: Otto Bauer: Be-qcnbcne Hvjtnungeii.— Edmund Burian(Brünn): Tschechische Literaturüber Sozialismus und Separatismus.— Friedrich Adler: Fünfzehn Jabreallgemeines Wahlrecht i» Wien und Niederösterreich.— Ernst Lenz: Kommunale Arbeilslosensürsorge.— Adelheid Popp: Frau und Gemeinde.—S Topalovits: Die Agrarfrage in Bosnien und der Herzegowina.—Wilhelm Hausenstein: Tendenz.